Münster Händel „Ariodante“ barockes Video-Theater musikalisch erstklassig. Premiere 28. März 2015 besuchte zweite Aufführung 2. April 2015
Foto: Oliver Berg
Zerstört und nach dem Krieg sorgfältig wiederaufgebaut sind in Münster einige Bauwerke des Barockbaumeisters Johann Conrad Schlaun zu bewundern, neben dem Fürstbischöflichen Schloß – heute Universität – vor allem nah beieinander gelegen das Lotharinger Kloster, der Erbdrostenhof und die Clemenskirche. Von beiden letzteren wurden auch die Innenräume großartig restauriert.
Dies gilt als Begründung, im Abstand von einigen Jahren immer wieder „Tage der Barockmusik“ stattfinden zu lasssen. Als Höhepunkt der diesjährigen Veranstaltungsreihe wurde im Theater aufgeführt das „dramma per musica“ „Ariodante“ von Georg Friedrich Händel auf ein Libretto von Antonio Salvi mit dem ursprünglichen Titel „Ginevra Prinzessin von Schottland“ Das wiederum fußt auf einer Teilhandlung des Rolandlieds (Orlando furioso) von Ariosto. Die erfolgreiche Uraufführung fand 1735 im Covent Garden Theater in London statt.
Die Intrigengeschichte ist nicht ganz so kompliziert wie sonst schon ´mal bei Barockopern. Mit Einverständnis des königlichen Vaters soll Tochter Ginevra ihren geliebten Ariodante heiraten, der damit auch Nachfolger des Königs wird, das happy end scheint schon zu Beginn perfekt! Aber der machthungrige Bösewicht Polinesso will die Hochzeit verhindern, um selbst als Ginevras Mann König zu werden. So überredet er die ihn liebende Dalinda, als Ginevra verkleidet ihn nachts ins Zimmer zu lassen. Das kriegt Ariodante mit, ist verzweifelt und will sterben, wozu es natürlich nicht kommt. Die Unschuld der angeblich untreuen Ginevra wird durch Gottesgericht im Zweikampf bewiesen – „Lohengrin“ läßt grüssen! So kommt die Wahrheit auch dank Ariodantes Bruder Lurcanio ans Licht, der böse Polinesso stirbt im Duell und es gibt endgültig ein happy end, „lieto fine“ im italienischen Opern-Jargon, jetzt zusätzlich für Dalinda und Lurcanio.
Diese Handlung und natürlich Händels Musik dazu auch einem unvorbereiteten Theaterbesucher schmackhaft zu machen, war erklärtermassen ein Ziel der Inszenierung von Kobie van Rensburg. Dies erreichte er vor allem durch Video-Projektionen. So wurden bereits zur Ouvertüre die beteiligten Personen und ihre Beziehungen zueinander eingeblendet, auch ein Bild Händels .Das eigentlich nur aus vier verschiebbaren Wänden zuzüglich weniger passender Gegenstände bestehende Bühnenbild (unter Mitarbeit von Kerstin Bayer) diente für die Projektion der Texte, die so direkt über den handelnden Personen und nicht als Übertitel zu lesen waren. Volkstümlich sollte die Übersetzung auch hier durch eingestreute Kraftausdrücke werden, etwa „Schnauze!“ statt „Schweig!“ Daß besonders gegen Ende des ersten Aktes (ballo) auf und projeziert über der Bühne getanzt wurde, war sehr passend, hatte Händel doch für die Uraufführung Tänzer engagiert – hier Tomasz Zwozniak als choreographischer Mitarbeiter. Daß das Publikum mit der Erklärung „Barock’n roll“ zum Mitklatschen aufgefordert wurde, war vielleicht etwas zu viel des Guten. Passend zum Wetter in Münster und Schottland spielten Regenschirme eine grosse Rolle, zum endgültigen „lieto fine““ leuchteten sie aufgehängt unter dem Bühnenhimmel ähnlich der Lampendecke im Theater. Um die Umgebung der bei Händel häufig allein auf der Bühne agierenden Personen etwas lebendiger zu gestalten, traten Tänzer auf als Polinessos Leibgarde oder Höflinge des Königs alle wie auch die Hauptpersonen farbig kostümiert im Stil der Zeit Händels. (Dorothee Schumacher und Lutz Kemper), nur Bösewicht Polinesso zeigte sich ganz in schwarz einschliesslich einer solchen Augenklappe.
Besonders vom zweiten Aufzug an schaffte die Regie erfolgreich den Spagat, einmal von den schwierigen und brillanten Gesangsleistungen der Solisten nicht durch übertriebene Aktionen abzulenken, andererseits die Rittergeschichte für heutige Zuschauer abwechslungsreich zu erzählen, auch für solche, die Händels lange Da-Capo-Arien sonst eher ungeduldig werden lassen. Bei „Ariodante“ werden letztere ergänzt durch kürzere „Ariosi“ und auch Duette..
Musikalisch hatte die Aufführung ganz hohes Niveau. Lisa Wedekind in der Titelpartie sang ihre Arie zu Ende des ersten Aufzugs sich im Rhythmus der Musik bewegend in derartig rasantem Tempo, daß wohl die Zuhörer ausser Atem gerieten, aber nicht sie!. Ganz anrührend und verhalten klang ihr ausdrucksstarker Mezzo in der berühmtesten Arie der Oper „Scherza infida“ wo sie überzeugt von der Untreue Ginevras sterben und ihr dann als rächender Geist erscheinen will – ihr galt als bisheriger Höhepunkt grosser verdienter Zwischenapplaus vor der Pause! Gegenteilige Stimmbeherrschung zeigte sie dann wieder in perlenden Koloraturen ihres „Doppo notte“ – der Arie „Andante“ für Ariodante – , in der sie nach albtraumhafter Nacht das erreichte Glück besingt.
Foto: Oliver Berg
Neben treffsicheren, glänzenden Koloraturen fand auch ganz innige und sogar verzweifelte Töne Henrike Jacob als Prinzessin Ginevra, letzteres besonders in der todessehnsüchtigen Arie „Il mio crudel martoro“, in der der Tod als getanzte Erscheinung sie begleitete (Entrée de Mori bei Händel) Stilsicher sang Countertenor Nicholas Tamagna den Polinesso, treffsicher bis in tiefe Lagen und textverständlich klangen seine Koloraturen, dabei spielte er überzeugend den ruhmsüchtigen Bösewicht. Eva Bauchmüller als Dalinda mit glänzenden Koloraturen und Youn-Seong Shim als Lucarnio mit lyrischem höhensicheren Tenor beeindruckten und erfreuten das Ohr, besonders in ihrem Schlußduett. Von Lukas Schmid als König hätte man sich vielleicht etwas würdigeren und gewichtigeren königlichen Baß gewünscht.
Das alles konnte nur so gelingen, weil das Orchester unter GMD Fabrizio Ventura – passend ohne Taktstock leitend – mit kräftigen Akzenten, rhytmisch exakt und melodisch ausdrucksvoll schon von der Ouvertüre an die abwechslungsreiche Tonsprache Händels erleben liess. Alle Soli wurden erstklassig gespielt, Violine, Cello, die beiden Traversflöten, die Hörner, – zum Schluß vom ersten Rang her – die Oboe und besonders das Fagott zur Begleitung von „Scherza infida“ Zeitlich am meisten gefordert besonders zur Begleitung der Rezitative war die Continuo-Gruppe mit Elda Laro am Cembalo und Orgel, wobei einmal GMD Ventura an der Orgel aushelfen mußte.
Wenn letzterer anscheinend mit gezogener Pistole hinunter zu seinem Platz im Orchestergraben und nach der Oper auf die Bühne gezwungen wurde, konnte das nur darin einen Sinn haben, daß man ihn als GMD in Münster festhalten will.
Das Publikum im gut verkauften Haus, lauschte gespannt und ganz still den Arien mit häufigem Zwischenapplaus und zeigte zum Schluß seine Begeisterung durch Beifall und Bravos für Sänger und Orchester, auch stehend. Die Aufführung hatte eben auch Skeptikern gezeigt, daß Händels Opern abwechslungsreiches und spannendes Musik-Theater sein können.
Sigi Brockmann 3. April 2015