WIEN / Volksoper / Wiener Staatsballlett:
GISELLE ROUGE von Boris Eifman
Premiere: 12. April 2015
Olga Esina, Kirill Kourlaev. Foto: Wiener Staatsballett/ Barbara Palffy
Handlungsballette wie dieses entstehen heute nur noch selten. Was heißt heute? Choreograph Boris Eifman hat seine „Giselle Rouge“ schon 1997 in St. Petersburg herausgebracht. Einerseits als Huldigung an die große russische Tänzerin Olga Spessiwzewa, indem ihr tragisches Schicksal punktuell nacherzählt wird, andererseits auch durchaus ein Stück russischer Geschichte, verbrämt mit einem der großen Werk des „klassischen“ Balletts: Adams „Giselle“.
Das Ganze ergibt einen gewissermaßen „bunten“, viele Effekte ausreizenden Abend, der nun in Wien für das Staatsballett in der Volksoper herauskam, wo Eifman ja schon mit einem ähnlichen Projekt, der „Anna Karenina“, großen Erfolg hatte. Mit Sicherheit: Auch diese, wenn auch furchtbar traurige Geschichte, wird dem Publikum gefallen.
Das Geschehen beginnt im Zarenreich, liefert seinen ersten dramatischen Höhepunkt mit der russischen Revolution, führt die zentrale Künstlerin (hier nur „Ballerina“ genannt) dann in das Paris der zwanziger Jahre, bietet – in faszinierender „Verformung“ – ein Stück echte „Giselle“-Aufführung und begleitet die Heldin schließlich bis ins Irrenhaus.
Reales und Irreales mischen sich, Ausstatter Wiacheslav Okunev beschwört ebenso (zwar nur angedeutet, aber deutlich und wirksam genug) den Glanz der Petersburger Oper wie jenen eines Pariser Nachtklubs, zaubert eine altmodische „Giselle“-Dekoration auf die Bühne und spart weder an den schwarzen Ledermonturen für das russische Militärs noch an Zwangsjacke und jenen zerschlissenen Gewändern, die am Ende gleichzeitig mit dem Ende einer klassischen „Giselle“-Welt auch den Untergang der „Ballerina“ kundtun.
Diese „Giselle Rouge“, die Eifman zwar in Wien nicht selbst einstudierte, aber, wie das Programmheft sagt, für diese Aufführung noch schärfer und für die Tänzer schwieriger gemacht hat, ist hier ein Esina / Kourlaev / Peci / Lazik-Abend (es gibt auch alternierend noch eine komplette zweite Besetzung). Hier können sie ihre Stärken ausspielen, wobei Olga Esina von Anfang an auf Tragödie gestimmt ist, die sie bis ans Ende führt. Man kann es eine Charakterrolle nennen, so stark ist der Entwicklungsbogen – erst die Ballerina, die von ihrem Lehrer zu Höchstleistungen hochgepeitscht wird, dann die Frau, die dem brutalen Zugriff eines Revolutionärs erliegt, zur „roten“ Giselle wird und sich von dem neuen System instrumentalisieren lässt. Als sie es dennoch nicht aushält, kommt sie quasi als Flüchtling nach Paris, wo sie sich in ihren dortigen Partner verliebt, der leider schwul ist, und schließlich bei einer „Giselle“-Aufführung vollends in den Wahnsinn schlittert (so wie es bei dem Vorbild, Olga Spessiwzewa, der Fall gewesen sein soll, die sich mit der Rolle identifizierte, bis sie selbst zu einem unirdischen Wesen wurde…). Dass das für Olga Esina eine Herausforderung ist, die über die Schönheit der Bewegung hinausgeht, versteht sich: Gewiß, sie darf auch brillant sein, aber hier schlägt sie vor allem die Töne der großen Tragödin an, mit Gesichtsausdruck, Körpersprache, einer nach und nach „verendenden“ Pose.
Es ist bemerkenswert, wie Eifman in diesem Werk die Sprache der Klassik, wie sie aus „Giselle“ kommt, bedient, aber auf sogar brutalen Ausdruckstanz umschaltet, sobald es die Sache will: Wenn Kirill Kourlaev im langen schwarzen Ledermantel erscheint, kann er alle Dämonie, die er als Erscheinung mitbringt, in geradezu ungeheure Energie und Bühnenpräsenz umsetzen. Bedauernswert, dass die Figur im Verlauf der Handlung dann nahezu verloren geht.
Mit eindeutigem Hüftschwung ist Roman Lazik der homoerotisch (an Jacopo Tissi) interessierte Star, der allerdings dann, in der fiktiven, zerberstenden „Giselle“-Aufführung (dafür sorgen die Töne von Alfred Schnittke) einen wahrlich klassischen Prinzen abgibt.
Die zweite große Charakterrolle des Abends bleibt dann Eno Peci als der große Ballett-Lehrer, zu dem die Ballerina immer wieder zurückkehrt und der von den Revolutionären durchaus auch einmal gefoltert wird… aber doch so, dass es dem Zuschauer nicht wirklich weh tut. Peci ist ein Charaktertänzer par excellence, er hält auch im Widerstreit mit Kourlaev stand.
Eifman lässt seine „rote“ Giselle nicht zu Adolphe Adams Klängen unglücklich werden (die kommen erst ganz am Schluß), er benützt die russischen Komponisten Tschaikowsky und Schnittke, im ersten Teil sogar ausschließlich, im zweiten kommen noch Bizet, Pop-Musik der Roaring Twenties und, wie gesagt, Adam hinzu. Andreas Schüller dirigierte, das Publikum bekam auch viel Dramatisches zu hören, von dem bilderbuchartig Dramatischem, das es sah, ganz zu schweigen.
Dass hier – in großer Geste und als effektvoller Bilderbogen – ein Frauenschicksal nacherzählt wird wie in „Anna Karenina“, dass es darüber hinaus noch eine wahre Geschichte ist, das macht die rote „Giselle“ zu ganz großem Star-Ballett-Theater, das das Wiener Ensemble glücklicherweise auch besetzen kann.
Starker Applaus.
Renate Wagner