Wiener Staatsoper: 16.4. 2014„ELEKTRA“ – ein neues Stück!
Norbert Ernst, Wolfgang Bankl. Foto: Wiener Staatsoper/Pöhn
Peter Schneider hatte sich, nach dem Abgang von Welser-Möst und dem Engagement von Mikko Franck für die Premiere und 4 Folgevorstellungen (mehr ließ dessen Terminkalender nicht zu) bereit erklärt, diese letzte Aufführung der Serie – anschließend an seine österlichen „Parsifäle“ (die dann leider seiner Grippe zum Opfer fielen) – probenlos zu übernehmen. (Er war gerade rechtzeitig wieder genesen.) Die in Wien ansässige Linda Watson reagierte auf den vormittägigen Hilferuf von Direktor Meyer, nachdem, wie er uns vor Beginn mitteilte, Nina Stemme sich mit „Bassstimme“ am Telefon gemeldet hatte, dass sie heute keine Elektra singen könne, mit einer spontanen Zusage, obwohl sie selber die letzten Tage das Bett gehütet hatte. (Vielleicht klang ihre Stimme deshalb so ausgeruht?) Es gab zwischen dem Dirigenten und der Titelheldin des Abends nicht einmal eine Mini-Probe und für Elektra lediglich eine szenische Einweisung in eine Produktion, von der sie nie zuvor etwas gesehen hatte. Man staune über das Resultat.
Peter Schneider lässt das einschneidend in den Raum gesetzte „Agamemnon“-Motiv des vollen Orchesters spannungsgeladen im Raum stehen. Der ganze Wahn, der nun abgehandelt wird, hat einen Titel erhalten. Die einzelnen Instrumente, die dann die Konversation der Mägde illustrieren, scheinen zugleich deren despektierliche Aussagen zu hinterfragen. Nur wenn Ildiko Raimondi sich mit ungemein berührender Intensität mit hellem, leuchtendem Sopran als 5. Magd für das „Königskind“ einsetzt, ist vom sie unterstützenden Orchester Wahrheit angesagt. Bereits in der großen Soloszene der Elektra lässt Linda Watson keine Zweifel an ihrer Position. Das in Elektras Monolog vielfach eingesetzte Agamemnon-Thema mit den geradezu mystisch tönenden Posaunen hat jetzt Würde und Größe. Genau wie die Protagonistin. Linda Watson mit ihrem schönen, markanten Gesicht sieht in dunkler Hose und locker darüber getragener dunkler Jacke figürlich besser aus als Nina Stemme in ihrem unvorteilhaften Hosenanzug. Die blonde Haarpracht bildet einen effektvollen Kontrast zur dunklen Kleidung und Musik. So schaut eine echte Heroine aus. Und so singt und spielt Frau Watson auch die Atridentochter. Der über Jahrzehnte Wagner- und Strauss-geschulte hochdramatische Sopran samt Mezzo-Vergangenheit wird mit einer Souveränität eingesetzt, die nicht einmal daran denken lässt, dass diese Strauss-Partie schwer zu singen sein könnte. Zur puren Höhenstrahlkraft, die immer inhaltsbezogen ist, kommt eine fabelhafte Diktion, dank der wirklich jedes Wort über die Rampe kommt, dazu eine vokal unglaublich differenzierte Rollengestaltung und weit mehr Spieleinsatz als die Premierensängerin es sich erlaubte. Alles kommt mit einer Prägnanz, als wäre wochenlang geprobt worden. Natürlich gibt es auch keine Durchhalteprobleme und die Kommunikation mit den Kollegen auf der Bühne und mit Dirigent und Orchester ist nicht nur absolut perfekt, sondern stets für Augenblicksgegebenheiten offen. Das erzeugt permanente Spannung.
Um es vorweg zu formulieren: Peter Schneider „macht auf“ und die Sänger steigen ein. Die eigentlich unmögliche Story von der Rache-besessenen Tochter eines keineswegs Glorifizierungs-würdigen Vaters, den sie zu ihrem Heros gemacht hat, wird einzig durch die Strauss-Musik gerechtfertigt (wie ja auch die Salome-Geschichte) und bedarf dazu einer Wiedergabe, die aus der unmenschlichen Geschichte eine menschliche werden lässt. Dafür ist Peter Schneider der ideale Dirigent. Für ihn gibt es kein ff, weil es dasteht, sondern nur, wo die lautstarken Passagen Besessenheit, hoffnungslose Verwirrtheit, Ausweglosigkeit („Es ist nicht wahr!“) oder höllischen Triumph zum Ausdruck bringen, was ja zumeist während diverser Zwischen- Vor- und Nachspiele Höhepunkte schafft. Da bezwingt dann auch die Brillanz, mit der die Wiener Philharmoniker es tun. Aber sie ist nicht Selbstzweck.
Gruselig tönt es bei „Wie ein Schatten dort im Mauerwinkel“ gleichsam aus dem Untergrund, und das folgende, ganz zurückgenommene „Zeig dich deinem Kind!“ kann inniger und damit berührender kaum gesungen und begleitet werden. Der den Monolog krönende, Elektras ganze Besessenheit illustrierende Tanzrhythmus mit seinem irren Crescendo auf das wiederholte „Agamemnon!“ hin ist heller Wahnsinn – so komponiert und wiedergegeben. Wie Peter Schneider in dieser Szene die Hörner, Trompeten und Pauken aus den tutti-Passagen herausdirigiert, als wollten sie einander übertrumpfen in dem von Elektra imaginierten „Prunkfest“ – Irrsinn pur. Das alles hat aber zugleich etwas von jener antiken Größe, die in Kunstwerken Jahrhunderte, ja Jahrtausende überdauert hat und daher – auch eine visuelle Versetzung ins 21. Jh. rechtfertigt.
Doch nicht nur die Interpretin der Elektra hatte es gut unter solcher musikalischen Obhut. Die schon in den vorhergehenden Reprisen wunderbare Gun-Brit Barkmin durfte sich als Chrysothemis, der Strauss ja mehr laute Musik beschert hat als der Titelheldin, vokal und ausdrucksmäßig noch mehr entfalten. Die Qualität eines Operndirigenten zeigt sich ja nicht nur darin, dass er den Singstimmen zuliebe des öfteren das Orchester zurücknimmt, sondern auch darin, wie er ihre verbalen und musikalischen Aussagen vorbereitet. „Ich will heraus!“ – Schneider serviert der Sängerin die orchestrale Basis und sie setzt sich gleichsam drauf. Die emotionale Steigerung bis hin zum erwünschten „Weiberschicksal“ der Chrysothemis wurde mit allem Höhenjubel so zum gemeinsamen Ausdruck einer Lebens-Euphorie, deren Intensität mit jener von Elektras wahnwitzigen und hier dennoch menschlich verständlichen Träumen durchaus mithalten konnte.
Die Wortdeutlichkeit, durch die sich die beiden Schwestern auszeichneten, wurde von deren Mutter nicht erreicht. In der Szene Klytämnestra-Elektra musste ich erstmals die Textanlage einschalten, um keines Details der Aufführung verlustig zu gehen. Anna Larsson hat ihre eher verinnerlichte Gestaltung der Rolle seit der Premiere nicht verändert. Ihr nobel strömender Alt, für die in sich ruhende Erda wie geschaffen, gibt nicht alle für die schuldbelastete, erlösungsbedürftige Gattenmörderin nötigen Farben her und weist auch rein kraftmäßig Defizite auf. Um gleich bei den Damen zu bleiben: für die Aufseherin (Donna Ellen), die Mägde (Monika Bohinec, Ilseyar Khayrullova, Ulrike Helzel, Caroline Wenborne und die schon erwähnte Ildiko Raimondi), sowie die Vertraute (Simina Ivan) und die Schleppträgerin (Aura Twarowska) wurden für diese Neuproduktion stimm- und persönlichkeitsstarke Interpretinnen aufgeboten, die sich von so manchen mittelmäßigen Hausbesetzungen der Vergangenheit erfreulich positiv abhoben. Auch den Chorsolistinnen als Dienerinnen (Jung Won Han, Secil Ilker, Cornelia Sonnleithner, Jozefina Monarcha, Karen Schubert und Zsusanna Szabó) sei ein Pauschallob ausgesprochen.
Im Dialog zwischen Elektra und Orest trat nicht nur unter Führung der Posaunen (des Jüngsten Gerichts?) die bis dahin vom Zuhörer lang vermisste Ruhe in das Beziehungsgeflecht zweier vom Atridenschicksal belasteter Personen ein, sondern da spielte im Orchester das Mysterium mit, das im Hintergrund lauert und es einem kalt über den Rücken laufen lässt…Das heißt, die Spannung bleibt erhalten. Mit gewaltigem Heldenbariton macht Falk Struckmann sich als der Heldenbruder, den seine Schwester herbeigeträumt hat, stark. Ob der nun ein bisschen gröber oder feiner klingt, tut nichts zur Sache. Struckmann ist der ganze Mann, der die ihm auferlegte Tat mit Skrupeln, aber dann wilder Entschlossenheit durchführt. Von dieser Kraft bringt auch Norbert Ernst als Aegisth, der in der Vergangenheit eine solche Tat begangen hat, die er sich wohl selbst aus Geltungsbedürfnis auferlegt hatte. mit stählernen und denoch verführerischen Tenortönen etwas mit. Wolfgang Bankl assistiert bei der jüngsten „Tat“ kompetent als Pfleger des Orest. Den jungen und den alten Diener verkörpern Thomas Ebenstein und Marcus Pelz mit gleicher Zuverlässigkeit.
Zur Neuinszenierung von Uwe Eric Laufenberg, zu der meine Merker-Kollegen bereits in unterschiedlichster Weise Stellung genommen haben, möchte ich hier nur festhalten, dass sie an diesem Abend geschlossener und folglich spannender wirkte und selbst der schwer zu goutierende finale Abgang Elektras Sinn machte, weil Peter Schneider – anders als Mikko Franck, der den Schluss musikalisch zu sehr zelebrierte – dieses Ende der Oper vom Orchester so kompakt und entschieden hinknallen und damit quasi in der Luft hängen ließ, dass jeder Opernbesucher kapierte: Der Albtraum ist ausgeträumt. Die Zukunft der Überlebenden bleibt offen…
Ovationen für den Dirigenten, für Linda Watson und Gun-Brit Barkmin, berechtige Bravi für alle anderen, Beifall auch vom Maestro für die Sänger und Musiker – und umgekehrt. Ein euphorisches Stammpublikum wusste einen großen Strauss-Abend zu schätzen!
PS. Der Gerechtigkeit halber muss ich anmerken, dass der finnische Senkrechtstarker Mikko Franck mit seinen 36 Jahren bereits Enormes geleistet hat. Er hat ein beachtliches Repertoire vorzuweisen, diverse Einspring-Abenteuer erfolgreich bestanden und verblüfft durch seine erstaunlich ruhige und sichere Art, sich dem Orchester mitzuteilen. Man kann ihm nur wünschen, dass er sich in den 40 Jahren, die Peter Schneider ihm an Kapellmeister-Erfahrung voraus hat, ebenso kontinuierlich vervollkommnen kann.
Sieglinde Pfabigan