DANCE I: Festivalstart
München im Kulturrausch. Dicht an dicht reihen sich in der bayerischen Landeshauptstadt Fest(ival)aktionen von Musik, Bildender Kunst, Film und Tanz. Beachtlich im Rummel der aktuellen Mai-Events: der Ansturm auf das Opening der Dance-Biennale. Als erster Gast ging die zierliche, mega-bühnenpräsente Japanerin Kaori Ito an den Start. Sie bescherte dem Publikum zur Eröffnung in der Muffathalle gleich eine Finissage. Und legte schon in ihrer solistischen Anfangs-Tanzrunde einen perfekt körperkontrollierten, exaltiert-introvertierten Halbseiten-Striptease hin. Wer Plätze ergattert hatte, bekam die letzte Performance ihrer 2013 in Gent uraufgeführten Produktion „Asobi“ zu sehen, die ihren narzisstisch-erotisch aufgeladenen Elan aus Musik der französischen Komponisten Guillaume Perret und Marybel Dessanges zog: angenehm aufdringlich, niemals harmlos, stets intensiv, mit einer Fülle sich bis zur Aggression ungezügelter Lustspiele und totaler Nackheit steigernder Bewegungsmuster.
Ein Streicherhauchen setzt ein. Später gibt es eine laute Passage, die in einem Kurzschlusssound gipfelt. Schaut mich an, scheint Ito mit jeder Faser ihres Körpers zu schreien. Neben ihr fädeln sich eine weitere Frau und zwei Männern in Reih und Glied. Ein ungleiches Quartett mit eindeutigen Begierden, das – mal egotrippmäßig, mal gruppeneuphorisch – zunehmend freizügiger agiert. Die Zuschauer vor und eine Spiegelwand hinter sich, die die Bühne während des gesamten Stücks auch durch veränderbare Tiefe dominiert. Blind, wer da nicht zum Voyeur wird. Oder selbstkritisch alias verliebt den eigenen Körper (wie die vier Interpreten) immer wieder im uneben-fleckigen Spiegelbild betrachtet. Schön dabei: die selbstverständliche Anmut, vorgeschützte Schüchternheit oder maskuline Energie (z.B. beim Ausrasten ins Balletthafte). Der Blick bleibt haften. So behutsam-dekadent und energiegeladenen wurde Japans vor allem untern Männern beliebtes Erwachsenenvergnügen von Ito in den Geschlechtermix übertragen.
Den Startschuss am 7. Mai hatte Festivalleiterin Nina Hümpel allerdings schon am Nachmittag gegeben. Da setzten sich Stefan Drehers Marathon-Tänzer auf der Freifläche vor dem Gasteig in Bewegung – akustisch begleitet von einem metronomartigen Wummern und einer die Sekunden hochzählenden Zeitanzeige. Das Perpetuum ihrer Schritte, Kniebeugen, abgestimmten Moves und Atmer blieb bis zum späten Abend (Foto)Motiv, aber auch Mitmachanimation für Passanten. Im Carl-Orff-Saal spaltete währenddessen die deutsche Erstaufführung von Saburo Teshigawaras neuester Produktion „Landscape“ die Erwartungen, bevor die Nachtschwärmer noch zur Eröffnungsparty ins Muffatwerk eilten.
Im Zentrum: Klavierstar Francesco Tristano. Ihm gelingt die Verfremdung des Klangs weg vom Konzert hin zu einem sphärischen Eindruck. Abwechselnd mit Bachs „Französischer Suite“ bzw. „Goldberg-Variationen“, drei eigenen Kompositionen und „In a Landscape“ von John Cage hält er eine Stunde lang musikalisch die Spannung. Sein Flügel klingt (leider elektroakustisch nicht optimal ausgesteuert) soft und leicht schrill zugleich. Um ihn herum variiert ein (sich wiederholendes) Lichtschema aus Rechtecken oder Kreisen. Stück für Stück lösen sich so gesteuert (und damit absehbar) mit wieselflink jazzender Beinarbeit und momentweise wie verzerrt aus der Achse driftender Figur der Choreograf und wundervoll energetisch weich in ihren Gesamtbewegungen Rihoko Sato beim Tanzen ab. Im vornehmlich schwarzen Raum hinterlässt der zumeist weite Schwung ihrer Hände fast kalligrafische Formen. Ein erstaunlich emotionsfreies Abbild der Tonfolgen, die lebhaft oder verträumt durch die Luft schallen.
DANCE II
Wiederholung hat Schlagkraft. Unter Beweis stellten das, nicht nur am ersten Dance-Wochenende, gänzlich verschiedene Stücke. Dabei bot nach dem absurd-abgründigen Schauerstück gewaltiger Bilder „The Land“ – einer Kooperation voll großer und kleiner Ver(r)ücktheiten der Belgier Peeping Tom mit dem Residenztheater – die klare, in übersichtliche Struktur verpackte Aussage des israelischen Künstlerpaars Niv Sheinfeld und Oren Laor wohltuend monofokussierte Erholung: Liebe kann ohne Konflikte nicht funktionieren – das Verschmelzen zweier (gleichgeschlechtlicher) Partner zu einem vertrauensvollen Gefüge nach Phasen der Auseinandersetzung dafür umso intensiver, ja befreiender sein. Enthemmtes Glück oder explodierendes Selbstwertgefühl, das Laor in einem körperbetonten Abschreiten der Bühnenfläche mit einem Touch Augenzwinkern und Blicken, die beim rund herum platzierten Publikum um Anerkennung buhlen, demonstriert.
„Two Room Apartement“, 2012 in Tel Aviv uraufgeführt, beginnt mit dem Abkleben zweier Quadrate. Kaum haben die beiden Männer das Spielfeld ihrer Partnerschaft abmarkiert, legen sie Trainingsjacken an und mit einem Bewegungsritus los, der an morgendliches Fitmachen erinnert: immer gleiche Schritte und Gesten, die mit der Zeit raumgreifender werden und sich zu Ori Vidislavskis marschartiger Originalmusik des gleichnamigen Vorlagenstücks von Nir Ben Gal und Liat Dror (1987) im synchronen Nebenher der Performer noch steigern. Einen Seitentausch, viele Quadratumrundungen und einige Führungswechsel später rückt und springt man aneinander. Was schließlich dazu führt, dass der Größere seinen Partner splitternackt mit Armen und Beinen umklammert. Immer wieder. Intimität, die dem Betrachter gnadenlos zu Füßen gelegt wird, so ungeschliffen schleudern Laor und Sheinfeld (zuständig für einen häuslichen Wasch- und Putz-Rausch) ihr dem Alltag entlehntes Körpervokabular in den Raum. Als Stimme aus dem Off ist da Musik von Elton John der passende Emotionsträger.
Markanter heimischer Songeinspielungen und abrupter Direktheit bediente sich auch Choreografie-Youngster Yang Zhen in seinem 40-Minüter „Just Go Forward“. Mit seiner Gruppe von Studenten der Minzu University of China legte er ein von radikaler Energie, symbolvoll-politkritischer Power und der inneren Ruhe einer älteren Respektsperson getragenes Stück in schwarz (Stiefel, Mäntel) und rot (Unterkleidung, Bänke, kreisförmige Bodenmarkierung) vor. Obwohl weder die zugrunde gelegten Verszeilen von Ye Ting („Die Gefangenen“, 1942) irgendwo nachzulesen, noch die lautstark auf Chinesisch gebrüllten Wortwechsel zu verstehen waren, hinterließen das heftige, kollektive Aufstampfen und wie mit maschineller Präzision abgefeuerte Tanzsequenzen der vier Jungs und einer Frau, die sich im aggressiven Gezerre zu behaupten sucht, Eindruck.
Für gleich zweimal denselben choreografischen Ablauf verpflichtete Helena Waldmann drei Tänzer und neun Tänzerinnen aus Dhaka. Ihr Bühneneinmarsch bildet das Ende einer langen Schlange von Näherinnen, die – im projizierten Film – ihre Arbeit antreten. Kurz darauf sirren eine, zwei, drei, dann viele Nadeln (Video) in der Vertikale auf und ab. Nicht das Individuum, nur Leistung – Stich für Stich – zählt. Eine drastische Eröffnung, zu der die an der Rampe aufgereihten Performer ihre Knie vibrieren und die bloßen Füße zu synkopierten Rhythmen des Kathak auf den Boden knallen lassen. Später rotieren sie, in Reihen aufgefädelt, wie nach Farben sortierte Nähmaschinenspulen. Effizienz und Optimierung bei ausbeuterischen Mindestlöhnen ist in „Made in Bangladesch“ das Thema. Waldmann spult es fast dokumentarisch vor unseren Augen ab und hinterlegt scharf diagonal die Luft zerschneidende Armbewegungen mit Fotos eines Fabrikeinsturzes (Rana Plaza, 2013) und unerträglichem Verkehrslärm, immer schnelleres Fußgetrappel mit tabellarisch sich hochklickenden Zählwerken. Das funktioniert! Hier kaum Lohn, dort fetter Geschäftsgewinn für die Kleiderindustrie. Missstände, die die Aufführung nebst mehrfach von den Interpreten vorgebrachten Argumenten („We are happy“) ins Bewusstsein stampft. Ebenso im zweiten choreografisch/räumlich gespiegelten Teil „Art Industry“. Nur dass jetzt statt Lautsprecheransagen ein Trainer die Darsteller kommandiert. Wer nicht spurt, fliegt raus. Entmenschlichung als Tretmühle, auch in der Kunst. Zum Schluss flimmern hinter geschwindigkeitsgetriezten Tänzern nur noch deren blaue Pulswellen an der Wand.
DANCE III
Trajal Harrell ist ein Bühnenjunkie. Selbst in Athens (Georgia) geboren, siedelt er „Antigone Sr. Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church“ mitten im pulsierenden Herzen von New Yorks schräger afroamerikanischer Homo- und Transsexuellen-Szene an. Und bringt gleich zu Beginn seiner irren, perfekt gemachten Show das Publikum zum Singen: „Baby One More Time“ von Britney Spears als Einstiegshymne für das Haus. Womit, wie sich in 2 Stunden, 15 Minuten herausstellt, einerseits der Clan von Theben (dem Antigone angehört), andererseits die häufig nach Modemarken benannten „Houses“ gemeint sind: familienähnliche Vereinigungen einer Subkultur, die in den 1980er Jahren nach Fotos aus Modezeitschriften in Daumenkinomanier einen aufgekratzten Tanzstil entwickelten, bei dem sich alles ums Aussehen dreht.
Jede herkömmliche handlungsbasierte Form sprengend, stellt Harrell das Voguing mit seinen Laufstegallüren ins Zentrum eines gigantischen Medleys aus Sound und vokalen Beiträgen aller Art. Unterstützt von einem postmodern trendig abtanzenden Männerquartett schafft er – hochgradig ironisierend sowie sich und seine gesamte Umgebung unter dem Vorwand eines Tragödienmixes in exaltierte Katharsis versetzend – permanent Neues aus Nichts. Sein Kosmos aus dualen, stets mit „we are“ beginnenden Aufzählungen von „Simon & Garfunkel“ über „die Twin Towers“, Israel und Palestina“ bis zu „Heroin und Kokain“ oder „Stolz und Vorurteil“ verschraubt sich in beachtlichen Gedankenknoten. Es hagelt Lacher. Die kaputten Verhältnisse der antiken Figuren liefern sentimentale Outings in Big-Brother-Manier. Dazwischen motivieren Mottos wie „Mother of the House“ die Boys, originelle, aus ordinären Klamotten kreierte Garderoben vorzuführen. Die glamouröse Collage sinnlicher Transformationen lässt der amerikanische Choreograf dann erneut in einer Interaktion mit den Zuschauern gipfeln. Er muss nur lange genug die passenden Parolen schreien und in Popmanier zu harten Beats die Stimmung anheizen. Will man Festivalerfolg im Beben der Stuhlreihen messen: Das Gastspiel der New Yorker Produktion von 2012 war ein Hit.
Den Preis für das kurioseste Stück haben sich zur Halbzeit am Tag Sechs Sharon Eyal (Choreografie) und ihr Mann Gai Behar (Musik) mit ihrer Kompanie L-E-V ertanzt. Sprechfetzen formieren sich zu einem Sound, der ein menschenfremdes Getier auf den Plan lockt. Aliens (darunter eine schwarze Latexqueen), Ameisen, die in tiefer, breitbeiniger Fechtposition Strategien abstimmen oder ein Insektarium voller Gottesanbeterinnen mit eng an die Körper gepressten Armen kommen einem in den Sinn. Geschlecht hat in „House“ keine Bedeutung, alle sechs Tänzer rotlackierte Nägel und geschminkte Lippen. Viel mehr zu verstehen gibt es in dieser surrealen Bilderwelt kaum, die sich aus einer gedehnten Ewigkeit eckig-zuckender Bewegungen, abrupter Absacker, androgyn-roboterhafter Zackigkeit und, ab und an, schmerzverzogen-faunischer Grimassenzieherei zusammensetzt.
Ein schöner Nebeneffekt: Schatten der Gestalten auf der Backsteinwand, die sich riesenhaft übers Publikum beugen. Denjenigen, die zur Halbzeit den Carl-Orff-Saal verließen, entging die Wendung des Stücks: Die peitschende Elektroakustik mutiert zu weicherer Minimalmusik. Das abstruse Gebaren wird weiter und wilder. Plötzlich kommen Kreise und Linien sowie kurze Ausbrecher in Arabesken und Sprünge ans Licht. Zeigefinger beschwören Frieden. Und zum hämmernden Hum-ta-ta driften zu guter Letzt zwei Männer wie vom irischen Steppfieber gepackt aneinander vorbei. Sehr eigenwillig und skurill. Ähnlich wie beim Heimweg die Bewegungsspiele der Marathontänzer auf dem Celibidache-Forum. Das halbe Pensum ihrer 66-Stunden-Tanzinstallation hinter sich, sehen sie an diesem Abend aus wie abgekämpfte Ableger jener gut trainierten Nachtschattengewächse der langjährigen Batsheva-Tänzerin Sharon Eyal.
DANCE IV
Choreografischer Formalismus par excellence. Dazu mit Didier Ambact und King Q4 zwei Live-Drummer, die die Stimmung in der Muffathalle akustisch mittels leisem Pochen und Klirren, feinem Fingergetrommel oder lauten, hallend verstärkten Percussion-Einlagen oszillieren lassen. Bei Christian Rizzos bodenrolllauniger Männerclique, die zum Teil ihre Gesichter hinter langen Haarmähnen versteckt, weckt das gleich von Anfang an Lust aufs Tanzen. Freilich braucht das Publikum etwas länger, bis die Faszination seiner 70-minütigen, aus dem Jahr 2013 datierenden Arbeit „D’aprés une histoire vraie“ begreifbar wird. Denn scheinbar lässt der Franzose, seit Januar 2015 Leiter des Centre chorégraphique national de Montpellier, den acht Tänzern seiner L‘associaton fragile jede Menge Anlaufzeit – und Platz für zeitgenössisch-folkloristische Improvisationen.
Doch weit gefehlt! Aus Individuen formieren sich Gruppen, Paare, die sich gegenseitig anschlängeln und irgendwann – meist sporadisch – wie magnetische Murmeln oder Webschiffchen im Reißverschlussprinzip zu Gemeinschaften fügen. Aufbau von Verdingungen und Zerfall, das fehlende Glied oder der Außenseiter, die Frage von menschlicher Verortung im Raum und Platzwechseln im Leben liegen diesem raffinierten Tanzgewebe zugrunde. In endlosen Variationen von Tänzerkonstellationen und Bewegungskombinationen gewinnt das Ganze erst mit fortschreitender Dauer an Spannung. Aber ein Perpetuum mobile, das die Bühne mit unendlich vielen Web- und Stickmustern füllt, kann auch ermüden.
Rizzo jedenfalls präsentiert sich bei Dance als Meister der Raumbespielung. Seine Interpreten reißen populäre Schrittformen an, federn in den Knien, bäumen sich modern über Rollen rückwärts zur Kerzenhaltung auf, tippeln wie Alexis Sorbas mit erhobenen Armen, die sie dann wieder in unterschiedlichsten Haltungen untereinander verketten und verzahnen. So lange, dass man zum Schluss das Bedürfnis verspürt, sich selbst mit einzuklinken. Das ist Rizzos Moment, das Stück zu brechen. Sein Ensemble schließt sich zum Kreis, der daraufhin für ein finales Aufflackern in eine Art Heavy-Metal-Party zerbirst.
DANCE V: Finale
Zum Schluss ging es noch einmal richtig in die Vollen. Mit „Vader“, der jüngsten Eigenproduktion der Tanztheatergruppe Peeping Tom, fand am Sonntag das Dance-Festival sein Ende. Das Thema war gesellschaftlich brisant: Abschiebung von Alten in ein Heim, das unter Führung der körperaktionistischen Belgier mit viel Material zum Schmunzeln in ein Ambiente zwischen Sanatorium und Irrenanstalt rutscht. Ihre Körper kaugummiartig verformend, zog das bisweilen selbst in Ticks oder Hassraserei ausflippende Performer-Personal rund um ein Grüppchen betagter Bewohner alle Register von Slapstick und satirischer Comedyshow. Als Dauerstimmung ständig mitschwingend: realitätsnahe Fatalität, die immer mal wieder das Lachen im Keim erstickt.
Zuvor hatte Alain Platel (künstlerische Leitung) mit der afro-barocken Musiknummernrevue „Coup Fatal“ – Johan Simons vorletzter „Tanzkarten“-Kooperation seiner finalen Kammerspielsaison vor Meg Stuarts Kreation am 18. Juni – für einen Publikumsmagneten gesorgt. Weder Tanz- noch Theaterstück, offenbarte die originelle, seit Juni 2014 erfolgreich laufende Kombi-Performance aus stimmverzierter Arienkunst von Monteverdi bis Händel (gesangs- und tänzerisch stark: der junge Werkinitiator und Countertenor Serge Kakudij) und mitreißenden kongolesisch-polyphonen Rhythmen phänomenales Powerpotential.
Und das lebten die zugleich musizierenden als auch konvulsivisch tanzenden Interpreten bis in die letzte Faser ihrer athletisch-drahtigen Körper aus. Fast zwei Stunden lang nahmen die 13 perfekt aufeinander eingestimmten Kongolesen sich – erst im Einheitslook, dann als bunte Mischung im traditionellen Look heimischer Sapeurs (Dandys) – der affektgeladenen Operninhalte über die Gewalt von Macht und Gefühlen an – um sie im Cross Over verjazzter Klassik bis Pop mittels Blickorgien, militanter Marscheinlagen, machohaft zuckender Hüften und sprühendem Witz zu illustrieren, konterkarieren oder zu plagiieren. Einfach, dynamisch. Genre-Verwischung par excellence!
Der Funkenregen an Begeisterung blieb bei Raimund Hoges „Quartett“ dagegen aus. Schon vor der Pause leerten sich die Ränge, während er gemeinsam mit sechs weiteren, in der geforderten Reduktion herausragenden Lieblingstänzern höchst bedachtsam Rituale einer selbstdefinierten Erinnerungskultur vorführte: Song für Song und entlang endloser Abfolgen klassischer Instrumentalstücke oder Showmitschnitte berühmter amerikanischer Entertainer. Dabei täte es angesichts sich überbietender Events manchmal gut, sich auf ungewöhnliche Entschleunigung oder pulssenkende Melancholie einzulassen, wenn ein Künstler in hintergründiger Bausch-Manier Favoriten aus Kunst und Kultur mit uns teilt.
Das Gros der Zuschauer aber bekommt man leichter zu fassen, wenn ein Stück laut ist oder krass. Letzteres traf auf Hillel Kogan zu. In der Rolle eines jüdischen Choreografen in Tel Aviv redete er sich in der Schauburg eine Dreiviertelstunde lang um Kopf und Kragen. Kommentierte ununterbrochen jeden seiner Schritte oder Beweggründe. Mit nur einem gedanklichen Repertoire: jüdisch-arabische Vorurteile. „We love Arabs“ wurde 2013 von israelischen Tanzkritikern ausgezeichnet. In München demonstrierten Kogan und sein Partner Adi Boutrous als bewundernswert geduldiger – nicht etwas Moslem, sondern Christ – wie Worte Aktionen und die Verquickung von Gestik mit Sprache Bedeutung manipulieren. Ein bitterböses Spiel, das nebenbei die Eitelkeit eines Künstlers auf die Schippe nimmt und kreative Prozesse als unsinnig entlarvt, die auf Vordergründigkeit bauen und Tiefe lediglich vorschützen.
Männer, Männer, Männer bleibt als Resumée noch zu sagen. Zehn Choreografen (Stefan Dreher für seinen Marathon ausgenommen!) standen bei DANCE 2015 mit Japanerin Kaon Ito, Israelin Sharon Eyal und Helena Waldmann nämlich nur drei Choreografinnen (sowie das gemischte Kollektiv Peeping Tom – ein Musterbeispiel für das Sparten-Amalgamieren) gegenüber. Bei fünf (also der Hälfte) der von Männern konzipierten Produktionen wirkten keine Frauen auf der Bühne mit. Drei der 15 Aufführungen im Hauptprogramm waren Duette, vier zeichnete die maßgeblich in den Stückverlauf integrierte Live-Musik aus. Stylisch mit Elementen des Cat Walk unterfüttert hatten Kaon Ito, Trajal Harrell, Sharon Eyal und Serge Kaduji mit Alain Platel ihre Arbeiten.
Im nächtlichen Schwere Reiter musste sich – als einziges choreografisches Beiwerk der freien Münchner Szene neben Drehers „Dancing Days“ – Micha Puruckers Abfolge dreier Soli „radio luma: into the night“ behaupten. Tanz in von Inhalten unbeschwerter, exorbitanter, sich schnell wandelnder Form stellten die Abende von Richard Siegal (Bayerisches Staatsballett: „Portrait Richard Siegal“) und Christian Rizzo vor. Wobei Rizzo sich auch mit Hoge die Kategorie „Opulenz durch Minimierung“ teilen kann. Während Waldmann, Kogan, das Duo Sheinfeld & Laor, der junge Chinese Zhen (und ein wenig auch Ito) eindeutig sozial-politische Themen behandelten. Immerhin viel Breitenspektrum für ein Festivalkonzept, das zusammenbrachte, was Kuratorin Nina Hümpel auf Sichtungsreisen positiv ins Auge fiel.
Vesna Mlakar
http://www.dance-muenchen.de/programm/vorstellung