Theater Münster „La Bohème“. Premiere am 16. Mai 2015 - besuchte zweite Aufführung am 19. Mai 2015
Liebe und Tod im U-bahn-Tunnel
Foto: Oliver Berg
Höhepunkt am Theater Münster in der zu Ende gehenden Spielzeit war für Opernfreunde die Aufführung von Detlev Glanerts „Joseph Süss“, auch über „Ariodante“ von Händel hörte man nur begeisterte Publikumsreaktionen. Solche bei gut verkauften Aufführungen werden wohl auch erfolgen über die letzte Oper der Saison, Giacomo Puccinis populärer „opera lirica“ La Bohème“ auf den Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica nach Szenen aus Henri Murgers „Scènes de la vie de Bohème“, hier unter der musikalischen Leitung von GMD Fabrizio Ventura in der Inszenierung von Pavel Fieber.
Für Bühnenbildner Christian Floeren hausten die vier Bohémiens zeitgemäss statt im Dachgeschoß im ausgedienten Warteraum einer nicht befahrenen Pariser Métro-Station – passend für Weihnachtsabend mit buntem Tannenbäumchen darin. Nicht ganz logisch war der Versuch, den riesigen Tunnel entsprechend dem Text mit einem in einer Bodenöffnung angefachten Feuerchen zu heizen. Die vier Freunde wurden dort geduldet durch Zahlungen an einen Sicherheitsbeamten – sonst die Rolle des Vermieters Benoît. Das vergebliche Eintreiben dieser Zahlung spielte Plamen Hidjov mit der nötigen Komik. Im zweiten Bild war dann ein die ganze Breite der Bühne ausfüllendes Café Momus zu bewundern, im dritten Bild sah man statt der Barrière d’Enfer eine Müllhalde mit der Skyline von Paris einschließlich Eiffelturm im Hintergrund – mit der völlig heruntergekommenem Kaschemme daneben ganz passend für die trostlose Atmosphäre dieses Bildes! Alle Schauplätze waren dank der durch Projektionen verschleierten räumlichen Begrenzung nach hinten zudem sängerfreundlich. In dieses Ambiente paßten die heutigen Kostüme, auch von Christian Floeren, besonders im Café Momus war die ganze Breite der Gesellschaft gekleidet als arme Vagabunden bis zur Oberschicht zu Gast.
Foto: Oliver Berg
In diesem Rahmen ließ Regisseur Pavel Fieber die Handlung wie gewohnt ablaufen, Aktionen lenkten nicht vom Gesang ab, sondern unterstützten die Zeichnung der Charaktere. Mimi etwa wollte von Anfang an Rodolfo an sich ziehen und fädelte das Spiel mit Kerze und Schlüssel im hellen U-bahn-Tunnel bewußt ein. Da machte Rodolfo gerne mit. Der plötzliche Wechsel zwischen heiteren und traurig-sentimentalen Szenen im letzten Bild gelang überzeugend. Daß die sterbende Mimi von Touristen fotografiert wurde, war allerdings kaum zu begründen, vielleicht doch, weil Mimi dann singt „sono andati“ (sie sind fort), aber doch Rodolfos Freunde meint?
Opernbesucher der vergangenen Spielzeiten wußten, daß aus Münsters Ensemble die Hauptpartien dieser Oper gut besetzt werden konnten – diese Erwartungen wurden noch übertroffen!
Die Mimi sang Sara Rossi Daldoss sehr lyrisch mit berückendem p und legato, aber kräftig genug, um ohne hörbare Anstrengung gegen das Orchester ihre Spitzentöne zu erreichen. Darstellerisch und figürlich war sie eine Bilderbuch-Mimi und sang soweit für Sopran möglich textverständlich. Adrian Xhema lag der Rodolfo stimmlich überaus gut mit strahlendem hohen c im I. Bild, bruchlosen Legato-Bögen, stimmlich auch Eifersucht und Schmerz ausdrückend, ohne zum Schluß in übertriebene Seufzer zu verfallen. Gregor Dalal war ein stimmgewaltiger Marcello, dem Ambiente gemäß nicht als Maler sondern als Sprayer der Wände tätig. Aus dem langsamen Walzer im II. Bild vor dem Café Momus machte Henrike Jacob als kecke Musetta stimmlich und darstellerisch eine gelungene Show-Nummer, trotz weihnachtlicher Kälte leicht bekleidet. Bei der sterbenden Mimi ließ sie auch weichere Töne hören. Beide, Marcello und Musetta, sangen und spielten überzeugend den Wechsel zwischen Übermut, Eifersucht und Liebe. So wurde das Quartett zum Ende des III. Bildes ein musikalischer Höhepunkt des Abends.
Lukas Schmid als hünenhafter Philosoph Colline zeigte überzeugend sein weiches Herz im nachdenklichen aber dadurch eindrucksvollen Abschiedslied von seinem alten Mantel. Juan Fernando Gutiérrez vervollständigte als Schaunard stimmlich und darstellerisch überzeugend das Quartett der Freunde. – urkomisch seine Erzählung über den nicht durch Musik sondern nur durch Gift umzubringenden Papagei im I. Bild. Auch weitere kleine Rollen wie etwa Jaean Koo als Spielzeughändler Parpignol waren passend besetzt.
Trotz schnellen Tempos sangen Chor und Extrachor des Theaters in der Einstudierung von Inna Batyuk im Café Momus exakt im Zusammenspiel mit dem Orchester. Ein besonderes Lob gebührt in dieser Szene auch dem Kinderchor der Westfälischen Schule für Musik in der Einstudierung von Rita Storck-Herbst.
Daß diese Massenszene im zügigen Tempo in den Einsätzen und dem vielstimmigen Gesang und gegen Ende noch mit Bühnenmusik präzise und reibungslos gelang, war natürlich auch der überlegenen musikalischen Leitung von Fabrizio Ventura zu danken. Zügige Tempi wählte er auch für die heiteren Szenen im I. und IV. Bild. Zur Begleitung intimen Gesangs nahm er langsamere den beschriebenen Emotionen angepaßte Tempi, ohne ins Sentimentale zu verfallen, dies auch dank Betonung der Nebenstimmen und der raffinierten Harmonik.. Vielleicht hätte man sich dabei das Orchester manchmal etwas zurückhaltender gewünscht – „piu p possibile“ und oft ppp und sogar pppp fordert Puccini manchmal, allerdings auch „fff tutta forza“ Vortrefflich klangen die Soli einzelner Instrumente. Erwähnt seien beispielhaft Soli von Violine und Cello und für die düstere Stimmung in der Einleitung des III. Bildes Soloflöten und Harfe.
Das Publikum im gut verkauften Haus schien begeistert, dem Zwischenapplaus und langanhaltendem Schlußapplaus mit Pfeifen und Bravos nach zu urteilen. Ein Besucher meinte nach der Vorstellung, in New York und München habe er keine bessere „Bohème“ erlebt.
Sigi Brockmann