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MANNHEIM: ESAME DI MEZZANOTTE von Lucis Ronchetti

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Uraufführung in Mannheim: „Esame di mezzanotte“ von Lucia Ronchetti (Vorstellung: 11. 6. 2015)

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Die Inszenierung von Achim Freyer ähnelte einer Zirkus-Vorstellung – Christoph Wittmann und Reuben Willcox als bunte Clowns (Foto: Christian Kleiner)

 Das Nationaltheater Mannheim brachte Ende Mai 2015 eine spektakuläre Uraufführung: „Esame di mezzanotte“ von Lucia Ronchetti. Es ist die erste abendfüllende Oper der italienischen Komponistin (geb. 1963), von der bereits einige Werke in der Dresdner Semperoper gezeigt wurden, wie vom „Neuen Merker“ regelmäßig berichtet wurde.

 Die Handlung der Oper, deren Libretto von Ermanno Cavazzoni nach seinem Roman Le tentazioni di Girolamo verfasst wurde und die ein Auftragswerk ist, in Kurzfassung:

Ein von Nervosität zur Schlaflosigkeit getriebener junger Mann quält sich mit einem typischen Angstszenarium: Die Abschlussprüfung soll am nächsten Tag stattfinden und er hat alles vergessen! Giro irrt nachts durch eine Bibliothek, doch die Bibliothek hat ihre eigentliche Bestimmung verloren. Sie ist wie der Untergrund einer Stadt, ein Sammelbecken für Unangepasste. Giro trifft auf bizarre Gestalten und Quälgeister, die aus den Büchern kriechen und unter den Bänken schlummern. Hirngespinste vergegenständlichen sich, reale Ängste und surreale Geschehnisse vermengen sich bis zur Unkenntlichkeit. Eine komische und phantasievolle Oper über die sich dem Ende neigende Welt der Bücher, über Prüfungen und Konzentrationsmängel, über Störungen und Gestörtwerden.

 Diese Oper für Schauspieler, Stimmen, Vokalensemble, Chor und Orchester in zwei Teilen, so die offizielle Bezeichnung des Werks, wurde in Mannheim in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln, die leider nur schlecht lesbar waren, aufgeführt.

 Achim Freyer, für Regie, Bühne, Kostüme, Licht- und Videokonzeption verantwortlich, inszenierte die Oper als Zirkus, wie er es meist tut. Es gelangen ihm eindrucksvolle, phantasievolle Bühnenbilder, die an Buntheit kaum zu übertreffen waren. Auch seine Kostümentwürfe waren von prächtigen Farben geprägt. Kinder und Jugendliche konnte er mit Sicherheit begeistern, viele Erwachsene unter den Opernbesuchern traten allerdings zur Pause die Flucht an, einige Reihen waren danach halbleer. „Wenn ich eine Zirkusvorstellung sehen will, gehe ich nicht in die Oper“, zischte ein Besucher seiner Begleiterin missmutig zu.

 Im gut illustrierten Programmheft sind einige Gedanken von Achim Freyer zur Uraufführung der Oper abgedruckt. Daraus ein Zitat: „Am Ende des Stückes schüttelt Giro den Traum ab und steht vor dem Nichts. Und vor einem Abgrund, weil der Traum eine Wahrheit war, die man nicht vergessen darf. Giro hat keine Zukunft, weil er die Kinderbücher nicht angerührt hat. Er hat seine Ängste gelebt, sich gegen sie aber nicht wehren können. Das Unterbewusstsein ist eine reinigende Sache, die etwas in einem Menschen bewirken kann, doch muss dieser auch etwas dafür tun. Giro ist ein Portrait von uns. Wir alle stehen vor diesem Abflug und wissen nicht, wo es hingeht.“

 Giro Lamenti, die Hauptrolle der Oper, wurde vom amerikanischen Countertenor Matthew Shaw mit großem Einsatz gespielt und gesungen, wobei es ihm der Regisseur nicht leicht gemacht hatte. Seine albtraumhaften Gefühlsschwankungen konnte er jederzeit stimmlich ausdrücken, obwohl er des Öfteren wie ein Clown über die Bühne hüpfen musste. Beeindruckend auch seine Mimik, die stark ins Komische driftete.

 Als Direktor der Bibliothek trat der deutsche Bass Magnus Piontek als Furcht einflößender Dompteur auf, die beiden bühnenwirksamen Clowns Santoro und Fischietti werden vom britischen Bariton Reuben Willcox und vom deutschen Tenor Christoph Wittmann gespielt. Sie erzählen auf witzige Art die Geschichte der Griechischlehrerin Albonea Bucato, die von einem Orang-Utan entführt wurde. Die ehemalige Lehrerin stellte der deutsche Bass Philipp Alexander Mehr gleichfalls recht komödiantisch dar. Der aus dem Libanon stammende Tenor Ziad Nehme spielte den ehemaligen Lehrer Natale, der wegen ständiger Müdigkeit  seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Während er über seine frühere Tätigkeit erzählt, sinniert Iris – gespielt von der deutschen Sopranistin Ruth Weber – über weggeworfene Bücher, die im Müll ihren Namen und ihre Identität verlieren. Als sie ein Schlaflied singt, schlafen alle Anwesenden ein – auch mein Nachbar in der Reihe!

 Zu erwähnen wäre noch die Solo-Oboistin Daniela Tessmann in der Rolle der Emilia, die mit ihrem ehemaligen Verlobten Natales in einen musikalisch betörenden Dialog trat.  Stimmgewaltig agierte der Chor (Einstudierung: Anton Tremmel, Francesco Damiani), noch wirkungsvoller der Kinderchor (Leitung: Anke-Christine Kober).

 Zur Partitur ein Zitat von Lucia Ronchetti aus dem im Programmheft abgedruckten Interview mit der Dramaturgin Elena Garcia Fernandez: „Ich wollte einen traditionellen ‘italienischen Klang-Raum‘ schaffen, eine allumfassende musikalische Struktur, die meine nächtliche Bibliothek darstellt, in welche die Figuren und Ereignisse eingepasst werden können. Ich beziehe mich auf Verdis Requiem, weil es auf unterschwellige Weise das gemeinsame Blut aller italienischen Komponisten repräsentiert, und auf seinen ‚Don Carlo‘, weil diese große Oper Konflikte, Enttäuschungen, Kämpfe und tragisches Unglück innerhalb der Familie, das weltliche italienische Inferno, aufzeigt.“ 

 Die musiktheatralische, farbenreiche Partitur der Komponistin wurde vom Orchester des Nationaltheaters Mannheim unter der Leitung von Johannes Kalitzke facettenreich dargeboten. Dennoch bekam man das Gefühl, dass die Musik des Öfteren hinter den wuchtigen Bühnenbildern zurückblieb, um nicht zu sagen: unterging.

 Während das Publikum nach dem ersten Teil nur matt und kurz applaudierte, zollten am Schluss die im Haus verbliebenen Zuschauerinnen und Zuschauer allen Mitwirkenden lang anhaltenden Beifall und dem Hauptdarsteller Matthew Shaw ein paar Bravorufe.

 Udo Pacolt

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