Gohrisch (Sächsische Schweiz) / Konzertscheune: “6. INTERNATIONALE SCHOSTAKOWITSCH-TAGE” – 19. bis 21.6.2015
Alljährlich wird der, 40 km südöstlich von Dresden gelegene, Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz (Elbsandsteingebirges) für ein verlängertes Wochenende zum „Mekka der Schostakowitsch-Freunde aus aller Welt“, denn seit 2010 gibt es hier, wo Dmitri Schostakowitsch zweimal weilte, die „Internationalen Schostakowitsch-Tage“.
1960 war er wegen eines Kompositionsauftrages zu dem Dokumentarfilm „5 Tage – 5 Nächste“ über die „Rettung“ der Dresdner Kunstschätze durch die sowjetische Armee hier, komponierte aber erst einmal sein sehr persönlich gehaltenes 8. Streichquartett. 1972 kam er erneut in diesen Ort mit seiner jungen Frau Irina.
Mit wenigen, aber wirkungsvollen Mitteln und sehr großem Engagement ganzer Familien aus der Umgebung wird dann in landschaftlich schöner Umgebung aus der riesigen, sonst agrarisch genutzten, XXL-Beton-Scheune ein passabler „Konzertsaal“ mit guter Akustik. Das Stroh lagert inzwischen vor der Scheune und unterstreicht den naturverbundenen Charakter.
Die Künstler treten ohne Gage auf. Eine große Schar ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer, die jedes Jahr diesem Ereignis entgegenfiebern, sorgt für ansprechende Bedingungen mit Blumenschmuck und Wohlfühlatmosphäre. So, wie Schostakowitsch von der, durch bizarre Felsformen geprägten, Landschaft angetan war, sind es auch alljährlich die Besucher und Veranstalter des Festivals. Innerhalb kürzester Zeit haben sich die Gohrischer Schostakowitsch Tage als Festival von internationaler Ausstrahlung und weltweit einziges, regelmäßig stattfindendes Festival zu Ehren Dmitri Schostakowitschs etabliert.
In diesem Jahr stand das Festival nicht nur im Zeichen des kompositorischen Schaffens von Schostakowitschs. Mit Arvo Pärt, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert und sich schon früh durch Schostakowitsch inspirieren ließ, wird eine Brücke in die Gegenwart geschlagen. Eine wahrhafte Entdeckung sind die Kompositionen Vsevolod Zaderatskys, der als einer der letzten Musiklehrer der Zarenfamilie und wegen seiner adligen Herkunft während des Stalin-Regimes verfolgt wurde und einige Jahre mit Zwangsarbeit in Lagerhaft verbringen musste. Seine Kompositionen durften weder gedruckt noch aufgeführt werden.
Eröffnet wurde das Festival mit einem „Paukenschlag“. Im Eröffnungskonzert (19.6.) gestaltete Andreas Scholl 4 Kompositionen für Countertenor und Streichquintett von Arvo Pärt: 2 Deutsche Erstaufführungen: „Vater unser“ und „My Heart’s in the Highlands“ sowie das „Wallfahrtslied“ und außerdem die Motette für Countertenor, Violine und Viola „Es sang vor langen Jahren“. Mit einer Countertenorstimme, die in der Höhe und Mittellage wunderbar klingt, aber auch über eine einwandfreie Tiefe verfügt, ließ er auch bei seiner stimmlichen Kraft eines männlichen Tenors etwas von der Verzückung erahnen, in die die Menschen früher bei Kastratenstimmen gerieten. Im „Vater unser“ war er „eins“ mit der spirituellen, durch den russisch-orthodoxen Glauben geprägten Musiksprache Pärts, fernab von dessen oft sehr „modernem“ Komponier-Stil. Sein Gesang strahlte meditative Ruhe aus. In wunderbarer Weise erfasste er auch die romantische Seite der anderen tonalen Gesänge. In seiner Stimme schwingt so sehr viel mit, ehrliches Gefühl ohne Sentimentalität, aber auch Wissen und Verständnis für die Komposition.
Für die sparsame, sanfte, aber perfekte und einfühlsame Ausführung der instrumentalen Begleitung sorgten der Pianist Paul Rivinius und 5 Musiker von den ersten Pulten der Sächsischen Staatskapelle, Matthias Wollong und Jörg Faßmann, Violinen, Sebastian Herberg, Viola und Norbert Anger, Violoncello sowie Andreas Wylezol, Kontrabass. Einleitend hatten Wollong, Faßmann, Herberg und Anger „Zwei Stücke für Streichquartett“ (op. 36) von Schostakowitsch sehr eindrucksvoll, mit hoher Musizierkultur, aber auch Humor, Gefühl und Verstand zu Gehör gebracht. Es war die hohe Kunst des Quartettspiels.
Die Soloflötistin der Staatskapelle Rozália Szabo und Jascha Nemzov widmeten sich der Uraufführung einer „Idylle“ von Zaderatzky, „Der Nachtigall Garten“ für Flöte und Klavier in übereinstimmender künstlerischer Intensität. Virtuos, mit schönen, „perlenden“ Glissandi und klassisch-klarem Ton meisterte Rosália Szabo die ausgiebige Solopassage des Flötenparts und wurde auch dessen eigenartiger elegisch-romantischer Melodik in schöner Weise gerecht, fast zum Träumen. Es war offenbar die Sehnsucht Zaderatzkys nach allem Schönen in Natur und Welt, dem Lebenswerten als Flucht aus allem Leiden.
Der 1. Konzertmeister, Matthias Wollong, am Flügel begleitet von Paul Rivinius, unterstrich seine solostischen Fähigkeiten sehr nachdrücklich mit der unvollendeten „Sonate für Violine und Klavier“ (1945) und der „Sonate für Violine und Klavier G‑Dur“ (op. 134) von Schostakowitsch, ein Wunder an Schnelligkeit, Folgen von Doppelgriffen, häufigen Wiederholungen gleicher und ähnlicher Figuren in fast mechanischer Folge – eine großartige Leistung an Virtuosität und Können.
Am nächsten Tag gab es einen nicht alltäglichen Auftritt der Schauspielerin Isabel Karajan, seit 2014 den Schostakowitsch-Tagen verbunden. Sie setzte ihre im Vorjahr begonnene Auseinandersetzung mit Schostakowitsch fort, indem sie seine Cellosonaten in einer Szenischen Lesung (20.6.) unter dem Titel „Vergiss, dein Pfuschwerk, Schöpfer“ mit Gedichten der erst kürzlich entdeckten österreichischen Autorin Christine Lavant (1915-1973) kombinierte. Regie führte Julian Pölsler, bei dessen Bühnendekoration, einem schräg eingerahmten, überdimensionalen Buddha-Figur mit extralangem Christuskreuz und Stalins Schnurbart und Augenbrauen im Hintergrund höchstens letzteres einen direkten Bezug zu Schostakowitsch zu haben schien.
Isabel Karajan räumte für ihren Teil zunächst den üblichen Tisch und Stuhl von der Bühne und entledigte sich ihres umfangreichen schwarzen Mantels und großem rotem Schal, um sich, trotzdem tief in schwarz gehüllt, mit bäuerlichem schwarzem Kopftuch, erst einmal eine Zigarette anzuzünden und (dank Mikro) mit sehr guter Textverständlichkeit (und leichtem Lispeln) die Probleme der Dichterin mit ausdrucksvollem Gesicht glaubhaft herüberzubringen. Sie traf den Charakter dieser Frau, „deren Suche nach Wahrhaftigkeit das eigene Leiden spiegelt“.
Isang Enders, schon von Anfang an bei den Festspielen, damals noch als Konzertmeister Violoncelli der Sächsischen Staatskapelle, jetzt als freischaffender Künstler immer wieder dabei, interpretierte die Cellosonaten meisterhaft, auf sehr hohem Niveau, mit seinem wunderbar singenden, sehr geschmeidigen Ton, gekonnten Glissandi und feinstem Pianissimo, am Flügel trotz einiger räumlicher Distanz von Andreas Hering im interpretatorischen „Gleichklang“ begleitet und mitgestaltet.
In zwei, jeweils 1,5stündigen „Klavierrezitals“ (20.6.) folgte Zaderatzkys Hauptwerk, die 1937-39 im Gulag komponierten und auf Papierfetzen und Zeitungsränder geschriebenen „24 Präludien und Fugen für Klavier solo“, die viele Jahre vor Schostakowitschs gleichartigem Zyklus op 87 entstanden. Sein Sohn, der Musikwissenschaftler Vsevolod V. Zaderatsky, der ebenfalls im September seinen 80. Geburtstag begeht und anwesend war, hat sie in Form gebracht. Der jetzt in Deutschland lebende russische Pianist, Hochschulprofessor, Wissenschaftler und Leiter der von ihm ins Leben gerufenen ACHAVA-Festspiele Thüringen (ein Festival für interreligiösen und interkulturellen Dialog), Jascha Nemtsov, sorgte am Klavier für die Uraufführung.
Die Musik ist tonal und sehr ansprechend, fordert aber ein hohes Maß an Konzentration und pianistischem Können, das Nemtsov mit Bravour, ungeheurer Fingerfertigkeit und größter Exaktheit in mit erstaunlicher, wie selbstverständlich erscheinender Sicherheit bewältigte – eine enorme pianistische Leistung. Bei dem relativen Gleichmaß seiner klassisch-klaren Interpretation hätte man sich lediglich noch etwas mehr Emotionalität gewünscht, aber bei einer Uraufführung sollte man nicht alles auf einmal erwarten, ist es doch allzu verständlich, dass sich der Pianist erst einmal auf die technische Seite dieser erstaunlichen Entdeckungen konzentriert hat. Schließlich ist es ihm zu danken, dass er das kompositorische Schaffen Zaderatzkys ins Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit rückte.
Den Abschluss dieses ereignisreichen Tages bildete ein Kammerabend (20.6.) mit dem legendären, 1945 in Moskau gegründeten, Borodin-Quartett, das an diesem Abend anlässlich seines 70-jährigen Bestehens mit dem, für das Festival gestifteten, Schostakowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Es führte mit seiner bewundernswerten Qualität das „Streichquartett Nr. 6 G‑Dur“ (op. 101) und das, an authentischem Ort in Gohrisch entstandene, „Streichquartett Nr. 8 c‑Moll“ (op. 110) von Dmitri Schostakowitsch sowie das „Streichquartett Nr. 13 a‑Moll“ (op. 86) des, im deutschsprachigen Raum noch wenig bekannten, Nikolai Mjaskowski, neben Schostakowitsch und Prokofjew einer der führenden sowjetischen Komponisten, auf. Schostakowitsch studierte noch sämtliche seiner Streichquartette mit dem Borodin-Quartett ein, dessen Mitglieder das Wissen von Generation zu Generation weitergaben.
Der letzte Tag brachte noch einmal 2 honorige Konzerte, einen Aufführungsabend der Sächsischen Staatskapelle als Matinee (21.6.) und das Abschlusskonzert. Der sehr sympathische junge Dirigent Wladinmir Jurowsky wandte sich zunächst mit angenehmer Stimme an das Publikum wegen einiger Programmänderungen, vor allem aber auch mit einigen interessanten Erläuterungen zu den aufgeführten Werken. Mit Ausschnitten aus der Filmmusik „Das neue Babylon“ (op. 18) wurde die scheinbar unbeschwerte, sehr publikumswirksame Seite Schostakowitschs beleuchtet und mit entsprechendem Augenzwinkern und Tiefsinn wiedergegeben.
Von Arvo Pärt erklang „Arbos“ für acht Blechbläser und Schlagzeug und „These Words“ …“ für Streichorchester und Schlagzeug und ebenfalls für Blechbläser und Schlagzeug erstmals ein Werk eines Engländers, Benjamin Britten, den zunächst nur eine Seelenverwandtschaft, später eine Freundschaft mit Schostakowitsch verband. Sein „Russian Funeral“ war – wie auch Pärts „Arbos“ – bei den ausgezeichneten Blechbläsern mit ihrer Präzision, ihrem Wohlklang und feinster Abstimmung und dem einfühlsamem „Schlagzeuger“ nicht nur in den allerbesten Händen. Jurowski leitete die Sächsische Staatskapelle mit Temperament, Umsicht und Inspiration. Er ist ein Vollblutmusiker der feinen, sensiblen Art. Sein Dirigierstil setzt Akzente und sorgt für Transparenz. Ihm entgeht keine Kleinigkeit. Beide Seiten schienen sich in stiller Übereinkunft zu verstehen, und er zieht alles in seinen Bann, Musiker wie Publikum.
Eingeleitet von einer ansprechenden solistischen Cellopassage, in die wenig später andere Instrumente einstimmten, brachte die Mezzosopranistin Maria Gortsevskaya “Sechs Gedichte von Marina Zwetajewa für Alt und Kammerorchester“ (op. 143a) von Dmitri Schostakowitsch mit ihrer makellosen Stimme, aufsehenerregender Exaktheit, sehr guter Artikulation, Transparenz, großer Ernsthaftigkeit und starkem Ausdruck zu Gehör.
Sie trat noch einmal in gleicher Intensität im Abschlusskonzert (21.6.) auf, das wie eine Zusammenfassung noch einmal im Zeichen der 3 Komponisten stand und die wichtigsten Interpreten vereinte. Maria Gortsevskaya begeisterte noch einmal mit 4 „Ausgewählten Liedern für eine Singstimme und Klavier“ von Zaderatsky mit müheloser Höhe, Mittellage und Tiefe ohne jede Brüche und mit ihrer sehr kultivierten Interpretation, am Flügel mit gleicher Intensität begleitet von Jascha Nemtsov, dem „Spezialisten“ und Mitentdecker Zaderatskys. Die Kammerharmonie (5 Bläsersolisten), das Streichquartett Tangente Quattro sowie Torsten Hoppe, Kontrabass und Christian Langer, Schlagzeug von der Sächsischen Staatskapelle widmeten sich mit exzellenter Qualität dem „Qintettino“ für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn sowie den „Fratres“ von Arvo Pärt, und
das Borodin-Quartett bewies erneut sein großes Können mit Schostakowitschs fünfsätzigem „Streichquartett Nr. 3 F‑Dur“ (op. 73) und beschloss mit einem leisen „Sich-Verlieren“ wie in Sphären, nach dem Musiker und Publikum in langem Schweigen verharrten, Konzert und Festtage – ein schöner, niveauvoller Abschluss, der neugierig macht auf die 7. Internationalen Schostakowitsch-Tage vom 24.-26.6. 2016 in Gohrisch.
Was bei den Internationalen Schostakowitsch Tagen immer wieder beeindruckt, ist neben einer neuen, unkonventionellen Sicht auf bekannte und unbekannte Kompositionen Schostakowitschs und seiner Zeitgenossen bis hin zu Fragmenten die hohe Qualität der Ausführung.
Ingrid Gerk