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STUTTGART/ Liederhalle: SYMPHONIEORCHESTER DES SWR / Herbert Blomstedt

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Herbert Blomstedt beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

BEWEGEND UND AUFWÜHLEND ZUGLEICH
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Herbert Blomstedt in der Liederhalle am 3.7.2015 
 
Der 1927 in den USA geborene Herbert Blomstedt gilt als Ausnahmedirigent, der die bedeutendsten skandinavischen Orchester sowie die Berliner und Wiener Philharmoniker und das San Francisco Symphony Orchestra leitete. In Stuttgart stellte er sich nun zusammen mit dem hervorragenden Solisten Sebastian Manz (Klarinette) beim Konzert für Klarinette und Orchester op. 57 von Carl Nielsen als Orchestermagier vor, der den romantischen Charakter dieser ungewöhnlichen Komposition ebenso wie ihre abstrakten Schattierungen und folkloristischen  Effekte exzellent herausarbeitete. Die strukturellen Besonderheiten des einsätzigen Werkes und der neoklassizistische Zeitgeist wurden hier genau getroffen. Der Solist Sebastian Manz bestach bei seinem äusserst beweglichen Spiel mit glasklarer Intonation, feingliedrigen Arabesken und Kaskaden und einer nie nachlassenden dynamischen Intensität. Die Satztypen Sonatenhauptsatz, langsamer Satz, Scherzo und Finale wirkten bei dieser hochkonzentrierten und rhythmisch ausgesprochen faszinierenden Wiedergabe wie aus einem Guss, wobei sich der Solist dank Herbert Blomstedts einfühlsamem Dirigat bestens entfalten konnte. Der Beginn mit seinem marschartigen Thema steigerte sich immer mehr, die Fugenform in den Bässen, Celli und dem Fagott konnte sich facettenreich entfalten. Die Klarinette machte hier immer wieder faszinierende spieltechnische Ausbruchsversuche. Der Dialog des Soloinstruments mit der kleinen Trommel bestach ebenfalls mit atemloser Rasanz, die sich ständig fortsetzte. Und auch die vom Blues inspirierte Melodie betonte Sebastian Manz vortrefflich. Die Überleitung zum langsamen Satz erfolgte ausgesprochen bewegend. Die Fagotte und das erste Horn gestalteten die Kantilenen in eindringlicher Weise. Das Sechzehntelmotiv in den Geigen beherrschte den atemlos interpretierten Scherzo-Abschnitt. Toccata-Charakter setzte sich in kühnen Modulationen durch, das kantable Klarinetten-Thema behauptete sich fast betörend. Die Tonart F zeigte sich dann im Finale mit kühner Kraft und ungeheuren Intervallsprüngen der Klarinette. Langgehaltene Akkorde im pianissimo verliehen dem Schluss einen geheimnisvollen Zauber. Sebastian Manz bedankte sich für den begeisterten Applaus mit zwei Nummern aus Igor Strawinskys Solostücken für Klarinette. Auch hier faszinierte die erstaunliche spieltechnische Beweglichkeit des Solisten. Die neuartigen Wirkungen des Instruments kamen glänzend zum Vorschein. Elegisches und Burleskes ergänzten sich reizvoll. 
 
Als Höhepunkt dieses Konzertabends konnte man dann Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 in d-Moll erleben, die dieser “dem lieben Gott” widmete. Herbert Blomstedt machte daraus einen explosiven Vulkan, dessen bebende Nachwirkungen das Podium erzittern ließen. Oktav- und Quint-Intervalle ließ Blomstedt mit dem meisterlich musizierenden Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit eherner Macht erstrahlen. Aus dunklem, raunendem Nichts entwickelte sich der feierlich-geheimnisvolle Beginn des ersten Satzes. Acht Hörner tasteten hier wie ratlos suchend den Akkord der Grundtonart ab. Schließlich sammelten sich genügend Kräfte für die feierliche Fanfare. Noch weit mehr Energien ließen das urgewaltige, in schroffen Oktaven abstürzende Hauptthema zu Klang werden. Man begriff, dass hier wohl eine intensive Auseinandersetzung mit Gott gemeint ist. Herbert Blomstedt unterstrich jedenfalls den spirituellen Charakter dieses Werkes in ganz besonderer Weise. Der Klang sank dann in ungeheuer leere Tiefen und verstummte atemholend. Als milde Streichermelodie erschien das zweite Thema, es erflehte Trost und Stärke. Herbert Blomstedt gestaltete den harmonischen Bogen mit großer Geste. Die Steigerung erwuchs zum Teil aus der Umkehrung des Themas. Aus wogenden Quinten tauchte das rüstige dritte Thema auf, die Hörnermelodien schwangen sich in reizvoller Weise in die Höhen. Der mit Gott ringende Mystiker gewann bei dieser Wiedergabe immer erschütterndere Züge, auch wenn das Tempo manchmal fast zu rasch wirkte. Erbarmungslos hart prallte in der Coda gegen den Granitblock des Hauptthemas die Einleitungsfanfare. Leere Quinten reckten sich fast drohend auf. Im Scherzo brach sich der unheimliche Übermut eines Greises Bahn. Assoziationen zur achten Sinfonie verleugnete Blomstedt bei seiner überzeugenden Wiedergabe nicht. Das Kopfthema löste das Miteinander der Töne eines Akkords in das Nacheinander einer “Melodie” auf. Stampfend meldete sich der Rhythmus, dann steuerte die Oboe einen facettenreichen österreichischen Ländler bei. Herbert Blomstedt interpretierte die über das zarte Trio dahinhuschenden Schatten sehr eindrucksvoll. Für eine poetische Stimmung war bei diesen feingetönten Melodien allemal Platz. Ergreifend, persönlich und höchst inspiriert ließ Herbert Blomstedt mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR dann das grandiose Finale musizieren. Die Geigen trugen den schmerzlichen Gesang in die Höhe. Hörner und Tuben stimmten in entrückter Weise den “Abschied vom Leben” an, dessen Intensität sich immer mehr verstärkte. Die Streichermelodie weckte immer neu die Qual, verstärkte sich in der kämpferischen Themenumkehrung. Die Vision des Jenseits wurde unter Blomstedts reifem Dirigat in unnachahmlicher Weise beschworen. In entrückter Schönheit erklang wieder die sphärenhafte Melodie der Wunschlosigkeit und löschte Leid und Qual aus. Man erinnerte sich an das Adagio-Gebet der achten und das “Heldenthema” der siebten Sinfonie. Die Logik des sinfonischen Aufbaus machte Herbert Blomstedt mustergültig deutlich. Zuletzt herrschte ergreifende Stille. Man muss wahrhaftig dieses Alter erreichen, um Bruckner so dirigieren zu können. Ovationen für diesen Abgesang.
 
Alexander Walther   

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