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BERLIN / Festspiele: BOSTON SYMPHONIE-ORCHESTRA / Andris Nelsons. Mahlers “Sechste”, vom Nimbus der Programmmusik befreit – Orchesterbrillanz ohne Gleichen

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Berliner Festspiele: Gastspiel des Boston Symphony Orchestra: Gustav Mahler Symphonie Nr. 6 unter der Leitung von Andris Nelsons; Berliner Philharmonie, 5.9.2015

 Vom Nimbus der Programmmusik befreit – Orchesterbrillanz ohne Gleichen


Andris Nelsons:  Foto: Marco Borggreve

 Andris Nelsons, konzentriert und lächelnd am Pult, gibt  mit voller Körperwucht und präzisest vibrierendem Schlag (à la Maazel) den Einsatz zum ersten Satz. Unwillkürlich denkt man daran, dass Mahler seine sechste Symphonie, diese eigentümlich „harte Nuss“, in der glücklichsten Phase seines Lebens konzipiert hat. In Nelsons Deutung geht es vordergründig nicht um das Lösen eines Rätsels, dem Erzählen einer Geschichte, und wenn, dann überhaupt keiner tragisch autobiographischen. Das final großen Respekt und langen Applaus bekundende Publikum durfte Mahlers Musik als nachschöpferischen Akt des größten symphonischen Klangexperiments im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert erleben. Und welches Orchester wäre besser geeignet, dies auch  bis in die letzte Phase der Hörmöglichkeiten und jede Muskelfaser auszuloten, als dieses meiner Meinung nach derzeit beste amerikanische Orchester aus Boston. Der edle Klangkörper, dessen 15. „Ray and Maria Stata Music Director“ Andris Nelsons seit der Saison 2014/15 ist, war zuletzt 2007 bei den Berliner Festspielen zu Gast.

 Ich würde nicht sagen, dass man jetzt noch etwas von der französischen Tradition eines Pierre Monteux oder Serge Koussevitzky merkt. Vor allem Munch, Leinsdorf und Ozawa haben die Geschicke des Orchesters in der Nachkriegszeit gelenkt. Sie haben wahrlich einen großen Klangkörper (weiter) entwickelt, dessen technische Brillanz vor allem beim „Holz“, den Blechbläsern (Trompeten – Prinzipal Thomas Rolfs, Hörner – Prinzipal James Sommerville!!) und Schlagzeug zutage tritt. Ideale Voraussetzungen, um Mahlers „mystisches“ Klanggebirge in Sonatenhauptsatzform, dieses eigentümliche Amalgam aus Tradition im Stil der Wiener Klassik, Marsch und Lied, Tanz und Parodie, lustvoller Exuberanz und bizarrer „Walpurgisnacht“ à la Bulgakov eindringlich in die Welt zu posaunen. Das klingt dann weniger nach Maiernigg am Wörthersee, wo die Symphonie entstanden ist, und auch nicht nach Großglockner, sondern eher nach dem dunkelgrau mächtigen Atlantik und dem Mount Everest. Nelsons unterstreicht die Modernität und ausgelassenen Kühnheit der Partitur, legt die Strukturen klar und sorgt für höchste Transparenz der und innerhalb der Instrumentengruppen. Jeder Mahler ja (vollkommen unsinnigerweise) unterstellte Vorwurf von „Effekthascherei“ ginge in solch einer Lesart komplett ins Leere. Mahlers 6. Symphonie ist zugleich Endzeitmusik, aber auch eine große leuchtende Utopie der Zukunft, der unbegrenzten Möglichkeiten, des dialektischen Nebeneinander von Gut und Böse, Endlichkeit und kosmischer Vision. Andris Nelsons legt damit eine große Lesart vor, die klangliche Avantgarde in Richtung bspw. Alban Berg und Anton Webern, aber auch Shostakovich oder (ja) Puccini (Turandot) erschließt sich beeindruckend. Im Blick zurück kannte Mahler natürlich seinen Ring, die Bassposaune erinnert manchmal wahrlich an Fafners Höhle. 

 Der im Finale zwei Mal herabsausende Holzhammer (kurz, mächtig, aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter) und aus der Ferne die höheren und tieferen Herdenglöckchen setzen Momenti (mori?), die jeder für sich deuten, auf sich wirken lassen soll.  Denn Mahler hatte schon Recht, wenn er in einem Brief an Mengelberg schreibt, dass  die Nuss der 6. „von den Zähnchen der Kritik nicht geknackt werden kann.“ Soll sie auch gar nicht: Eine dem betrachtendem Beschreiben eher als der Beckmesserei verpflichtete Berichterstattung verneigt sich am Ende in Bescheidenheit vor der Partitur genau so wie vor diesem fabelhaften Orchester samt seinem neuen genialen Chef!

 Dr. Ingobert Waltenberger

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