Modernes Musiktheater in Frankfurt am Main: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann (Vorstellung: 23. 9. 2015)
Mit einer aufwendigen und einfallsreichen Inszenierung eines modernen Musiktheaters wartet zurzeit die Oper Frankfurt auf, die sich im letzten Jahrzehnt zu einem der besten Opernhäuser Europas entwickelte: „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann. Der 1935 geborene Komponist, der sein Werk „Musik mit Bildern“ nennt, verfasste den Text nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen selbst, wobei er Texte von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin einbaute. Die Uraufführung fand im Jahr 1997 in Hamburg statt. Weitere Produktionen des Werks erfolgten in Stuttgart, Paris, Berlin, aber auch bei den Salzburger Festspielen.
Zwei stumme Akteure in der Frankfurter Produktion der Lachenmann- Oper: Michael Mendl mit einem Meerschweinchen (Foto: Monika Rittershaus)
Das im Jahr 1845 von Hans Christian Andersen verfasste Märchen von einem kleinen Mädchen, das in der Silvesternacht Streichhölzer verkaufen soll und dabei so erbärmlich friert, dass es sich mit seiner kostbaren Ware zu wärmen versucht, bis kein Streichholz mehr übrig ist, zählt zu den eindringlichsten Stücken des dänische Dichters. Rund 150 Jahre später wird in Lachenmanns Oper Andersens Kind zur RAF-Aktivistin Gudrun Ensslin. Wäre das Mädchen erwachsen geworden, hätte es mit seinen Schwefelhölzern vielleicht Bomben gezündet. Helmut Lachenmann, der zu den radikalsten Komponisten der Moderne zählt, schrieb in seiner Partitur Töne, die sich auf theatralische Weise zu Bildern entfalten. Dazu ein im Programmheft veröffentlichtes Zitat des Komponisten: „Es ging mir nie um irgendwelche irgendwie schockierende Klänge. Es ging mir immer um nichts anderes als um die Sensibilisierung des Hörens. Es ging darum, zu entdecken, dass wir Antennen besitzen, die wir noch gar nicht benutzt haben. … Hören als Beobachten, auch als ‚im Hören sich selbst beobachten‘.“
Die Texte wurden immer wieder auf die Bühne projiziert, waren aber nur in Bruchstücken lesbar (Foto: Monika Rittershaus)
Genau das versuchte Regisseur Benedikt von Peter im Frankfurter Opernhaus in Zusammenarbeit mit der Bühnenbildnerin Natascha von Steiger zu inszenieren, wobei er einige Orchestermitglieder aus dem Zuschauerraum auf dem oberen Rang musizieren ließ. Dadurch bescherte er dem Publikum ein selten gehörtes Klangerlebnis. Auf einem grünen Podest streichelt und füttert ein alter Mann, dargestellt vom großartigen Schauspieler Michael Mendl, ein putziges Meerschweinchen, womit wohl auf symbolisch-ergreifende Weise aufgezeigt werden soll, dass vielen einsamen Menschen Wärme und Liebe fehlt.
Zum Tierchen als „Mitspieler“ erläutert der Regisseur in einem im Programmheft unter dem Titel „Requiem für ein schutzloses Wesen“ abgedruckten Interview: „Ein Meerschweinchen sitzt im Zentrum des Raumes auf einer Turnmatte, wird abgefilmt und auf eine Leinwand projiziert. Man schaut den Abend über also auf ein unverhältnismäßig kleines Tier. Es hat einen eigenen Willen, an ihm und seiner eigengesetzlichen, expressiven Kraft und Wirklichkeit kann man nicht vorbei und soll sich schauend abarbeiten. Die Setzung versucht, in ihrem ruhigen Minimalismus die Konzentration auf die Wahrnehmung zu lenken.“
Bei manchen schrillen und extrem lauten Tönen der Partitur schien das Meerschweinchen verschreckt – zumindest in der Wahrnehmung des Rezensenten –, obwohl es von einer ausgebildeten Tiertrainerin an die Musik gewöhnt wurde, wie im Programmheft eigens vermerkt war. Einige Besucherinnen hielten sich des Öfteren die Ohren zu, einige Zuschauer verließen fluchtartig das Opernhaus. Die Premieren-Berichterstattung schrieb von „lautstarken Protestrufen“, die allerdings in der Vorstellung am 23. September unterblieben. Die unterschiedlichen Geräusche und Töne der Partitur bescherten dem aufmerksam horchenden Publikum wohl ein noch nie gehörtes Klangerlebnis.
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, von Erik Nielsen geleitet, thronte auf dem oberen, balkonartigen Teil der Bühne (der untere Teil blieb Zuschauern vorbehalten), einige Mitglieder musizierten auf den Rängen. Auf den beiden Klavieren spielten Tomoko Hemmi und Yukiko Sugawara, sehr eindrucksvoll war Mayumi Miyata, die auf der japanischen Mundorgel Shô spielte und wie ein Wesen aus dem Jenseits wirkte.
Die beiden Solosopran-Partien wurden von Christine Graham und Yuko Kakuta gesungen, die auch höchste Spitzentöne zu bewältigen hatten. Zusätzlich deuteten sie auch Szenen aus dem Andersen-Märchen an, wie das Stehen des Mädchens an der Hauswand, ihr Zittern in der Kälte und ihre Visionen von der Großmutter. Die Sprechrolle hatte der Komponist Helmut Lachenmann selbst übernommen, der die Parabel „Zwei Gefühle“ von Leonardo da Vinci eigenartig zerhackt deklamierte. Stimmkräftig das ChorWerk Ruhr (Einstudierung: Michael Alber).
Am Schluss der knapp zweistündigen Vorstellung minutenlanger Beifall des Publikums für das Orchester und seinen Dirigenten sowie für die Solisten und Sonderapplaus für den Komponisten für einen Abend mit noch nie gehörten Tönen!
Udo Pacolt