„Mein Kampf“ von Adolf Hitler als Premiere im Nationaltheater Mannheim
IM SCHATTEN DES EICHMANN-PROZESSES
Premiere von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ Teil 1 und 2 im Schauspielhaus des Nationaltheaters am 13. November 2015
Als Produktion von Kunstfest Weimar, Deutsches Nationaltheater Weimar und Rimini Apparat in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen, dem Nationaltheater Mannheim und „steirischer herbst festival graz“ ist diese Inszenierung von Helgard Haug und Daniel Wetzel (die auch für Konzept und Text verantwortlich sind) jetzt in Mannheim auf die Bühne gekommen. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob man dieses Buch überhaupt aufführen kann, denn bis heute gilt Hitlers Hetzschrift als schlecht geschriebenes und wirres Traktat, das jahrzehntelang von Politik und Justiz verboten wurde. Aber am 1. Januar 2016 enden die vom Freistaat Bayern verwalteten Nutzungsrechte an „Mein Kampf“.
Die Frage lässt sich nach dieser gelungenen Vorstellung schnell beantworten, denn die Inszenierung geht auf Distanz zum Text und stellt die Protagonisten Sibylla Flügge, Anna Gilsbach, Matthias Hageböck, Alon Kraus, Christian Spremberg und Volkan Terror (der zudem für die subtile Musik verantwortlich ist) in den zentralen Mittelpunkt des Geschehens. Auf der Rückseite eines raumfüllenden Bücherregals treffen sich die sechs Darsteller, die das Regal von dieser Seite her bewohnen werden. Sie nehmen dann das Buch „Mein Kampf“ in die Hand, um es zu lesen und akribisch zu analysieren. Das Buch wird aus der zweiten Reihe des Regals, von den Dachböden, aus den Antiquariaten genommen und aufgeschlagen. Sibylla Flügge stellt ernüchtert fest: „Ich hatte herausgefunden: Dies ist kein Buch, das verführt, sondern eine Anleitung für Verführer. Es geht um Methoden.“ An der linken Seite sieht man einen Fernsehapparat (Bühne und Video: Marc Jungreithmeier/Grit Schuster), in dem der Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel zu sehen ist. Davon geht eine beklemmende Wirkung aus. Fragen drängen sich in bestürzender Weise auf, die die Protagonisten zunehmend beschäftigen: Was ist mit den 12 Millionen Exemplaren von „Mein Kampf“ nach 1945 geschehen? Wer hat das Buch gelesen, wer würde es heute lesen? Man erfährt, dass es beispielsweise sogar in Israel auf Hebräisch übersetzt wurde. Man vernimmt die verzerrte Stimme Hitlers, die durchs Bühnenraster in gespenstischer Weise hindurchgleitet, das sich ständig verändert. Das Publikum nimmt auch die erregten Debatten für und gegen eine Veröffentlichung dieses Buches im israelischen Parlament wahr und erfährt, dass „Mein Kampf“ auch in der Türkei gedruckt wurde. Hitler stilisiert sich als mittelloser Mann, was nach Ansicht der Darsteller unglaubwürdig wirkt. Es wird berichtet, dass er Karl May sehr gerne gelesen hat. Und schon erklingt die Erkennungsmelodie von „Winnetou“. Die Weihnachtsdekoration auf der Bühne wirkt fast schon wie eine Persiflage. Der Text wird aus dem Internet heruntergeladen. Stilistische und strategische Gemeinsamkeiten mit der Neuen Rechten werden fieberhaft diskutiert: „Ich würde den Wert eines Lebens niemals wiegen wollen, das lehne ich ab.“
Mit diesen entscheidenden Sätzen endet diese Aufführung. Zuvor ist der Wandschrank insgesamt wie ein Buch zusammengeklappt worden und man sieht nur noch die Aufschrift: „Adolf Hitler – Mein Kampf“. Ein effektvoller und kluger Regie-Einfall. Es wird außerdem die Frage gestellt, ob die heutigen Neonazis „Mein Kampf“ überhaupt begreifen. In diesem Zusammenhang erwähnt man Beate Zschäpe. Hitler hat „Mein Kampf“ nicht nur zur Begleichung seiner Anwaltskosten und alter Rechnungen geschrieben, sondern ganz bewusst als Gegenentwurf zum Marxismus konzipiert. Das kommt bei der Inszenierung gut zum Vorschein. Das „ekelhafte Buch“ wird drastisch als „Etikettenschwindel“ entlarvt. Gerade deshalb hat das mutige Regie-Team sein „Mein Kampf“-Projekt auf der Kehrseite des Bühnenbildes von „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ erarbeitet. Ein Stuhl und eine Felddecke stehen und liegen hier sogar für noch nicht Aufgetretene. Die türkische Übersetzung von „Mein Kampf“ ist Ende 2004 fast gleichzeitig von 15 türkischen Verlagen auf den Markt gebracht worden. Auf der Kindle-Bestsellerliste steht „Mein Kampf“ in der englischen Lizenzausgabe dauerhaft unter den Bestsellern. Auch dies wird deutlich zur Sprache gebracht. Helgard Haug und Daniel Wetzel haben sich bei ihrer überwiegend geglückten Inszenierung konsequent auf die Weiterentwicklung der Mittel des Theaters konzentriert, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen. Das vielverwendete Wort von der „Lügenpresse“ oder von „Schmarotzern“ in Staat und Wirtschaft geht auf Adolf Hitler zurück – dies ist die wichtige Botschaft dieser Inszenierung. Psychologisch besonders interessant und aufschlussreich sind ferner die Juden-Beobachtungen Hitlers in „Mein Kampf“. Zunächst macht er sich sogar darüber Gedanken, eventuell Unrecht zu tun. Dann aber schießt er sich voll auf das „Ungeziefer“ ein und arbeitet seinen Vernichtungsgedanken immer weiter aus.
Die Aufführung überzeugt durch ihren Spielwitz und ihren sarkastischen Humor ebenso wie durch ihre Wahrhaftigkeit: „Ihr Blut schreit zum Himmel, aber ihre Stimmen können nicht gehört werden…“ Gudrun Ensslin oder Rosa Luxemburg gewinnen sogar verdeckte zeitgeschichtliche Bezüge. Der Text wird facettenreich zerlegt, man geht ganz bewusst auf Distanz und nähert sich dann wieder an. Das ist ein spannendes Unterfangen. Martin Luther, Friedrich der Große und Richard Wagner werden als Hitlers geistige Väter in ein grelles, unheimliches Licht gestellt. Nacheinander reicht man Adolf Hitler, Rosa Luxemburg und Kaiser Wilhelm die Hand. Diese Inszenierung reizt drastische Gegensätze bis zur Schmerzgrenze aus (Dramaturgie und Recherche: Sebastian Brünger). Interessant sind vor allem die Biografien der Darsteller. Sibylla Flügge ist Professorin für das „Recht der Frau“ in Frankfurt, Anna Gilsbach ist Rechtsanwältin, Matthias Hageböck ist als Buchrestaurator in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar tätig, Alon Kraus wurde in Tel Aviv geboren und ist ebenfalls Rechtsanwalt, Christian Spremberg ist unter anderem Radioredakteur und Volkan Terror gilt als Wegbereiter für den türkischen Hip Hop, von dem man bei der Aufführung viel mitbekommt. Auf Video zu sehen sind ferner Joachim Hainzl, Othmar Plöckinger und Moshe Zimmermann. Interessant sind die Hinweise auf das Interesse von „Mein Kampf“ bei vielen Studierenden in Israel, die es für ihre Recherchen über das Dritte Reich benötigen. Vielleicht könnte man manche Zusammenhänge bei der Aufführung noch plastischer herausarbeiten. Bei der Premiere gab es starken Publikumsbeifall. Ein Kuriosum ist, dass „Mein Kampf“ sogar zu Hochzeiten und Berufsabschlüssen verschenkt wurde.
Alexander Walther
(Fotos unter: www.nationaltheater-mannheim.de/de/presse/login.php)