Hedwig and the Angry Inch. Premiere am 20.11.2015
Musical von John Cameron Mitchell / Stephen Trask,
Deutsch von Rüdiger Bering und Wolfgang Böhmer
In deutscher Sprache, Lieder teils in Englisch
Riccardo Greco. Copyright: Patrick Pfeiffer
Der Kategorien, in die sich Mensch seine Welt einteilt, sind viele. Und so gibt es auch den Begriff Drag-Rock-Club (von drag = „Fummel“, Verkleidung als Transvestit); in einem solchen, genannt „Squeeze Box“, fand 1994 in New York die Uraufführung eines Werkes statt, das eine transsexuelle zeitgenössische Figur zur Hauptperson hat. In einer „Box“ fand nun auch die Linzer Premiere des Stückes statt – mit an dem Abend ca. 180 Zuseherplätzen zwar nicht gerade zum „Squeezen“, aber doch ein intimer Rahmen für ein sehr persönliches Theaterstück.
Hedwig (ein „sehr deutscher“ Vorname, der aber auch Raum für Wortspiele um einen „Perückenkopf“ = head-wig bietet) kommt in Ostberlin auf die Welt und erhält den Namen Hansel. Das zarte Kind fühlt sich bald zum eigenen Geschlecht hingezogen und lernt einen US-Soldaten auf Dienstreise in der DDR (das war, zum Leidwesen der DDR und wohl auch der Sowjets, im Rahmen der Besatzungsverträge tatsächlich möglich!) kennen und lieben. Ausreise zum Geliebten in den Westen ist aber nicht – außer als Ehefrau. Und die wiederum kann Hansel nur nach einer Operation werden, die freilich schief geht und ein Stück seiner Männlichkeit zurückläßt, etwa einen Zoll (inch) lang. Im Westen ergreift Hedwig den Beruf der Entertainerin; die Ehe mit dem Soldaten zerfällt bald, eine weitere Verbindung mit einem Sänger, der als „Tommy Gnosis“ unter Hedwigs Beratung bald ein großer Star mit großem (?) Ego, großen Problemen und großen Selbstvorwürfen wird, dauert auch nicht ewig. Zum Zeitpunkt des Stückes finden wir Hedwig als Kleinentertainerin in Begleitung ihres aktuellen Gatten Yitzhak (aufgelesen auf Tournee in Serbien, wo er, damals noch sie, als „letzte jüdische Entertainerin des Balkan“ unter dem Namen „Christel Night“ auf der selben Bühne wie Hedwig stand) und in Begleitung einer Band, die sich „The Angry Inch“ nennt, auf der Nebenbühne einer großen Konzerthalle. Am nämlichen Abend gibt Tommy Gnosis in letzterer eine Vorstellung – die erste nach einem schrecklichen Unfall, den er verschuldet hat.
Riccardo Greco. Copyright: Patrick Pfeiffer
Mitchell und Trask sowie der Regisseur Peter Askin formten das Stück nach einer realen Bekannten Mitchells, nach Ideen aus den gnostischen Evangelien und Platos „Symposion“, und natürlich mit einer gehörigen Prise sarkastischen Humors. Die unmittelbaren Vorbilder für die Gestaltung der Figur Hedwig waren David Bowies „Ziggy Stardust“, „Frank N. Furter“ und Marlene Dietrich. Am Glam Rock orientiert sich auch die Musik, die dazu feine Doppelbödigkeiten bietet: so z. B. werden in machen Akkorden die Dur/Moll-definierenden Terztöne ausgespart, um die Ambivalenz der Figuren zu unterstreichen.
Überhaupt ist die Musik eine Stärke des Abends – es werden zwar keine Ohrwürmer produziert, aber die rockige Band (Bela Fischer, jr. Keyboards und Leitung, Wolfgang Bründlinger, Gitarren, Wolfgang Boukal, Bass, Ewald Zach, Schlagzeug) serviert das ideen- und farbenreiche Material höchst gekonnt, in idealer Abstimmung mit den beiden Darstellern.
Diese sind Riccardo Greco als Hedwig und Ariana Schirasi-Fard als Yitzhak. Herr Greco, der auf der großen Bühne u. a. schon als „Tommy“ brilliert hat, ist auch hier in seinem Element – mit höchst beachtlicher Stimme, die beim Singen oft auch ohne Mikrophon auskommen könnte, pflügt er unermüdlich (1 Stunde 45 min Aufführungsdauer, ein Lawine an Text, rund 20 Gesangsnummern, keine Pause!) durch alle erdenklichen Stile und Gefühle. Er/Sie stöckelt u. a. auch mit verdammt hohen Louboutins trittsicher über die verschachtelte Bühnen und durch finstere Zuseherreihen. Frau Schirasi-Fard gibt lange Zeit höchst plausibel den nur mäßig interessierten Bühnenassistenten, Kameramann für die Videowand, ab und zu verstärkt sie die Band auf der Gitarre; aber gegen Ende des Stückes zeigt auch sie ihre/seine Gefühle in feinem lyrischen Gesang.
Die Inszenierung, sachlich-konzentriert, aber mit der nötigen Prise Spaß und Irrsinn, besorgte Johannes von Matuschka, Bühne und Kostüme (mit natürlich mehr als einer kleinen Dosis Drag & Glamour, trotz grundsätzlicher studiobühnenartiger Nüchternheit) stammen von Christoph Rufer, die in Projektionen verwendeten und auch im Programmheft erscheinenden Illustrationen (ein wenig an Antoine de Saint-Exupérys Zeichnungen zum „kleinen Prinzen“ erinnernd) stammen von Giovanna Bolliger. Choreografie Philip Ranson, das Lichtdesign von Johann Hofbauer läßt die nüchterne Bühne mitunter vergessen, Dramaturgie Arne Beeker.
Insgesamt also ein sehr gelungener Abend.
Aber – wo ist eigentlich der „angry inch“ geblieben? Das fragten wir uns am Ende der Vorstellung schon. Natürlich, er wird gelegentlich im Text erwähnt, die Band heißt so (insoferne wäre der Name des Stückes als reine Konzertankündigung plausibel) – aber so prominent wie im Titel kommt er im Laufe des Abends nirgends vor. Irgendwie hätten wir uns vorgestellt, daß er sich mit schrägen und rotzfrechen Kommentaren in der Art einer Bauchredner-Puppe im unpassendsten Moment ins Geschehen einmischt (irgendwas wie „zorniger Zoll, zorniger Zoll – wer so textet, der trägt sicher auch rosa Spitzenunterwäsche“)… War nicht so, und wir wissen nicht, ob das am Originaltext liegt oder an der Regie/Dramaturgie.
Wie auch immer, der Applaus dauerte lange und war begeistert, und als solcher hochverdient.
H & P Huber