WIEN / Staatsoper: HÄNSEL UND GRETEL — Märchen für kleine und große Kinder
Engelbert Humperdinck: »Händel und Gretel«
- Vorstellung in der Inszenierung von Adrian Noble am 23.11.2015
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Janina Baechle und Adrian Eröd. Foto: Barbara Zeininger
Mit der Neuproduktion von Engelbert Humperdinck bekanntester Oper geht Direktor Dominique Meyer den angekündigten Weg der Repertoire-Erweiterung weiter: In den kommenden Jahren wird die Wiener Staatsoper ihrem jüngeren Publikum um die Weihnachtszeit nicht nur Ballettvorstellungen wie Der Nussknacker oder La fille mal gardée anbieten, sondern auch das Versprechen von »richtiger« Oper im großen Haus einlösen können.
Einwände dagegen werden nur jene vorbringen, die ihr Kindsein unwiderruflich hinter sich gelassen haben. Sie sind bedauernswert, denn nach eingehendem Studium des Klavierauszugs müßten sie zum Schluss kommen, dass Hänsel und Gretel eine ebenso vollwertige Oper ist wie z.B. Linda di Chamounix — allerdings mit dem unbestreitbaren Vorteil, nicht nur für eine Diva angesetzt worden zu sein und in jedem Fall über die Jahre mehr Publikumsinteresse hervorzurufen.
Regisseur Adrian Noble und sein Team (Ausstattung: Anthony Ward, Licht: Jean Salman, Video-Projektionen: Andrzej Goulding) entführten die Wiener Opernfreunde nach einer während der Ouverture ablaufenden Pantomime in die Märchenwelt, welche, bar aller Putzigkeit, eine eigentlich doch grässliche ist: eine hungernde Familie, häusliche Gewalt, eine vielfache Mörderin… — Märchen waren auch schon zu den Zeiten der Gebrüder Grimm nicht für Kinder gedacht. Adrian Noble erzählt die Geschichte abwechslungsreich und mit dem geschulten Blick des Theatermannes, aufregend, humorvoll und mitreißend. Wie dem Engländer auch sehr berührende Szenen gelingen (etwas im Finale des zweiten Bildes) und er die Sänger von der ersten bis zur letzten Szene zu engagiertem Spiel zu animieren weiß, gehört zu den Geheimnissen der Großen ihres Faches.
Adrian Eröd feierte in der zweiten Vorstellung seine Première als Peter Besenbinder, nachdem er die Partie am Donnerstag krankheitshalber Clemens Unterreiner überlassen musste. Sein Bariton klang warm und rund, während er vom Kümmel sang und vom Erfolg in der Stadt. Und wenn man ihm die Szene des seiner Frau Gertrud gegenüber gewalttätigen Mannes nicht ganz abnahm, dann sind nicht zuletzt seine sängerischen Qualitäten daran schuld.
Als Gertrud, seine Frau, war Janina Baechle zu erleben. So sympathisch einem Frau Baechle im Interview mit Peter Skorepa auch wurde, auf der Bühne zählt neben der schauspielerischen Leistung leider auch die sängerische. Erstere gelang überzeugend, wie sie niedergeschlagen über dem zerbrochenen Krug (der diesmal bis zum Ende erstaunlich ganz blieb) die Not beweinte, letztere leider nicht ganz. Da weiß der Opernfreund spätestens nach dem Griff in den heimischen Plattenschrank, dass man diese Partie auch anders singen kann.
Annika Gerhards, sei Beginn der Saison 2013/2014 Ensemble-Mitglied im Haus am Ring, enttäuschte sowohl als Sandmännchen als auch als Taumännchen mit flacher Stimme. Ihre trägt den Klang nicht, besonders in der Tiefe — etwa beim d‘ der Sandmännchen-Szene. Wie man diese Partien ohne jedes Legato singen kann, bleibt ein Rätsel. Vielleicht war die in früheren Zeiten geübte Praxis, in der Provinz zu lernen und erst dann, wenn man sich bewiesen hatte, an ein großes Haus engagiert zu werden, doch die bessere?
Michaela Schuster hatte als Knusperhexe die undankbare Aufgabe, überzeugend böse zu spielen und trotzdem einnehmend zu singen. Humperdinck schickt ja die Sängerin dieser Partie mit vielen größeren Intervallsprüngen auf eine mehr harmonische denn melodische Achterbahnfahrt — auch, was das Tempo betrifft. Die Hexe darf, nein muss nicht nur mit dem Publikum, sondern auch mit ihrer Stimmfarbe spielen. Michaela Schuster (mit Margerite im Haar und blutbefleckter Schürze) gelang dies gestern abend überzeugend. Wer die Sängerin aus anderen Partien kennt, weiß ohnehin um ihre Vorzüge.
Daniela Sindram war Hänsel in jeder Sekunde, die sie auf der Bühne stand. Dabei war die schauspielerische Leistung der gesanglichen ebenbürtig: Mit bis auf wenige Phrasen ruhig geführter Stimme bot sie die zweitbeste Sängerleistung des Abends.
Ileana Toncas Gretel fiel nur im Gesanglichen gegenüber Daniela Sindram ab: Auch ihr nimmt man die Gretel von der ersten bis zur letzten Szene ab. Köstlich, wie sie Hänsel das Tanzen lehrt oder selbst nach der Knusperhexe Wacholderstab tanzen muss! Leider hatte die Rumänin das eine oder andere Mal Mühe, über dem von Christian Thielemann achtsam geführten Orchester hörbar zu bleiben. Ein bisschen kerniger könnte manche Phrase, zumal in einer Premièren-Serie, schon klingen.
Die Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper waren wie die Studierenden der Ballettakademie mit Eifer bei der Sache. Ob in der Traumszene oder beim »Erweckungschor« der Kuchenkinder, der seine Anklänge an das deutsche Volksliedgut gar nicht verbergen will, die jungen Stimmen klangen gut studiert.
Eine Rechtfertigung — wenn es denn einer bedürfte —, Hänsel und Gretel ins Repertoire aufzunehmen, erfuhr der Abend allerdings durch die Damen und Herren im Graben: Christian Thielemann zerstreute schon in der Ouverture jeden Zweifel an der musikalischen Qualität dieses Werkes. Da mußte er sich gar nicht auf Richard Strauss berufen, der nicht nur die Uraufführung am 23. Dezember 1893 am Hoftheater in Weimar geleitet hatte, sondern auch bei der Neuproduktion 1922 am Pult des Wiener Staatsopernorchesters gestanden war.
Der Chefdirigent der Staatskapelle Dresden forderte und lockte, und das Orchester mit Rainer Honeck am Konzertmeisterpult gab bereitwillig: Auch den Zwischenspielen eignete ein hoher Suchtfaktor, ebenso dem berührenden Abendsegen mit der das zweiten Bild beschließenden Traumerzählung oder dem »Knusperwalzer«. Wie rauschte da das Orchester auf, wie fein hörte man die Motive gegeneinandergestellt! Wer wollte, konnte also in der Musik nicht nur in der Instrumentierung, sondern auch in der Melodiegestaltung Anklänge an Richard Wagner, Humperdincks großes Idol, heraushören: Lohengrin, Tannhäuser und Die Meistersinger von Nürnberg ließen grüßen.
Nach langen Jahren kehrte Hänsel und Gretel an den Opernring zurück. In Hinkunft werden die Großeltern in der Weihnachtszeit die Qual der Wahl haben zwischen der Produktion in der Volksoper und jener in der Staatsoper. Aber Gottseidank haben die meisten Kinder ja mehrere Großeltern.
Thomas Prochazka
MERKEROnline