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BIEL: MARIA DI BUENOS AIRES –„Tango-Operita“. Premiere

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MARIA DE BUENOS AIRES – Theater Biel, 11.Dezember 2015 (Premiere)

Buenos Aires an der Aare

Der Tango, in den Hafen- und Armenvierteln der Großräume von Montevideo und Buenos Aires in einem Milieu von Arbeitslosigkeit, Kleinkriminalität und Prostitution entstanden, gehört seit September 2009 zum „Immateriellen Kulturerbe der Menschheit der UNESCO“. Wobei jene Tänze, die als Tango in unseren Tanzschulen gelehrt und bei Turnieren getanzt werden, mit dem ursprünglichen Tango nicht mehr viel gemeinsam haben. Zu sehr hat sich diese Musik seit ihrer Entstehungszeit im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts weiter entwickelt und wurde teilweise auch in die nationalen Musikströme übernommen. Obwohl von der Oberschicht abgelehnt, erfreute sich der Tango in weiten Kreisen der Bevölkerung großer Beliebtheit. Zu seiner Verbreitung trug Anfang des 20.Jahrhunderts zweifellos auch das neue Medium Schallplatte bei. Seine Blütezeit erlebte der Tango in den Jahren zwischen 1935 und 1955; dieser Zeitraum wird auch als das „Goldene Zeitalter“ bezeichnet. Mit dem Sturz der Regierung Perón, die den Tango und die großen Tango-Orchester gefördert hatte, begann das vorläufige Ende dieses nationalen Musikstils.

Der 1921 in Mar del Plata geborene Astor Piazzolla kam bereits mit 17 Jahren als Bandoneonist (das Bandoneon ist ein unserer Ziehharmonika verwandtes Instrument) in das berühmte Orchester von Aníbal Troilo, das er 1944 wieder verließ. Ab 1940 hatte er bei Alberto Ginastera Kompositionsunterricht genommen, so dass er neben seiner solistischen Tätigkeit auch als Arrangeur wirken konnte, ehe er 1946 sein erstes eigenes Orchester gründete. 1954 erhielt Piazzolla ein Stipendium für einen Studienaufenthalt n Europa. Er ging nach Paris, um bei Nadia Boulanger Komposition zu studieren. Diese sah in seinen Kompositionen zwar starke Einflüsse anderer Komponisten, aber keine eigene Linie. Nachdem Piazzolla ihr einen Tango vorgespielt hatte, war ihr klar, dass das seine Musik war und sie konnte ihn davon auch überzeugen. 1955 kehrte er nach Argentinien zurück, gründete ein neues Ensemble und suchte eine Neuinterpretation des Tango. Der „Tango Nuevo“ entstand.

Im Laufe seines Lebens, Astor Piazzolla starb 1992 in Buenos Aires, komponierte er mehr als 300 Tangos und die Musik zu nahezu 50 Filmen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob sein Name heute trotzdem weit über einen begrenzten Kreis von Musikwissenschaftlern und Tangoexperten hinaus bekannt wäre, hätte sich nicht der Geiger Gidon Kremer der Musik angenommen und sie in entsprechender Bearbeitung in sein Repertoire aufgenommen und auch Milva immer wieder Tangos von Piazzolla in ihren Programmen gesungen.

Das gilt in gewissem Maße auch für „Maria de Buenos Aires“, die Kremer 1998 mit der Kamerata Baltica (und dem Librettisten Horacio Ferrer – er war schon bei der Uraufführung dabei – in der Sprechrolle des El Duende) aufgenommen und Milva in Ausschnitten in einem eigenen Programm präsentiert hat. Piazzolla selbst hat das Werk als „Tango Operita“ bezeichnet; eine Oper im klassischen Sinn ist „Maria de Buenos Aires“ sicher nicht, auch keine Operette und auch nicht ein Musical. Ich würde das Stück einfach als Musiktheater bezeichnen. „Maria de Buenos Aires“ handelt vom Aufstieg und Fall einer Tänzerin, für die der Tango mehr ist als eine bloße Folge von Tanzschritten. Es ist der Tango, der es der Tänzerin ermöglicht, über sich selbst hinaus zu wachsen – und vor allem über die Verhältnisse, aus denen sie kommt. Der Tango ist es auch, der sie in Gefahr bringt, der sie aber schließlich erlöst und unsterblich werden lässt (zitiert aus der Ankündigung des Theater Biel Solothurn). Die Uraufführung fand am 8.Mai 1968 in Buenos Aires mit einem Orchester von elf Musikern statt. Der umjubelten Premiere folgten 120 Aufführungen. Trotz dieses Erfolges konnte sich das Werk wohl wegen des Lokalkolorites auf den Bühnen der Welt nur bedingt durchsetzen; im deutschsprachigen Raum kam es erst 1999 in Kiel zur ersten Aufführung.

Jetzt hat sich das Theater Biel Solothurn des Stückes angenommen – gesungen wird in der Originalsprache; es gibt Übertitel in Deutsch und Französisch – und dafür Olivier Tambosi als Regisseur gewinnen können. Das eineinhalbstündige Opus umfasst 16 in einem losen Zusammenhang stehende Musikstücke – man könnte sie als eine Art (Lied)zyklus bezeichnen, von denen vier rein orchestral sind. Aus einer Art Leitmotivtechnik ergibt sich ein verbindender musikalischer Überbau. Darauf aufbauend und nicht zuletzt wegen der oft verwirrenden Texte von Horacio Ferrer (Piazzolla soll über das Libretto gesagt haben, dass er den Sinn der Texte selbst nicht versteht) zeigt Tambosi keine Tangoshow, sondern versucht umzusetzen, was zwischen den Zeilen steht. Gemeinsam mit dem Dirigenten hat er sich auch im kleinen Theater von Biel als Hommage an die Uraufführung für die Verwendung von traditionellen Mikrofonen für Sänger wie für die Musiker entschieden. Dass Tambosi bei sparsamer Ausstattung spannendes Musiktheater zeigen kann, hat er zuletzt in der Volksoper mit „Der Mann von la Mancha“ unter Beweis gestellt. Mit „Maria de Buenos Aires“ toppt er diesen ausstattungsmäßigen Minimalismus noch. Und auch dafür kann er sich auf die Serie nach der Uraufführung berufen: nach einigen Aufführungen verschwanden die Bilder und Projektionen, denn „das Publikum soll nicht von der Musik abgelenkt werden“. So sitzt also in Biel das Orchester als integrierter Bestandteil der Inszenierung auf der Bühne, ein abgewetzter Fauteuil und ein überdimensionierter Kühlschrank, dem immer wieder Requisiten entnommen werden, bilden das gesamte Bühnenbild. Lediglich für das Finale wird der an Kitsch grenzende Pomp südlicher Kirchen – Marienstatue, Votiv- und Heiligenbilder (auch Diego Maradona ist auf einem Bild erkennbar), festliche Girlanden – zitiert.

Damit dieses Konzept aufgeht, bedarf es starker Persönlichkeiten in der Umsetzung. Den beiden Sängern (Maria und der Schatten Marias sind in der Regel eine Person; die Sprechrolle des Duende übernimmt in dieser Inszenierung ebenfalls die Sängerin der Maria) und den fünf Tänzerinnen, die auch den Sprechchor bilden, gelingt das überzeugend. Spannung entsteht aus der Personenführung und der Choreographie (Teresa Rotemberg); die Kostüme (Karen Petermann) pendeln zwischen zeitbezogen zitierend und Karikatur.  

Mit „Maria de Buenos Aires“ kehrt Christiane Boesiger an jenes Theater zurück, in dem sie seinerzeit ihre Bühnenlaufbahn als Gretel in „Hänsel und Gretel“ begonnen hat. Man kann die vor allem auch physische Leistung der Sängerin der Titelpartie nicht hoch genug schätzen. Bis auf wenige Minuten steht sie den ganzen Abend auf der Bühne und wechselt zwischen Sprache (El Duende)  und Gesang (Maria). Zwei Aspekte müssen aber besonders hervorgehoben werden: sie singt akzentfrei (worauf die in Argentinien geborene Choreographin ebenso wie der spanische Dirigent in einer Matinee am Tag der Premiere besonders hinweisen) und sie singt die Partie nicht „opernhaft“ (was etwa bei Musicals, die von Opernsängern interpretiert werden, immer wieder das Vergnügen trübt) sondern in einem Stil, den der Hörer von U-Musik mit südamerikanischen Künstlern im Ohr hat.

Absolut typengerecht ist auch die männliche Rolle, im Programmheft „El Hombre“ genannt, mit dem jungen Richard Bousquet besetzt. Langhaarig, mit halb geöffnetem Hemd gibt er optisch einen schmierigen Typ. Stimmlich lässt er einen geschmeidigen, lyrischen Tenor klingen. Und auch er singt weniger Oper, als Latinochanson.

Und nicht nur erwähnen muss der Premierenbesucher die fünf Tänzerinnen: Marie Alexis, Xenia Füger, Thais Martinez Fraga, Marcella Moret und Reut Nahum. Dass die Damen ihr Ballettmetier beherrschen, darf vorausgesetzt werden; nicht aber, dass sie auch einen wortdeutlichen Sprechchor bilden. Chapeau !

Die musikalische Leitung liegt in den Händen des jungen Spaniers Esteban Dominguez Gonzalvo, der in seiner Heimat das Tango-Quintett „La Zerilla“ gegründet hat und mit der Musik Astor Piazzollas bestens vertraut ist. Er dirigiert ein kleines Ensemble des Sinfonie Orchester Biel Solothurn (die Gitarristin und der Bandeonspieler sind Gäste) vom Klavier aus und führt die Musiker zu einem Klangbild, als hätte es im Grenzbereich der deutsch- und französischsprachigen Schweiz  nie andere Musik gegeben.

Das zu Beginn merklich irritierte Publikum wurde mit fortschreitendem Abend zunehmend applausfreudiger und feierte schließlich alle Mitwirkenden mit laustarkem Beifall und Bravo-Rufen. Wären Biel und Solothurn von Wien weniger weit entfernt, ich würde mir diese Produktion nochmals ansehen. Ein abschließender Wunsch, weil ja Weihnachten vor der Tür steht: vielleicht findet sich ein Kulturmanager, der „Maria de Buenos Aires“ als Gastspiel von der Aare an die Donau holt.

Michael Koling

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