Dortmund Opernhaus La Traviata – grosse Stimmen
Premiere 28. November 2015, besuchte Vorstellung 11. Dezember 2015
Photo: Thomas Jauk Stage Picture
Zeitgemässe Musiktheaterregie empfindet es häufig als zu spät, erst mit Beginn der Handlung Aktionen auf der Bühne zu zeigen, es muß noch die Ouvertüre bzw. das Vorspiel „bebildert“ werden! Bei der Inszenierung im Opernhaus Dortmund von Giuseppi Verdis Oper „La Traviata“ auf den Text von F. M. Piave ging Regisseurin Tina Lanik noch etwas weiter zurück und ließ die Handlung bereits vor dem Vorspiel beginnen. Bekanntlich finanziert Violetta Valery ihr Luxusleben dadurch, daß sie sich von wohlhabenden Männern aushalten läßt. Hier sahen wir gerade so einen sie „nachher“ im Bett zurücklassen, er noch nackt, auch das gehört ja für eine ordentliche Regie heute dazu. Das minderte die musikalische Wirkung der „geteilten“ Violinen des folgenden Adagio-ppp-Beginns des Vorspiels, einfühlsam gespielt von den Dortmunder Philharmonikern unter Leitung von Motonori Kobayashi. Beim Orchestervorspiel blieb Violetta dann allein mit Bett und leeren Champagner-Flaschen zurück, ein Zeichen ihrer Einsamkeit, die eigentlich szenisch erst zu Beginn des dritten Aktes zu derselben Musik auf der Bühne vorgesehen ist.
Photo: Thomas Jauk Stage Picture
Auch ohne dieses – frei nach Goethe – „Vorspiel auf dem Theater“ hätte das Publikum vermutlich Violettas Einsamkeit als Preis für ihr Luxusleben nachvollziehen können, denn die Regie machte dies dann als Teil der gewohnten Darstellung der Handlung immer wieder deutlich. Beispielhaft sei erwähnt, wie die Festgesellschaft, fast nur in schwarz gekleidet, Kostüme etwa der Zeit der Handlung nachempfunden, die Damen in wenig erotischen Strapsen, (Kostüme Stefan Hageneier) die zusammengebrochene Violetta fotografierte oder sie auf dem Weg zum nächsten Fest einfach liegen ließ. Doktor Grenvil – mit markantem Baß Ian Sidden – behandelte nur gegen Vorkasse, ohne die ließ er Violetta leiden. Ganz unpassend versuchte Vater Germont im zweiten Akt Violetta zu vergewaltigen, völliger Gegensatz zum musikalisch und textlich dargestellen Charakter des treusorgenden Vaters, als der er sich fühlt. Die Spielkartenszene in der zweiten Hälfte des zweiten Aktes erinnerte an da Vincis Darstellung des Abendmahls, die auf der Tafel zusammengebrochene Violetta bedeckte Alfredo dort mit dem gewonnenen Geld – Spiel mit Geld und weiblichem Körper als Ersatzreligion – das kommt auch heute noch vor. Das Einheitsbühnenbild – auch von Stefan Hageneier – bestand aus einem die ganze Bühne umfassenden viereckigen Raum, im Laufe der Handlung immer ärmlicher aussehend und möbliert. Als Ballsaal von Flora – mit keckem Sopran Natascha Valentin – hinterliessen darin Zigeunerinnen und Stierkämpfer als Gruppe im Takt singend und klatschend einen läppischen Eindruck.
Dies alles erschien nebensächlich angesichts der sängerischen Gestaltung der drei Hauptpartien – deren Darsteller in heutiger Kleidung. Grandios erfüllte Eleonore Marguerre alle Erwartungen, die man an die Sängerin der Titelpartie stellt. Brillant glänzte sie beim „Sempre libera“ mit Trillern, perlenden Koloraturen, mit pp beim „croce delizia“, dann mit strahlenden Spitzentönen. Mindestens ebenso bewundernswert war, wie sie im zweiten Akt ganz „cantabile“ im p-legato ihre Bereitschaft zum Verzicht auf Alfreds Liebe „Dite alla giovine“ gestaltete, schliessend ganz leise mit von Verdi gewollter dünner Stimme (un fil de voce). Ganz gegenteilig überstrahlte ihre Stimme dann mühelos
das Finale des zweiten Aktes und blühte nochmals auf mit ergreifenden Legato-Bögen im letzten Akt. Auch dank ihrer attraktiven Figur ließ sie uns ergreifend nachempfinden den Niedergang von der sich zur Fröhlichkeit zwingenden Kurtisane über das kurze Liebesglück bis zum Zusammenbruch verursacht durch das Scheitern ihrer einzigen wahren Liebe und das auch daraus verursachte Sterben
Krankheitsbedingt mußte Lucian Krasznec für die Premiere als Alfredo absagen, nun war er hörbar genesen. Beim Trinklied „Libiamo..“ beeindruckte die flexible Stimmführung (leggierissimo) sowie der Wechsel vom forte zum p im jeweils zweiten Vers des Strophenlieds. Tenoralen Glanz zeigte er bei seiner Arie im zweiten Akt mit brillanter Stretta bis zu hohen Spitzentönen. Gekonnt spielte er den unreifen Jüngling, der sich wohl leicht in die in seinen Augen allgemein begehrte Frau verliebte. Passend dazu hatte er aus Roxys „Wunderteam“ noch einen Fußball mitgebracht, für sein Fehlverhalten im dritten Akt kassierte er als noch immer „ungezogener Junge“ vom Vater eine Ohrfeige.
.Diesen Vater Giorgio Germont sang Sangmin Lee ganz sensationell mit in tieferen und hohen Lagen gleichermassen präsentem Bariton. Im zweiten Akt variierte er die Stimmfärbung von herrscherischer Überheblichkeit zu Beginn bis zum mitleidig – samtenen „Piangi“gegenüber Violetta, gefolgt von expressivem an Alfredo gerichtetem Heimatlob. Mit ganz mächtiger Stimme warf er dann diesem seinen Mangel an Selbstbeherrschung vor.
Diese drei Sänger liessen die Ensembles zu musikalischen Hochgenüssen werden. Auch die kleineren Gesangspartien waren passend besetzt, Marvin Zobel als schmieriger Baron Douphol, Morgan Moody als Marquis d´Obigny und Xiaoke Hu als Gaston. Mitfühlend klang der Mezzosopran von Christine Groeneveld als Zofe Annina. Der Opernchor in der Einstudierung von Manuel Pujol erfüllte seine Aufgaben zuverlässig.
Mit den Dortmunder Philharmonikern sorgte Motonori Kobayashi für gefühlvolle aber nicht sentimentale sowie exakte Begleitung der Sänger und des Bühnengeschehens. Er bevorzugte lyrisch ausgewogene Tempi, manchmal hätte man sich etwas mehr italienische Attacke gewünscht, etwa im zweiten Finale, wo Verdi immerhin nach anfänglichem „brillante“ „velocissimo“, also so schnell wie möglich, vorschreibt. Sehr schön klangen die wenigen instrumentalen Soli, etwa die der Klarinette zur Begleitung Violettas im ersten Akt, die der Soloviolinen, als sie im dritten Akt Alfredos Brief liest, oder später der Oboe bei „Addio del passato“
Unter dem Publikum im gut besetzten Opernhaus füllten Jugendliche den gesamten hinteren Teil des Parketts. Zum Schluß der Pause – erst nach dem Finale des zweiten Akts – sah man sie Selfies aufnehmen mit dem Zuschauerraum als Hintergrund. Während der Vorstellung hörte man von ihnen nichts, nachher applaudierten sie spontan ebenso wie ältere Besucher mit Bravos und Pfiffen besonders für die Sänger der Hauptpartien als Dank für diesen vor allem musikalisch sehr gelungenen Abend.
Sigi Brockmann 12. November 2015