„Peter Pan“ mit der Jungen Oper im Staatstheater Stuttgart. DAS KROKODIL SCHNAPPT NACH MENSCHENFLEISCH
„Peter Pan“ als Wiederaufnahme der Jungen Oper in der Staatsoper am 13. Dezember 2015/STUTTGART
Als Auftragswerk der Oper Stuttgart und der Komischen Oper Berlin ist die Oper „Peter Pan“ von Richard Ayres wieder im Spielplan. Frank Hilbrichs fantasievolle Regie betont den märchenhaften Faden des Geschehens. Vater, Mutter Wendy, John, Michael und Nana, der Hund, sind scheinbar eine ganz gewöhnliche Familie. Doch es gerät alles in heftiger Weise durcheinander. Nana übernachtet in der Hundehütte, dadurch fliegt Peter Pan zum Fenster hinein und man sieht einen Sternenhimmel. Er bringt Wendy, John und Michael das Fliegen bei und nimmt sie mit nach Nimmerland zu den verlorenen Jungs. Alle fliegen plötzlich aus dem beengten Haus und stürzen geradezu ins Weltall hinein. Bühne und Kostüme von Duncan Hayler beschreiben diese unglaubliche Zeitreise als einen gewaltigen Strudel im Universum, der die gesamte „Familie“ mitreisst. Dort kann man dann mit Elfen spielen und mit Piraten kämpfen. Allerdings werden die Protagonisten nie erwachsen. Und wer allzu lange in Nimmerland lebt, vergisst wie Peter Pan, dass er je woanders gelebt hat. Ein großes Krokodil und eine riesige Biene bedrohen die Mannschaft, die in teilweise panischer Weise vor den Ungeheuern flüchtet. Das sind skurrile Einfälle der Regie. Mr. und Mrs. Darling stehen als frisch verheiratetes Paar vor ihrem neuen Haus, was die schwungvolle Ouvertüre ausführlich beschreibt. Allerdings hat das Kinderzimmer in der ersten Szenen einen geheimnisvollen Schatten bekommen. Und im rasanten Zwischenspiel jagt Nana eine wilde Wespe. In der zweiten Szene regt sich Mr. Darling dann fürchterlich über seine Krawatte auf, die sich nicht binden lässt. Mrs. Darling erzählt ihrem Mann von dem fremden Eindringling. Beim „Lied der Sterne“ kommt es dann zu wunderbar poetischen Szenen, denn die Sterne sehen offensichtlich alles. In der dritten Szene verführt Peter Pan Wendy und ihre Brüder zum Flug in die Freiheit. Während des Fluges kommt ein ungeheurer Sturm auf, den Frank Hilbrichs Regie in grandioser Weise einfängt. Nach der Ankunft auf der Insel beschäftigt sich Peter Pan intensiv mit den „verlorenen Jungs“. Die Piraten Smee und Starkey fangen den „Lost Boy“ Nibs. Wendy versucht ihnen Manieren beizubringen. Dann greifen Peter Pan und Tiger Lily in einem großen Kampf die Piraten an, die Wendy und die Jungs kurzerhand kidnappen. Tinkerbell berichtet Peter vom Schachzug des Piratenkapitäns Hook. Das ostinate Ticken der Uhr wird immer stärker, die das Krokodil ausspuckt. Zuletzt sieht man den riesigen Rachen des Krokodils, der sich plötzlich ganz weit öffnet und die ganze Piratenbande verschlingt.
Das ist überhaupt der beste Einfall in Frank Hilbrichs subtiler Regie (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Geertje Boeden; „Fight Choreography“: Rainer Janson). Für die Dramaturgie ist bei dieser Produktion Barbara Tacchini verantwortlich, die auch in das Werk einführte. Im letzten Teil sieht man Mr. Darling, der seit dem Unglückstag im Hundehaus schläft. Seine Frau wittert Gefahr und schließt die Tür. Szenisch bietet diese für Kinder bestens geeignete Inszenierung großartige optische Überraschungen, die sich immer mehr verdichten. Und musikalisch arbeitet der umsichtige Dirigent Willem Wentzel die Anklänge an Philip Glass oder Paul Hindemith mit nie nachlassender Akribie heraus. Pizzicato-Akzente stechen hier genauso reizvoll hervor wie charakteristische Leitmotive. Man meint das Löwegebrüll und die feinen Geräusche des Schmirgelpapiers mit Hilfe eines großen Percussion-Apparates herauszuhören. Dass die Kinder, Piraten und „Lost Boys“ die Rollen der Eltern und der Gesellschaft spielen, kommt in der aufwühlenden Musik des Briten Richard Ayres bei dieser Wiedergabe gut zum Vorschein. Obwohl die Atonalität fehlt, fallen filmschnittartige und polyrhythmische Strukturen deutlich auf. Die Steuerung der Instrumente wird von sehr hohen und sehr tiefen Lagen beherrscht – dies gilt für die seltene Kontrabassposaune und die filigran eingesetzten Piccoloflöten. Die „Lost Boys“ werden von Blechblasinstrumenten begleitet und die Piraten melden sich mit Hilfe von Streicher- und Harfenbegleitung. Diese Feinheiten arbeitete Willem Wentzel mit dem Staatsorchester Stuttgart sehr überzeugend heraus. Die Damen des Staatsopernchores Stuttgart fügten sich sehr gut in den orchestralen Klangteppich ein. Und die Herren des Staatsopernchores und der Kinderchor unter der Leitung von Christoph Heil huldigten klangstark den „Lost Boys“.
Iestyn Morris gefiel als wandlungsfähiger Countertenor in der schwierigen Rolle des Peter Pan, der oftmals in der Luft hängt. Die Arabesken und Kaskaden sprudelten trotzdem nur so hervor. Irma Mihelic agierte mit geschmeidigem Timbre als Wendy Darling, während Ashley Holland als Mr. Darling und Captain Hook sonores Profil gewann. Hilke Andersen zeigte als Mrs. Darling gesangliche Wandlungsfähigkeit, während Daniel Kluge als John Darling auch leiseren Zwischentönen Gehör schenkte. Esther Dierkes als Michael Darling, David Steffens als Hund Nana und Pirat Starkey, Ian Jose Ramirez als Pirat Smee sowie Idunnu Münch als Tiger Lily gewannen bei der Aufführung eine immer größere Intonationsreinheit. Als Nibs gefiel ferner Ruben Mora, Klaus Kächele mimte virtuos Tootles, Matthias Nenner und Heiko Schulz zeigten als Zwillinge Slightly und Curly eine gute Leistung. Fabiola Ludyga und Ezra Bristow stellten ausdrucksstark die Piraten dar.
Ein besonderer Genuss war die von Piccoloflöten, Glockenspiel und hohem Akkordeon facettenreich begleitete Elfe Tinkerbell in der gelungenen Darstellung von Horacio Peralta. Julika Becker spielte das kleine und Daniel Gäfgen furchterregend das große Krokodil.
Riesenapplaus.
Alexander Walther