Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky im Schauspiel Stuttgart Nord
HOCHVERRAT AM PRÄDIKAT
„Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky am 22. Januar 2016 im Schauspiel Nord/STUTTGART
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Svenja Liesau, Anja Schneider. Copyright: Julian Marbach
Armin Petras hat die Bühnenfassung von Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“ geschickt aufbereitet. Die von Anja Schneider als Erzählerin und Lehrerin Inge Lohmark dargestellte Hauptfigur will sich hier um jeden Preis anpassen. Sie unterrichtet seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Die fast leere Bühne wird von einer großen Tafel geschmückt, auf der die Lehrerin ihre abstrusen Ansichten über Charles Darwin zum besten gibt (Ausstattung: Annette Riedel, Natascha von Steiger; Video: Rebecca Riedel; Dramaturgie: Sibylle Dudek). Mit ihren Einstellungen und Methoden ist sie jedoch im Lauf der Jahre selbst zum Auslaufmodell geworden. Was sie den Schülern sagt, wird gemacht. Man erfährt, dass in der Natur alles seinen Platz hat. Und das Klassenzimmer wird zum Treibhaus. Beim Hochverrat am Prädikat versteht Inge Lohmark aber keinen Spaß. Da triezt sie ihre Schüler bis aufs Blut, geisselt deren Unzurechnungsfähigkeit und Faulheit. Dadurch gerät der Bio-Rhythmus der Schule in erheblicher Weise durcheinander. Gymnasiasten müssen zurück auf die Realschule – es kommt zu einer regelrechten Biologie-Allergie. Frau Lohmark ist sich sicher, dass es sich nicht lohnt, die Schwachen mitzuschleifen: „Je später man einen Versager los wird, desto gefährlicher wird er„.
Der schlimmen Zeit der gymnasialen Oberstufe hat aber auch sie wenig entgegenzusetzen, was Anja Schneider als frustrierte Lehrerin sehr schön zum Ausdruck bringt. Armin Petras beweist hier bei der Personenführung zudem feinnerviges Fingerspitzengefühl. Inge Lohmark doziert über plumpes Erproben der Partnerwahl und regt sich über die „aufgedonnerten Gören“ auf, die angeblich ein Gehirn wie ein Hohlorgan besitzen. Immer wieder vernimmt man die schrille Schulklingel zwischen Videofilmen, die Inge Lohmarks tristen Schulalltag dokumentieren. Ihr Lehrerinnen-Dasein kommt allerdings erheblich durcheinander, als sie für die von Svenja Liesau glaubwürdig-trotzig dargestellte Schülerin Erika lesbische Gefühle entwickelt. Darüber hinaus regt sie sich über den „Knilch von Schulrat“ auf, der ihr als „Klugscheißer“ gehörig auf die Nerven geht. In der Sporthalle pflegt Inge Lohmark dann den rohen Kasernenhofton und schikaniert ihre Schüler mit der Trillerpfeife ordentlich herum: „Stillgestanden! Brust raus, Po rein!„
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Svenja Liesau. Copyright: Julian Marbach
Die Schülerin Erika wird schließlich sauer und begehrt heftig gegen die Lehrerin auf, schreibt „Alte Votze“ an die Tafel. Zuletzt erfährt man, dass die Lehrerin ihrer Aufsichtspflicht offensichtlich doch nicht optimal nachgekommen ist. Der Schulleiter hält ihr im Film eine Strafpredigt, eine Schülerin wurde im Jungen-Klo systematisch schikaniert und misshandelt: „Wie lange geht das schon so?!“ Das vergiftete Klima in der Klasse ist nicht mehr zu leugnen. Anja Schneider vermag diesen schwierigen inneren Wandlungsprozess der mit ihrem Beruf zutiefst unglücklichen und überforderten Lehrerin gut zu verdeutlichen. Auch die enormen Spannungen zwischen ihr und der Schülerin Erika gelingen Anja Schneider zusammen mit Svenja Liesau für die Zuschauer berührend und eindringlich zugleich. Das Geschehen in der 9. Klasse entwickelt sich so zum beklemmenden Psycho-Drama, weil Inge Lohmark ihre krankhafte Hassliebe für die Jugendlichen nicht verleugnen und verbergen kann. Mit dem Flirt Erikas mit einem Jungen wird Inge Lohmark in Armin Petras‘ spannungsvoller Inszenierung genauso wenig fertig wie mit dem Skelett der Giraffe als Projektion an der Rückwand des Saals. „Wer den langen Hals hat, überlebt am längsten„, schreibt ihr die Schülerin Erika i recht boshaft ins Stammbuch.
Gelegentlich hätte man die theatralischen Spannungsmomente vielleicht auch noch plastischer zum Ausdruck bringen können. Dennoch hinterlässt diese Aufführung einen starken Eindruck, weil sie deutlich macht, wie wenig das Schulsystem in seiner jetzigen Form taugt.
Alexander Walther