Chemnitz: „WERTHER“ am 13. 3.2016
Und wieder einmal gebührt Christoph Dittrich, dem sich emsig auf die Suche nach in Chemnitz noch nicht gebotenen Werken begebenden Intendanten Dank, setzte er doch knapp 125 Jahre nach dessen Uraufführung Massenets „Werther“ erstmals auf den Spielplan der hiesigen Oper.
Anthony Pilavachi heißt der Regisseur, der im Verein mit dem Gesamtausstatter Markus Meyer eine Inszenierung erarbeitete, deren unbestreitbarer Wert darin bestand, dass sie „der Kirche ihren Platz im Dorf“ nicht streitig machte. Offenbaren die Kostüme noch eine gewisse Tendenz zum Hier und Heute, verweigert sich die Regie konsequent allen modischen Unarten, erzählt die Geschichte geradlinig und eloquent bis zu deren bitterem Ende, wobei sich Pilavachi geschickt manch kritischen Seitenhieb auf die Kluft zwischen Schein und Sein bürgerlicher Moralvorstellungen erlaubt. So konfrontiert er Werther zu Beginn mit einer bühnenhohen Mauer, Sinnbild eines bourgeoisen, für den jungen Mann nie zu überwältigenden Schutzwalls. Hier ist Scheitern vorprogrammiert. Und wenn die Trunkenbolde Johann und Schmidt der bedauernswerten Sophie brutal an die Wäsche gehen, entzieht der Regisseur der Szene rigoros jegliches buffoneske Gepräge. In solchem Umfeld hat der Schöngeist Werther nichts zu bestellen. In krassem Kontrast hierzu entwirft Meyer ein bürgerlichen Wohlstand verinnerlichendes Bühnenbild, ein wahres Puppenheim für Charlotte, dessen hernach umgestoßene Stühle das aus den Fugen geratene Innere dieser Frau symbolisieren. Zum Finale der Oper fährt der Ausstatter dieses trügerische Idyll in Richtung Brandmauer. Auf der leergefegten Szene begraben vom Schnürboden herabregnende Briefe und Schriftstücke des verkannten Autors den Todgeweihten unter sich – eine ebenso schlichte wie beeindruckende Lösung.
Leider stand für die Hauptpartie mit Timothy Richards ein Künstler zur Verfügung, der deren immensen darstellerischen und stimmlichen Ansprüchen nur partiell gerecht wurde. Diesem partiellen Teil rechne ich das anerkennenswerte Durchstehvermögen zu, das den nicht zu unterschätzenden vokalen Anforderungen kaum den Tribut verweigerte und selbst die mitunter ungebremst aufschäumenden Klangwogen der von Felix Bender geleiteten Robert-Schumann-Philharmonie mit nimmermüdem Forte konterte. Doch damit wurde nicht einmal die Hälfte der zu erbringenden Miete beglichen. Freilich gab es schon immer Tenöre, um nur Julius Patzak oder Peter Pears zu erwähnen, deren Timbre man als gewöhnungsbedürftig bezeichnen könnte. Andererseits steht außer Frage, zu welch außergewöhnlichen Leistungen diese beiden Sänger, sei es in der Oper oder im Konzertsaal, dank ihres phänomenalen Könnens fähig waren. Richards‘ Stimmfarbe möchte ich in die Kategorie „weißer Tenor“ einordnen. Diesen Sachverhalt einem Interpreten anzulasten, wäre unfair, weil er dafür nichts kann. Wenn er es aber nicht versteht, mit dem ihm nun einmal verliehenen Instrument die Emotionen der jeweiligen Figur berührend zu vermitteln, dann bedeutet dieser Umstand doch ein beträchtliches Defizit. Und in diesem Zusammenhang sang der Brite den Werther vor allem mit dem Kopf, das Herz schwieg sich dabei weitestgehend aus. Auch darstellerisch schien er eher Hans Mayers schlaue Frage, ob Werther seine Charlotte oder vielmehr in ihr vor allem die Unerfüllbarkeit solcher Liebe, den Untergang, den Tod liebe, in letztgenanntem Sinn zu beantworten. Mithin stellte sich der Verdacht ein, Werthers Einfluss auf Charlotte resultiere vorrangig aus seiner poetischen Potenz. Diesen Gedanken verstärkte zudem Andreas Beinhauer als stattlicher, liebesfähiger Albert, den als einen Mann von Saft und Kraft keineswegs sozialer Dünkel, allenfalls nachvollziehbare Eifersucht zu einer ihm nicht wesenseigenen Kälte verleidet. Das neu verpflichtete Chemnitzer Ensemblemitglied gefiel mit diffizil eingebrachten darstellerischen Nuancen, die jegliches Karikieren ausschlossen, und einem klangschön eingesetzten lyrischen Bariton.
Als Charlotte war Maria Hilmes eingesprungen, bei deren erfüllter Wiedergabe man annehmen konnte, sie sei vom ersten Tage an in den Probenprozess eingebunden gewesen. Hier blieben keine Wünsche offen. Wie dieser Gast Charlottes Konflikt zwischen Neigung und Pflicht mit wunderbar
berührenden Facetten anreicherte und darüber hinaus ihren in allen Lagen ebenmäßig geführten Mezzo eine vokal erstklassige Leistung abgewann, war aller Ehren wert. Seit ihrer Ghita in Zemlinskys „Zwerg“ macht Franziska Krötenheerdt auf ihre gereifte künstlerische Potenz aufmerksam. Diesen Eindruck bestätigte einmal mehr ihre Sophie, die sie fernab anheimelnden Soubrettengehabes ansiedelte und somit die Entwicklung vom unbeschwerten jungen Mädchen zur gefühlsintensiven, mitfühlenden Frau nachhaltig verdeutlichte. Auf die kritische Anlage der Buffotypen Schmidt und Johann wurde bereits verwiesen. Edward Randall und Andreas Kindschuh boten in dieser Beziehung Mustergültiges, dem auch Matthias Winter (Amtmann) entsprach. Spielfreudig bewältigte die von Pietro Numico und Tom Bitterlich einstudierte Kinderschar ihre Aufgaben
Und erneut sorgte Felix Bender am Pult der Robert-Schumann-Philharmonie für eine leidenschaftlich musizierte Aufführung, der allerdings anzulasten wäre, dass dem Dirigenten gelegentlich doch die Pferde einigermaßen durchgingen und er mithin bezüglich Lautstärke die Solisten, abgesehen von Richards, in die Defensive drängte. Dergleichen lässt sich zum Glück bei weiteren Vorstellungen beheben.
Joachim Weise