LONDON/ DRESDEN/ Das Royal Opera House im Kino: „BORIS GODUNOW“ – 21. 3. 2016 Ufa Kristallpalast Dresden – St. Petersburger Straße
Von den verschiedenen Fassungen, die Modest Mussorgsky zu seiner Oper „Boris Godunow“ verfasste, entschied sich Regisseur Richard Jones bei seiner Inszenierung im Royal Opera House London für die Ursprünglichkeit des Originals, das Mussorgsky mit eigenem Libretto 1870 fertigstellte. Die kompakte „Urfassung“ in 7 Bildern vom Herrscheraufstieg und -fall nach Motiven der „Dramatischen Chronik vom Zaren Boris und Grischka Otrepjeff“ von A. S. Puschkin macht wenig Zugeständnisse an opernhafte Traditionen, zeigt aber die ursprüngliche Vorstellung des Komponisten von Puschkins literarischem Werk.
In seiner Inszenierung betont Jones immer wieder die Gewissenskonflikte des an die Macht gekommenen Boris, der 1598-1605 Zar und Großfürst von Russland war. Als Regent für den geistig zurückgebliebenen Sohn Fjodor I., Sohn Iwans IV. (des „Schrecklichen“), ergriff er nach dessen Tod als Usurpator die Macht in Russland, ließ sich von der damaligen Volksvertretung Semskij Sobor (fingiert?) zum Zaren wählen und schließlich krönen. Ihm wurde die Schuld am Mord des neunjährigen Dmitri, dem jüngsten Sohnes Iwans IV., des Thronfolgers, vorgeworfen, was jedoch historisch nicht bewiesen ist. In der Oper wird er als liebevoller Vater seiner eigenen Kinder dargestellt (obwohl oder vielleicht gerade deswegen?). Er wollte das Land gut regieren, was ihm zum Teil auch gelang, aber eine Hungersnot brachte Elend über das Volk, was als Sühne für die Ermordung des Zarensohnes gedeutet wurde und Machtbestrebungen wie die des „falschen Dmitri“ ließen ihn an Macht und Gewissen gleichermaßen zerbrechen. In wirren Zeiten verstarb er plötzlich an einem Schlaganfall.
Obwohl der Stoff viel Brisanz und pralles Leben bietet, bleibt die Inszenierung mit ihrer allzu konsequenten Abstraktion und Stilisierung und Anlehnung an die statische Bildhaftigkeit der Ikonen etwas fad. Jones begibt sich vorrangig in die Niederungen der menschlichen Psyche. Es fehlt an Dramatik. Daran kann auch das wenig sinnvolle, wenn auch wahrscheinlich symbolhaft gemeinte, ziel- und orientierungslose, unnatürliche Durch- und Gegeneinander-Wuseln der Volksmassen, der Bojaren-Duma usw. nichts ändern. Die Oper wird oft als „musikalisches Volksdrama“ bezeichnet, aber hier tritt das Volk sehr in den Hintergrund. Die Massenszenen werden eher wie untermalendes Beiwerk behandelt. Dennoch sang der Royal Opera Chorus (Einstudierung: Renato Balsadonna) auch bei diesen stereotypen Bewegungsabläufen sehr zuverlässig.
Für die Titelfigur schuf Mussorgsky einen der komplexesten Charaktere und bedeutendsten Baritonrollen der Opernliteratur. Für die Übernahme dieser Partie kehrte einer der besten und berühmtesten Sänger-Persönlichkeiten, Bryn Terfel, mit einem großartigen Rollendebüt an sein Stammhaus, das ROH, zurück und erneuerte seine kreative Zusammenarbeit mit Antonio Pappano.
Mit seinem suggestiven Gesang und seiner naturalistischen Rollengestaltung ist er in dieser Inszenierung der einzige Sängerdarstellung von wirklichem Fleisch und Blut. Er bewegt sich frei in dieser abstrahierenden und stilisierenden Regie bis in die äußerst naturalistisch dargestellte Sterbeszene, der sich langsam bis zum Wahnsinn aufbauende Gewissenskonflikte vorausgehen und gleichzeitig damit einhergehende Symptome eines Schlaganfalles sichtbar werden – eine sängerische und darstellerische Einheit, die man nicht so schnell vergisst.
Von ihm geht eine gewaltige Suggestivkraft aus. Man hängt an seinen Lippen, verfolgt jede seiner Gesten und ist berührt von dieser menschlichen Gestalt in all ihren nicht zu bewältigenden Konflikten einer getriebenen, nicht unsensiblen Seele, der er mit schlank gehaltener Stimme und zuweilen auch sehr leisen Tönen Ausdruck verleiht. Immer verwahrloster wird seine äußere Erscheinung, immer grauer und verwirrter sein Haar, auch äußerlich verfällt er immer mehr vom prunkvollen Krönungsornat bis zum „Büßer“-Outfit, das den Kreis zum Anfang schließt, wenn er über die schlichte Wäsche den Krönungsmantel legen lässt und schließlich, dessen wieder entledigt, in typisch unordentlichem Krankengewand stirbt.
Immer und immer wieder erscheint auf der oberen (gewölbten) „Galerie“ des einheitlichen Raumes, der mit nur wenigen Veränderungen zum Teil gute Lösungen zur Umsetzung des Stoffes und der historischen Zusammenhänge auf 2 Ebenen zulässt, aber über die ca. 2 Std. Spieldauer (ohne Pause) auch leicht ermüdend wirkt, der am unmündigen Thronfolger verübte Kindermord. Wie ein roter Faden zieht sich die Szene durch die gesamte Aufführung. Ein Kind mit bleicher Maske vor dem Gesicht spielt ahnungslos mit einem Kreisel, bis herannahende Schergen ihm die Kehle durchschneiden. Das belastet nicht nur Boris (weshalb ein Opernbesuch hier erst für Kinder ab 12 Jahren empfohlen wird!).
Außer für den Titelhelden gab es für alle „untergeordneten“ Personen, einschließlich Volk kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Sie waren an ein strenges Regiekonzept gebunden, das ihnen in seiner stark abstrahierenden und stilisierenden Sicht wenig Freiraum ließ und sie wie lebende Marionetten der Macht gefangen hielt. Sie konnten kaum individuelle Charaktere entfalten und wurden durch die eigenwillige Regie ausgebremst.
Am ehesten gelang es John Tomlinson als vagabundierendem Mönch Varlaam und Ain Anger als Mönch und Chronist Pimen mit ihrer profunden Stimme und gesanglichen Gestaltungskraft ihrer Rolle menschlichen Ausdruck zu verleihen und damit der einschränkenden Regie zu „entwachsen“. Auf seine Art gelang das auch John Graham-Hall, der es verstand, die Rolle des eigentlich listigen Prinzen Vasilij Ivanovic Sujskij in eine Balance zwischen der Regie und einer Charakterstudie eines typischen, halb unterwürfigen, halb auf seine eigene Person bedachten „Beamten“ umzumünzen.
Auf ganz andere Art belebte der junge Ben Knight mit schon sehr sicherer, erstaunlich schön klingender, kindlicher Sopranstimme und sensiblem Spiel die Szene. Er verkörperte durchaus glaubhaft und berührend den noch kindlichen Sohn Godunows, Fjodor. Die Rolle seiner älteren Schwester Xenia, die um ihren früh verstorbenen Verlobten trauert (und später ins Kloster geht) gestaltete Vlada Borovka jungmädchenhaft und mit gutem Gesang.
Mit jugendlichem Überschwang stürzte sich David Butt Philip auf die Rolle des Grigorij Otrepiev, der, im gleichen Jahr wie der ermordete Thronfolger Dmitri geboren, seine Chance sieht, als falscher Dmitri Zar zu werden und wie ein „Heißsporn“ auf sein Ziel losgeht. Im Focus der Kamera wirkte er in seiner Körperfülle noch karikierender als vielleicht vom Zuschauerraum aus. Hinsichtlich der gesanglichen Leistungen gab es aber keine Fehlbesetzungen. Alle Sänger erfüllten ihre Aufgaben sehr gut, sofern man das bei einer Live-Übertragung, bei der das Mikophon näher herangerückt werden kann, eindeutig beurteilen kann.
Bühne (Miriam Buether) und Kostüme (Nicky Gillibrand) waren nicht gewaltsam in die Gegenwart gezogen, wirkten aber dennoch seltsam verfremdet. Mit einer eigenartigen Naturfaser-„Reform“-Mode vergangener Zeiten (Anfang 20. Jh.?) und eigenwilliger, wenig typischer Farbigkeit verbreiteten sie nur bedingt etwas (pseudo-)russisches Kolorit.
Unter der Leitung von Antonio Pappano spielte das Orchestra of the Royal Oera House angemessen zurückhaltend, klangvoll differenzierend und sängerfreundlich. Es unterstützte die Sänger und ließ ihnen freie Entfaltungsmöglichkeit. Besonders feinsinnig wurde die Sterbeszene vom Orchester gestaltet, eine selten schöne Einheit zwischen dem großartigen Brynn Terfel und dem Orchester.
Ingrid Gerk