Theater an der Wien: AGRIPPINA 29.3. 2016
Patricia Bardon, Danielle de Niese. Copyright: Werner Kmetitsch
Bei der Titelheldin von Händels sechster Oper handelt es sich um Iulia Agrippina der Jüngeren (15/16-59). Sie war die Tochter des Germanicus und der älteren Agrippina. In erster Ehe war sie mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus verheiratet, mit dem sie den gemeinsamen Sohn Nero hatte. In dritter Ehe (nicht in zweiter, wie im Programmheft zu lesen!) heiratete sie schließlich im Jahre 49 ihren Onkel Kaiser Claudius. Obwohl Claudius einen eigenen Sohn namens Britannicus hatte, erklärte er dennoch Agrippinas Sohn aus ihrer ersten Ehe, Nero, im Jahr 50 zu seinem Nachfolger und verlieh Agrippina den Titel Augusta, was sie zur ersten römischen Kaiserin machte. Aus Dank für ihren Einsatz, Agrippina hatte 54 ihren Gatten vergiftet, ließ Nero dann seine Mutter im Jahre 59 ermorden.
Kardinal Vincenzo Grimani (1655-1710), der Librettist der Oper, die 1709 im Teatro San Giovanni Grisostomo, dem späteren Teatro Malibran, in Venedig uraufgeführt wurde, kannte als Vizekönig von Neapel das politische Ränkespiel seiner Zeit aus erster Hand. Demgemäß konnte er die Ereignisse am Hof von Kaiser Claudius, wie sie in Suetons „De vita Caesarum“ (5. Buch) und Tacitus‘ Annales (11.-12. Buch) beschrieben werden, zeitgemäß adaptieren. Die blutrünstigen Ereignisse gestaltete er aber mit seinem sicheren theatralischen Gespür zu einer Komödie um. Und Regisseur Robert Carsen folgte ihm auf diesem Weg nur allzu bereitwillig. Ausstatter Gideon Davey baute dafür die Fassade des monströsen faschistischen Palazzo della Civiltà Italiana nach, dessen sechs lotrechte und neun waagrechte Rundbögenarkaden dem Namen von Benito Mussolini entsprechen. In diesem Ambiente erscheint Kaiser Claudius als Parodie von Silvio Berlusconi mit dem noch heute an vielen Orten in Rom aufscheinenden Leitspruch „Senatus Populusque Romanus“, kurz SPQR (Senat und Volk von Rom). Und in dieser mondänen Welt darf auch ein Swimmingpool nicht fehlen, an dessen Beckenrand Liegestühle für die mondäne Schickeria Gesellschaft bereitstehen. Athletisch gebaute Beaux dürfen ihr work out und bodystyling samt Handstand und Taekwondo Fußtritten vollführen. In dieser julianisch-claudischen Familien Sitcom schmiedet Agrippina geschickt ihre Ränke und Poppea versucht sich ihrer Vereinnahmung zu entziehen. Söhnchen Nero hängt noch am Rockzipfel seiner Karrieremama und tritt in gestreiftem Pyjama auf. Er schaltet den Fernsehapparat ein und man sieht natürlich ein Fußballspiel, aber Agrippina macht ihm klar, dass es jetzt um seine politische Zukunft geht. Und zu diesem Zweck kann sie auch die beiden Sklaven ihres Gatten, Pallante und Narciso, mit ihren erotisierend lasziven Reizen gewinnen. Bereitwillig entblättern sich beide in ihren folgenden Arien bis zum schwarzen Slip. In den Gemächern Poppeas treffen dann die drei Politiker Claudio, Nerone und Ottone aufeinander. Und nun ist es an Poppea erstere, um ihrer Liebe zu Ottone willen, gegeneinander auszuspielen. Mittels Videoeinspielungen von Ian Galloway wird der Überwachungsapparat von Agrippina verdeutlicht und ebenso die Präsentation ihres Sohnes Nerone zum künftigen Caesar vorbereitet. Das Lichtkonzept für die einzelnen Szenen erstellte der Regisseur noch gemeinsam mit Peter van Praet.
Mika Kares. Copyright: Werner Kmetitsch
Das von Thomas Hengelbrock geleitete Balthasar Neumann Ensemble ließ einen geradezu schwungvollen Orchesterklang vernehmen, der zur eigenwilligen Komik dieser an sich tragischen Handlung in der Sichtweise von Regisseur Carsen vorzüglich passte. Die Irin Patricia Bardon war in der Titelrolle eine machtgeile, eiskalt berechnende Kaiserin mit ausdrucksstarkem, nicht immer sauber geführtem Mezzosopran. Sie erinnerte mit ihrer Frisur und der eleganten Garderobe an Catherine Deneuve und in ihrem Intrigenspiel an die legendäre Joan Collins als Biest Alexis Morell Carrington Colby Dexter Rowan in der legendären US-amerikanischen Fernsehserie „Der Denver Clan“ aus den 80ger Jahren. Der finnische Hüne Mika Kares verlieh dem eher dümmlichen Kaiser Claudio mit solidem Bass ein markantes Profil. Christoph Seidl erfüllte die kleinere Bassrolle des umtriebigen Boten Lesbo zufriedenstellend. Er war zuletzt in der Rolle des alten Dieners Adrasto in Traettas Antigone im Vorjahr an der Wiener Kammeroper zusehen. Jake Arditti, der gleichfalls in der Antigone als Emone aufgetreten und damit nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht hatte, stattete den wahnsinnigen Nerone mit seinem profunden Countertenor passend hysterisch aus. Nicht im Libretto vorgesehen, dafür aber umso bühnenwirksamer war sein gellendes Gelächter am Ende der Oper. Dem zweiten Countertenor, Filippo Mineccia, war die Rolle des aufrechten Ottone geradezu in die Kehle geschrieben. Die aus Australien stammende Danielle de Niese suhlte sich in der Rolle der naiv erotischen Poppea. Mit dem eher dunklen Timbre ihres Sopranes brachte sie deren Charakter überzeugend zum Ausdruck. Der britische Countertenor Tom Verney als Narciso und der australische Bassbariton Damien Pass als Pallante trugen das ihre zum großen Erfolg dieses Abends – nicht nur mit ihren Waschbrettbäuchen, sondern auch mit ihrer guten Gesangstechnik und Stimmführung – bei.
Dem Publikum gefiel der kurzweilige lockere Regiestil von Altmeister Carsen, der bei einer Gesamtlänge der Oper von dreieinhalb Stunden samt Pause auf eine voller überraschender Einfälle steckende Inszenierung mit viel Fleischbeschau setzte. Die musikalische Umsetzung durch das Orchester unter Thomas Hengelbrock wirkte ebenfalls äußerst kurzweilig und unterhaltsam im besten Sinne des Wortes. Die gesanglichen Leistungen aller Mitwirkenden waren insgesamt gut bis sehr gut, nicht jedoch außergewöhnlich. Alle Mitwirkenden verstanden freilich ihr Handwerk und boten so gesehen einen Händel der Spitzenklasse, wovon sich die Zuseher des französischen Fernsehsenders Mezzo, den man nach wie vor in Österreich nicht empfangen kann, da hierzulande scheinbar Sportsendungen als Hochkultur eingestuft werden. Ohne Ermüdungserscheinungen applaudierte das Publikum und bedankte die Künstler mit vielen Bravo Rufen.
Harald Lacina