Premiere „Dysmorphomanie“ im Schauspiel Stuttgart: BEKLEMMENDE BILDER AUS DEM IRRENHAUS
Premiere „Dysmorphomanie“ von Vladimir Sorokin im Schauspiel am 2. April 2016/STUTTGART
Ognjen Koldzic, Mark Ortel, Viktoria Mikhnevich, Eva Maria Schmidt. Copyright: Julian Marbach
Der 1955 in Moskau geborene Vladimir Sorokin zählt zu den bekanntesten Dramatikern Russlands und gerät als scharfer Kritiker der russischen Eliten immer wieder in Konflikt mit regimetreuen Gruppierungen. Sein Stück „Dysmorphomanie“ spielt in der Psychiatrie und ist als scharfe Kritik an den dortigen Verhältnissen zu verstehen. In der subtilen Regie von Wolfgang Michalek gewinnt diese psychiatrische Anstalt zwischen Wandschränken, Möbeln, Spiegeln und einem Leuchter reges Leben.
Die von den Stuttgarter Schauspielstudenten Mattea Cavic, Ognjen Koldzic, Simon Mazouri, Viktoria Mikhnevich, Mark Ortel, Franziska Maria Pößl und Vera Maria Schmidt mit viel Herzblut gespielten Patienten leiden alle an der Krankheit „Dysmorphomanie“. Sie glauben zwanghaft, einen Defekt zu haben und versuchen diese Deformationen zu verbergen. Man sieht die außer Rand und Band geratenen Kranken auf der Bühne mit allerlei Verrenkungen und wilden Bewegungen herumrennen. Lebensläufe werden mit fast notorischem Gleichmut heruntergebetet: „Ich wurde verspottet, weil ich so schlecht am Barren war„. Ein anderer leidet unter seinem starken Buckel und glaubt deswegen, keine Frau mehr zu bekommen. Die Anstaltsleitung ist nie präsent. Der 23jährige Patient hat das Gefühl, seine Nase sei anders. Und die 18jährige Patientin glaubt, dass sie schlecht rieche. Vor allem ist niemand in der Lage, den Kranken ihre schrecklichen Ängste zu nehmen. Dadurch werden sie in eine noch größere Isolation getrieben. Das kommt in der abwechslungs- und temporeichen Regie von Wolfgang Michalek (Bühne: Julian Marbach; Kostüme: Sara Kittelmann) gut zum Vorschein. Durch einen Lautsprecher wird der Befehl „Spielen!“ erteilt. Wie aufziehbare Roboter erfüllen die Protagonisten diese Forderung. Die Psychiatrieinsassen werfen sich so in raffinierte Theaterkostüme aus der Barock- und Rokoko-Zeit. Man erinnert sich an Shakespeare-Szenen: „So etwas Trauriges wie die Geschicht‘ von Hamlet und Julia gibt es nicht…“ Es kommt zu Gespenster-Alarm und einem chaotischen Spiel mit Tellern und völlig willkürlichem Klavierspiel. Beim gellenden Ruf „Widerstand der Faschisten“ wird die Bühne von elektrisierenden Momenten beherrscht. Vladimir Sorokin schrieb dieses Stück 1992, als die neue Freiheit die zerfallene UdSSR ins Chaos stürzte. Zwischen den Schauplätzen Helsingör und Verona entfaltet sich so ein beklemmendes psychologisches Kammerspiel, das den psychiatrischen Zwang geisselt und statt dessen die Werte der Freiheit hoch hält. Diagnosen geistern hier durch den von einer anonymen Maschine beherrschten Raum, der Körper einer jungen Frau ist mit Eiterbeulen übersät. Das sind Schrecksekunden. Da zeigt Wolfgang Michaleks Inszenierung scharfe Ansätze kompromissloser Gesellschaftskritik. „Ich kitzle manchmal fremde Menschen“ – so lautet die seltsame Devise. Eine andere junge Frau reckt ihr Glas mit Erbrochenem krampfhaft in die Höhe. Dazwischen ertönen wirre Rufe: „Lang lebe der König!“ Man erlebt die Welt im absoluten Ausnahmezustand. Die Protagonisten lassen sich nicht beruhigen. Patientin G. stellt fest: „Jeder von uns ist ein Mensch und nicht noch etwas.“
Mattea Cavic. Copyright: Julian Marbach
Damit wird die Tragödie der Psychiatrie schonungslos auf den Punkt gebracht. Und die Patienten sind selbst zu Spezialisten ihres Krankheitsbildes geworden: „Dieser Ort ist dein Tod, wenn die Leute dich finden.“ Im musikalischen Klavierfluss erklingt der poetische Ruf: „Ich sinke unter schwerer Liebeslast...“ Es wird den Worten auch manchmal nachgelauscht, die Schauspieler halten plötzlich inne und besinnen sich. Zuletzt bedecken sie sich ihre Gesichter mit einer Lehmmasse, die sie nachher wieder abwaschen. Diese seltsame Prozedur gerät dann aber doch sehr langatmig.
Trotzdem erhielten alle Darsteller und das Regie-Team begeisterten Schlussapplaus für diese hintersinnige und manchmal auch ironische Arbeit.
Alexander Walther