Uraufführung in Erfurt: „Gutenberg“ von Volker David Kirchner (Vorstellung: 17. 4. 2016)
Nachdem im Jahr 2011 die Opéra national du Rhin in Straßburg die Oper „La Nuit de Gutenberg“ des französischen Komponisten Philippe Manoury uraufgeführt hat, brachte im März 2016 das Theater Erfurt die Oper „Gutenberg“ des deutschen Komponisten Volker David Kirchner zur Erstaufführung. Johann Gensfleisch zu Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks, wurde um 1400 in Mainz geboren und starb dort im Jahr 1468.
Volker David Kirchner, 1942 ebenfalls in Mainz geboren, gehört seit Jahrzehnten zu den führenden Komponisten der Gegenwart und gilt als Weggefährte der Avantgarde im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Dazu ein Zitat des Komponisten: „Nach vorne denken und sich seiner Wurzeln bewusst sein. Tradition, das ist der Filter in die Zukunft.“ Ihm wurden für seine Kompositionen zahlreiche Ehrungen zuteil, wie beispielsweise 1992 die Verleihung der Gutenberg-Plakette der Stadt Mainz. Nach seiner 2011 in Kiel uraufgeführten Oper Savonarola suchte Kirchner mit seinem neuesten Werk Gutenberg erneut die Auseinandersetzung mit einer ebenso visionären wie widersprüchlichen Persönlichkeit des europäischen Spätmittelalters.
Im Vorspiel „Digitale Revolution“ wurde die Entwicklung aus dem Mittelalter zur Jetztzeit optisch sehenswert dargestellt (Foto: Lutz Edelhoff)
Martina Veh, die Regisseurin der Gutenberg-Oper, konzipierte zur Oper unter dem Titel „Digitale Revolution“ ein einstündiges „Vorspiel“, in dem sich vor allem der Chor szenisch mit der digitalen Entwicklung der letzten Jahrzehnte auseinandersetzt. Dabei wurden Auszüge aus der Johannespassion und der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach aufgeführt und mit elektronischen Klangwelten (Live-Elektronik: Gunnar Geisse) kombiniert. Moderator dieses Vorspiels, in dem die klassischen Klänge mit den elektronischen aufeinanderprallten und viele Auswüchse der heutigen Entwicklung (Selfie-Hysterie mitTableaus, sinnlose Handy-Gespräche, Internet-Foren etc.) auf ironisch-sarkastische Art aufs Korn genommen wurden, war der Schauspieler Mark Pohl. Er agierte zwar sehr humorvoll, konnte aber die Längen dieses Vorspiels kaum mildern.
Gutenberg (Siyabulela Ntlale) wurde immer wieder von Albträumen geplagt, wie mit Kriegserlebnissen aus seiner Kindheit (Foto: Lutz Edelhoff)
Das Hauptwerk des Abends, die einaktige Oper „Gutenberg“, deren Text vom Komponisten stammt, setzte sich aus neun Szenen zusammen, in denen der alte Johann Gensfleisch zu Gutenberg krank und mürrisch von albtraumhaften Visionen gepeinigt wird. Man erlebt seinen lebenslangen Streit mit der Obrigkeit, seine Kriegserlebnisse als Kind, seine Vision der Muttergottes im Dom, seinen Ärger als Buchdrucker mit seinen Geschäftspartnern, seinen Streit mit dem Kurfürsten von Nassau, der ihm seine Leibrente schuldig blieb, und schließlich seinen Tod. In der 9. Szene, dem Epilog, begegnet Gutenberg dem Computer-Pionier und Apple-Gründer Steven Jobs, dessen Meinung, dass die Menschen im Laufe der Jahrhunderte dazugelernt hätten, er nicht teilt. Gutenberg bleibt auch im Jenseits der grüblerische Skeptiker.
Die einzelnen Szenen wurden zum Teil mit Videosequenzen (Video: Torge Møller , Momme Hinrichs / fettFilm; Zeichnungen: Freddy Engel) bereichert, die mit verblüffendem Ideenreichtum das Publikum begeisterten. Für die passable und zeitgemäße Ausstattung (Bühne und Kostüme) zeichnete Christl Wein als verantwortlich, für die Lichteffekte Torsten Bante.
Der südafrikanische Bariton Siyabulela Ntlale gab die Titelrolle mit sonorer Stimme und etwas zu behäbig-phlegmatischen Spiel. Hier hätte die Regisseurin gegensteuern müssen. Die Mezzosopranistin Katja Bildt, die im ersten Teil mit zwei Bach-Arien brillierte, überzeugte stimmlich wie darstellerisch in allen Rollen, die sie zu spielen hatte: sowohl als Krankenschwester bzw. als Nonne wie auch als Neuberin und als Haushälterin. Köstlich humorvoll war sie im „Vorspiel“ als Handy-Gesprächspartnerin der Sopranistin Daniela Gerstenmeyer, die anschließend im Opernteil stimmlich mit einem Solostück als Muttergottes zu glänzen wusste.
Auch die anderen Mitglieder des Sängerensembles waren in mehreren Rollen im Einsatz, so der Bassist Gregor Loebel als Wirt, Henrici und 2. Bürger, der Tenor Julian Freibott als Propst, als Geselle Ruppel und als 1. Bürger sowie der Bariton Nils Stäfe als Becher, Hausdiener und Emissär. Der koreanische Tenor Won Whi Choi spielte den Drizehn und einen verwundeten Mann, der Bariton Reinhard Becker einen Anführer. Der Schauspieler Mark Pohl, der im ersten Teil moderierte, gab im Epilog der Oper Steven Jobs.
Der Opernchor des Theaters Erfurt, der im Vorspiel die tragende Rolle innehatte und stimmkräftig agierte, war im zweiten Teil des Abends nur in einigen der neun Szenen im Einsatz (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Das Philharmonische Orchester Erfurt bewältigte unter der Leitung von Samuel Bächli die unterschiedlichen Anforderungen – im ersten Teil die mittelalterliche Sakralmusik Bachs und im zweiten Teil eine oftmals beklemmend tönende Partitur Kirchners, die Anklänge an Bernd Alois Zimmermann aufwies, dessen Oper „Die Soldaten“ vor ein paar Jahren bei den Salzburger Festspielen zu sehen war – mit gewohnter Routine.
Es waren Gegensätze, an die sich auch das Publikum gewöhnen musste. Der verhaltene Applaus am Schluss zeigte, dass diese Kombination nicht bei allen auf Gegenliebe gestoßen war. Starken Beifall erhielten die beiden Sängerinnen Katja Bildt und Daniela Gerstenmeyer sowie der Schauspieler Mark Pohl.
Udo Pacolt