BERLIN Komische Oper RUSALKA, 3.1.2014
Beispielhafte Repertoirepflege: Bewegendes Kammerspiel um Verwandlung, Einsamkeit und Tod
Foto: Monika Rittershaus
Zuerst hatte ich vor der Aufführung doch ein wenig gezweifelt, ob mir die Sache gefallen wird. Den älteren Wiener Staatsopernbesuchern ist diese wunderbare Oper in bester Erinnerung. Unter der musikalischen Leitung von Vaclav Neumann konnte man in den 80er Jahren die Luxusgarde der tschechischen Oper wie Benackova, Dvorsky, Nesterenko oder Randova in den Hauptrollen hören. Das war optisch extrem romantisierend und in tschechischer Sprache gesungen.
In Berlin gibt man an der Komischen Oper diese vorletzte Oper von Dvorak, die 2011 von Barrie Kosky als brutales Kammerspiel um Liebe und Identität inszeniert worden ist, eine für heutige Verhältnisse exemplarische Aufführung. Alle meine anfänglichen Befürchtungen wurden nach und nach zerstreut. Über die Qualität der deutschen Textfassung könnte man zwar streiten, aber die Regie entschädigt auf jeden Fall mit einem mitreißenden Sog an Einfällen zu dieser unglücklichsten aller märchenhaften Liebesgeschichten. Freilich setzt die Musik Dvoraks manch atmosphärischen Kontrapunkt zum menschlichen Unglück, indem eine intakte Natur einen zu Klang gegossenen Ausgleich aus Mond und Wasser zeugt. Und drei Waldelfen wie die Rheintöchter ihren kindischen Schabernack treiben. Mirka Wagner, Annelie Sophie Müller und Katarina Morfa wie einem Erziehungsheim entsprungene Gören agierend, singen bayreuthtauglich.
Einheitsbühnenbild: Die klinisch weiße vordere Bühne mit Verdoppelung des stuckverzierten Bühnenportals wird von einer Wand mit Türe in der Mitte abgeschlossen (Bühnenbild Klaus Grünberg). Aus einer kleinen Öffnung auf der Seite schlüpft Rusalka, als ob das Theater seine Figuren selbst gebiert. Diese Verengung der Bühne ist akustisch für die Sänger von großem Vorteil und der Verzicht auf jedes Element der Natur gibt den funktionierenden Rahmen für eine laborhaft klaustrophobe Versuchsanordnung. Die große Frage lautet, ob man dem eigenen Leib entrinnen und letztlich durch Liebe erlöst werden kann. Die Antwort ist Nein. Was dem vollkommen solipsistischen beziehungsunfähigen Prinzen am Ende in Tristanscher Manier gelingt, nämlich sein tröstendes Nachtlied im Tod zu finden, bleibt der schönen Nixe Rusalka verwehrt. Ihr Todeskuss gehört – wie vom Wiener Meister Klimt gemalt – zum düsteren Hexenreigen an mordenden Kindsfrauen, die die Jahrhundertwende so reichlich hervorgebracht hat. Die romantische Märchenfigur Rusalka mutiert durch das Scheitern ihres hypertrophen Traums zu einer männertötenden Salome, einer Medea, die nur noch untote Tote gebären kann. Eine Übersetzung der Freudschen Sexuallehre in einen großen Bühnenmythos. Das Verdienst der Komischen Oper liegt nicht nur darin, diese Schichten bloßgelegt und genial theatertauglich gemacht zu haben. Durch Koskys Doppelfunktion als Intendant und Hauptregisseur bleibt auch eine drei Jahre alte Inszenierung so frisch wie am ersten Tag. Welch ungeheurer Luxus und Qualitätszugewinn im Vergleich zu einem Standard-Repertoiretheater.
Selbst der beste Regisseur ist aber nur so gut, wie das künstlerische Personal auf der Bühne und im Orchestergraben es zulassen. Und da setzt die Aufführung an der Komischen Oper Berlin Maßstäbe, wie das einst in Wien in den 80-er Jahren der Fall war. Die Rusalka wird von Asmik Grigorian nicht nur hinreißend intensiv mit leuchtender Höhe gesungen, sondern auch ungemein präsent und pantomimisch großartig verkörpert. Die Verwandlung von der träumenden Nixe zum ausgezehrten todbringenden Wrack ist ein singschauspielerisches Ereignis der Sonderklasse. Als Preis ihrer Verwandlung durch die Hexe und „Ärztin“ Jezibaba muss Rusalka auf ihre Stimme verzichten (und das in einer Oper!). Das macht Jezibaba, indem sie die Säfte der von ihr aufgeschlitzten schwarzen Katze Rusalka in den Mund träufelt. Wie dann Asmik Grirgorian ihre Furcht und Hilflosigkeit in expressive Gebärde gießt, ist oscarreif. Rusalkas hilflos in einer dimorphen Sehnsucht gefangener Prinzen bräuchte dringend die ständige Ermunterung und den Zuspruch durch Worte, um seine ontologische Unsicherheit und tiefe Einsamkeit zu durchbrechen. Dieser Prinz ist Pelleas und Golaud in einem. Musikalisch verleiht Dvorak seinem männlichen Antihelden die modernste Sprache: Janacek und Debussy lassen grüßen. Timothy Richards ist als Typ vielleicht etwas zu sehr Teddybär, singt aber hervorragend und mit schöntimbriertem Tenor sein trauriges Lied. Das Schicksal beginnt seinen Lauf zu nehmen. Die bei der Hochzeit auftauchende mondäne Fremde Fürstin (verlässlich Karolina Gumos) lässt dem unsteten Prinzen die Macht der Erotik spüren, um ihn nach erfolgter Eroberung wieder kalt fallen zu lassen. Der Wassermann (berührend mit schwarzen Bass Jens Larsen) singt von der Vergänglichkeit menschlicher Liebe. Er weiß von allem Anfang an, dass das Experiment schief gehen wird, ist aber wie ein Vater zu seiner Tochter und in einer Art Über-Identifikation seiner dem Element des Wassers entstammenden Nixe seelisch verbunden. Rusalka hat ihre Wette mit Jezibaba schon längst verloren. Sie kann in ihre eigene Welt nur dann zurückkehren, wenn sie den Prinzen eigenhändig tötet. Jezibaba wird von Agnes Zwierko mit dunklem Mezzo vokal eindringlich dargestellt. Als Typ einer strengen Herrin in Schwarz (Kostüme in Jahrhundertwendeästethik Klaus Bruns) mit Hackebeil bewaffnet, stellt sie nicht nur das sinnlos Böse dar, sondern auch die Brücke zu den grotesk komischen Elementen der Oper her. Da gibt es etwa den Wildhüter (fabelhaft dargestellt und gesungen vom Faktotum der Komischen Oper Peter Renz) und den Küchenjungen (Christina Oertel), die in bester Smetanascher Art singen. Sie zerlegen nicht nur schwanzwedelnde Karpfen und zuckende Aale für die Hochzeit, sondern sind auch die menschlichen Boten aus dem Volk für ihren leidgeprüften Herrn, für den jedoch jede Hilfe zu spät kommt.
Die irisierende Partitur, deren enorme stilistische Bandbreite an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Kaleidoskop an Leitmotiven einschließt, enthält Reminiszenzen an Wagner, Humperdinck und Smetana, lässt aber auch etwa in der Figur der Jezibaba die Amme in die Frau ohne Schatten musikalisch vorausahnen. Sie wird vom Orchester der Komischen Oper Berlin unter der musikalischen Leitung von Henrik Nánási spannend und mit den gehörigen Folklore-Elementen rhythmisch packend, in den lyrischen Stellen zart und agogisch fein austariert realisiert. Spätestens nach dieser Aufführung war der Sylvester Kater verraucht. 2014 darf beginnen und die werten Opernbesucher in Berlin dürfen sich über aufregende Abende freuen. Dazu ist schon bald Gelegenheit. Am 19. Jänner kann man nach 40 Jahren Bühnenabsenz erstmals wieder Prokofjews grandiose Schaueroper „Der feurige Engel“ in Berlin hören.
Dr. Ingobert Waltenberger