Heidelberg: „LA BOHÈME“ 04.06.2016
Das traurige Finale. Copyright: Annemone Taake
Völlig außerhalb meines Merker-Resorts wurde ich durch den euphorischen Bericht eines Kollegen der lokalen Presse auf die Neuproduktion „La Bohéme“ (Giacomo Puccini) im Theater Heidelberg aufmerksam. Insbesondere jedoch weckte mein Hauptinteresse die tenorale Neuentdeckung und Verpflichtung am Hause Andrea Shin.
So möge man mir verzeihen, dass ich dem Objekt meiner akustischen Begierden, dem Interpreten des Rodolfo den Vorzug gebe. Aus diversen Rezensionen war mir der Name des jungen koreanischen Sängers nicht unbekannt, führten ihn Engagements bereits an die Opernhäuser Karlsruhe, Hannover, Bologna etc., an der Met debütiert das hoffnungsvolle Talent nächste Spielzeit als Roméo, Duca und Rodolfo.
Überrascht hat mich die technisch höchst strahlkräftige Stimme doch fehlten mir zum vollkommenen Tenor-Glück das belcanteske Timbre, die weiche Mittellage, die süßen Puccini-Kantilenen. Ein erfahrener Pädagoge könnte vermutlich auch beim Legato Abhilfe schaffen und Andrea Shin stände mit Sicherheit die Welt offen.
Selbstbewusst-kapriziös, optisch schier ein kindlich-anmutiges Geschöpf verkörpert Hye-Sung Na die gesundheitlich stark angeschlagene Mimi, doch welche vokalen Qualitäten entströmten dieser jugendlichen Sängerin. Immens das klangvolle Volumen, voll Süße im Ton während der innig-verhaltenen Momente, beeindruckend im silbernen Höhenstrahl vereint Na´s Sopran alle Attribute eines auch darstellerisch berührenden Rollenportraits.
Farblich-nuanciert, mitteltonreich, schön im Timbre jedoch zuweilen klirrenden Höhen präsentierte Irina Simmens ihren Sopran sowie im unwiderstehlich sexy Outfit die frech-frivole Musetta. Ihr zur Seite der agile, baritonal-markante Marcello Ipca Ramanovic.
Schönstimmig fügten sich die Herren Zachary Wilson (Schaunard), Philipp Stelz (Benoit), David Otto (Alcindoro, Sergeant, Zöllner) sowie die reizende Stimme von Adrien Mechler (Parpignol) ins Geschehen, weniger klangvoll dagegen verabschiedete sich Colline (Wilfried Staber) von seinem geliebten Kleidungsstück. Die von Anna Töller einstudierten Chöre bestachen durch agiles Spiel und beste Musikalität.
Mit dem Dirigat von Gad Kadosh am Pult des Heidelberger Theaterorchesters wurden meine Ohren in keiner Weise glücklich, mir schien Kadosh verwechselte die Bohéme mit Turandot. Höchst unsentimental hetzte der Dirigent rücksichtslos durch die Partitur, übertraf sich an Lautstärke und ließ es ganz gehörig krachen. Störend schob sich der übervoluminöse Orchesterklang unter die Stimmen der Solisten (welche auf wundersame Weise dennoch Paroli boten) und konnte nur mit sehr wenigen transparenten Nuancen und instrumentalen Piano-Akkorden überzeugen.
Frisch, unverkrampft setzte Andrea Schwalbach die Bohemien mit einem relativ sehr jungen Ensemble in Szene, die quirlige Schar der Künstlerfreunde umriss ihre Lebenslust in einer Selbstinszenierung, quasi einer Autobiographie in optischer Vielfalt um. Die schrill-bunten Kostüme sowie die teils überlagerte grelle Bühnenausstattung lieferten Frank Lichtenberg und Nanette Zimmermann. Trotz des schrillen Gesamteindrucks beleuchtete die Regisseurin (wenn auch leicht ironisch augenzwinkernd) die tragischen Gefühlswelten der Protagonisten zur erfreulich weniger tränenreichen und oft veralberten Story.
Ein durchweg jugendlich durchsetztes Publikum der Uni-Stadt Heidelberg feierte alle Mitwirkenden mit lautstarken Bravorufen und ungewöhnlich langem Beifall.
Gerhard Hoffmann