BERLIN Deutsche Oper: DER RING DES NIBELUNGEN, 8.-12.1.2014
Glanz und Elend des Wagner-Gesangs heute
Schlussszene “Die Walküre”. Foto: Bettina Stöß
Beinahe 30 Jahre ist es nun her, dass Götz Friedrichs mittlerweile zum „Ring-Klassiker“ gewordene Inszenierung in Berlin Premiere feierte. Nichts hat diese exzellente Arbeit, deren Faszination bis heute nicht zuletzt dank des von Peter Sykora als „Leitmotiv der klugen Deutung geschaffenen gewaltigen Zeittunnels anhält. U-Bahn Röhre oder Atombunker nach einem dritten Weltkrieg, sei es drum, das Kapitalismusendspiel, das uns Richard Wagner und seine Exegeten Friedrich und Sykora vor Augen führt mit den letzlich armseligen Göttern, Riesen und Schwarzalben, könnte heute nicht aktueller sein. Nur zaghaft wagen sich (wirkliche) Menschen in diesen dunklen Kosmos, Erlösung gibt es für und durch die Natur. Das Wissen ist da, die Frage ist nur, vergisst die Menschheit, wie das ward mit Hiroshima und Nagasaki oder zuletzt mit der Finanzkrise 2008? Schafft die Menschheit die Energiewende, kann die Erderwärmung gestoppt werden oder treibt die Gier und Spekulation, Nationalismen, Religionskriege und ein außer Rand und Band geratenes Bankensystem die Zivilisation in den Abgrund? Ich möchte hier nicht näher auf die allseits bekannte Inszenierung eingehen, vieles Wissenswerte darüber kann man im Internet erfahren. Nur so viel: Neben dem gewaltigen, für jede Szene tauglichen flexiblen Bühnenbild ist es vor allem die Personenführung, die durch ihre Eindringlichkeit und Konsequenz besticht. Beinahe alle Solisten fügen sich eindringlich in das Konzept. Wenn man die Probennotizen aus den Premierenjahren 1984 (Orwell’scher Roman eines Überwachungsstaates) und 1985 heute liest so kann man der Spielleitung von Jasmin Solfaghari und Gerlinde Pelkowski nur gratulieren, so präzise und bestürzend wird auch heute noch der psychologische Urgrund im Schauspiel der Charaktere sichtbar.
Die musikalischen Qualitäten der Tetralogie an der Deutschen Oper stützen sich auf das technisch sehr gute Orchester und den exzellenten Chor des Hauses unter der musikalischen Leitung von Donald Runnicles. War der Klang des Orchesters im Rheingold noch zaghaft, die Wiedergabe rhythmisch wenig akzentuiert und zu „weichgespült“ (worunter die rezitativischen Passagen litten), gab es spätestens ab dem 2. Akt der Walküre bis zum Götterdämmerungs-Schluss ein zumindest orchestrales Wagner-Fest. Das dankbare Publikum dankte nach 15 Stunden Musik dem zuletzt auf der Bühne mit ihren Instrumenten angetretenen Orchestermusikern mit Standing Ovations. Der musikalische Chef des Hauses, Donald Runnicles hat seine Sache gut gemacht. Er lässt die Instrumentalisten eine spannende Geschichte erzählen. Freilich wartet er mit keiner neuen Lesart noch einer spektakulären Klangkulisse auf, ist weder betont sachlich oder zu rasch, noch überromantisch oder pathetisch. Runnicles bietet viel eine ungemein theatertaugliche Spannung in bester kapellmeisterlicher Manier. Und schließt damit an historische Größen wie Horst Stein oder Heinrich Hollreiser an, denen ich persönlich ganz großartige Wagner-Erlebnisse verdanke. Ob das Orchester manchmal zu laut oder mancher Solist einfach stimmlich überfordert war, darauf wird im Folgenden im Rahmen eines Versuchs der Bewertung der vokalen Leistungen gegliedert nach Vorspiel und den drei Teilen des Rings eingegangen. Meine Meinung hat sich durchaus mit den Dezibeln an Applaus des offenbar fachkundigen, differenziert begeisterungswilligen Publikums gedeckt.
Der Vorabend – Das Rheingold, 8. Jänner 2014
Der Anfang zeigt schon das Ende und das Ende ist ein neuer Anfang. Ob dieser Satz auch für die Sangeskunst der jetzigen Elite an Wagner Interpreten gilt? Wir müssen jedenfalls die Sänger zentral sehen an diesem Vorabend, war das Orchester eher noch um den „richtigen Ton“ bemüht, als von Beginn an die Führung zu übernehmen. Nur zwei Solisten hielten den strengsten Kriterien an großem Wagner Gesang stand: Burkhard Ulrich als Loge und Daniela Sindram als Fricka. Prägnant deklamierend als Diagnostiker des Untergangs, macht Ulrich auf grandiose Weise diesen dunklen Jules Verne der Reise durch die Zeiten, Chefberater und Saboteur, musikalisch sichtbar. Stimmlich untadelig hätte er auch im Nachkriegsbayreuth beste Figur gemacht, genauso wie die edel timbrierte Fricka der Daniela Sindram. Letztere geriert sich nicht als keifende frustrierte Frau, sondern ist ganz Göttin mit Grundsätzen und Haltung, auch intellektuell und vom Willen her auf Augenhöhe mit Wotan.
Danach lieferten Froh, Donner, Erda und Mime die besten vokalen Leistungen. Markus Brück singt den Kraftlackel Donner mit Hammer in der Hand als Gemeindestier der Götterschar. Wild und ungezähmt mit markant kernigem Bariton. Dass er vokal auch differenzierter zu agieren versteht, zeigt Brück als gebrochener Opportunist Gunther in der Götterdämmerung. Clemens Bieber zeichnet die von Friedrich als Apollo im Rokoko mit Schnabelschuhen und weißen Kniestrümpfen verstandener Super-Ästhet vokal mit großer Geste und heldischem Impetus. Dana Beth Miller singt die Mutter Brünnhildes, Erda, mit ausladender Tiefe und ruhigem Gesangsstrom, real und fremd zugleich, ein weiblicher Mohammed und Gorkis Mutter zugleich. Peter Maus liefert eine theatralisch fabelhafte vokale Studie mit der Figur des Mime, laut Friedrich eine Art plebejischer Einstein oder Mini Ausgabe von Cardillac. Fasolt und Fafner werden von Reinhard Hagen und Ante Jerkunica brav, aber auch schon nicht mehr dargestellt und gesungen. Die Rheintöchter (Woglinde Siobhan Stagg, Wellgunde Christina Sidak, beide Stipendiaten des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin und Okka von Damerau als Flosshilde) kassieren (unverdientermaßen) gar das einzig wirklich hörbare Buh. Von Verführung keine Spur, mische sich die Stimmen der drei Solistinnen schlecht. Lautstärke geht vor Stil, Grobes vor Raffinesse. Zumindest Siobhan Stagg darf in der Götterdämmerung zeigen, dass sie ein erstklassiger Waldvogel ist und über einen wunderschönen lyrischen Sopran verfügt. Der an sich großartige Singschauspieler Eric Owens hatte im Rheingold als Alberich keinen guten Tag. In Siegfried und Götterdämmerung weiß er sich aber ungemein zu steigern und wird das Publikum mit meisterlichen Porträtstudien des Schwarzalben zu fesseln wissen. Die problematischste Besetzung ist Mark Delavan als Rheingold-Wotan und im Siegfried als Wanderer. Mit einer schönen, aber leider gar nicht tragfähigen Stimme bleibt er in weiten Teilen der Partitur un- bis schlecht hörbar. Technisch kann die Stimme zwar alles, aber auch schauspielerisch hat Herr Delavan seine Grenzen und kommt insgesamt als Figur kaum über die Rampe. Ganz sicher verfügt er über keinen Heldenbariton. Aus meiner Sicht daher für das Haus der Deutschen Oper eine Fehlbesetzung. Last but not least lässt Martina Welschenbach als Freia mit manch schöner Höhe aufhorchen.
Erster Tag – Die Walküre, 9. Jänner 2014
Das Wälsungenpaar war mit Heidi Melton und Peter Seiffert erstklassig besetzt. In den Probennotizen von 1984 findet sich der Satz: „Sieglinde soll einfach singen. Nichts darf pathetisch klingen.“ Diese Worte mit vollkommener vokaler und darstellerischer Selbstverständlichkeit gepaart, beschreiben am besten, was die formidable Heidi Melton als Sieglinde so großartig macht, wenngleich sie ein wenig pummelig im blauen um die Taille gerafften Kleid wirkt. Stimmlich vergleichbar der jungen Cheryl Studer kann Frau Melton verdientermaßen den größten Zuspruch des Publikums unter den Solistinnen des Rings einheimsen. Wie sie später in den von ihr ebenfalls gesungenen Rollen der 3. Norn und Gutrune bekräftigt, verfügt Heidi Melton über einen prachtvollen jugendlich dramatischen Sopran mit perfekter Intonation. Bruchlos und leuchtend nimmt ihre geschmeidige Stimme es mit den größten Orchesterwogen auf, ohne forcieren zu müssen. Ein ganz großes Versprechen für die Zukunft im Wagnerfach. Ihr Siegmund ist der einzig echte Heldentenor im Berliner Ring, Peter Seiffert. Obschon Seifferts Stimme in den tiefen Registern gegen rauh und heiser tendiert, macht er diese Schwächen mit seiner sonor männlichen Mittellage und den gewaltigen Höhe etwa in den Wälsungenrufen wieder wett. Zu seinen Atouts zählen auch ein intensiver Vortrag und sein schlafwandlerisch sicheres Spiel. Großer Jubel. Die richtigen Stichworte als Hunding lieferte Reinhard Hagen.
Weniger glücklich für mich persönlich ist die Besetzung der Walküren-Brünnhilde mit Linda Watson. Als „Brünnhilde vom Dienst“ in Bayreuth, Wien und anderenorts hat Frau Watson keinerlei technische Schwierigkeiten mit der Partie. Das ist ja schon was. Aber ihr routiniert gelangweiltes Spiel und ihre „Schaut her, ich kann“-Attitüde haben mich genervt. So unberührt hat mich noch nie eine Brünnhilde in der Walküre gelassen. Ihr Abschied von Wotan ist nicht traurig bewegend, sondern ein kühles Geschäft. Ob ihr heller, in der Mittellage etwas blechern klingender Sopran als hochdramatisch zu bezeichnen ist, möchte ich anzweifeln. Sie ist vom Stimmtypus her eher Elektra und Turandot als Brünnhilde. Der Stimmsitz ist so weit vorne (wie etwa früher bei Gabriela Schnaut), dass ein echter Mischklang mit Kuppel nur in den Höhen gelingt. Wie in einen Riesenschildkrötenpanzer gepresst mit langen enganliegenden Lederhosen und blonder überdimensionierter Lockenperücke ist auch die optische Präsentation höchst unvorteilhaft. Laut Probenprotokoll haben sich die Walküren in einer Gang zusammengeschlossen, sie sind „Callgirls“ für die Helden. So ist Brünnhilde die Anführerin ihre Gang, die mit Josefine Weber (Helmwige), Rebecca Teem (Gerhilde), Martina Welschenbach (Ortlinde), Rachel Hauge (Waltraute), Dana Beth Miller (Siegrune), Christina Sidak (Rossweiße), Ronnita Miller (Grimgerde) und Ewa Wolak (Schwertleite) phonstark und wuchtig besetzt sind. Über sie gebietet Göttervater Wotan, der von Terje Stensvold als solcher auch gestaltet und gesungen wird. Ein Wotan wie aus dem Bilderbuch, mit dem richtigen Timbre und der gebotenen Bühnen-Persönlichkeit. Als einzige Einschränkung zum vollkommenen Glück seien aber dennoch unschöne Vokalverfärbungen in den höchsten Lagen vermerkt. Hoheitsvoll und edel wie im Rheingold Daniela Sindram als Luxusbesetzung für die Fricka. Für mich war diese Walküre der musikalisch auch vom Dirigenten her gesehen dichteste Abend der Tetralogie.
Zweiter Tag – Siegfried, 10. Jänner 2014
Die erste Szene gerät zum großartigen Kammerspiel zwischen Mime und Siegfried. Burkhard UIrich und Lance Ryan in Höchstform überbieten einander an Spielfreude, Raffinesse und Schabernack. Von Götz Friedrich ist Siegfried am konventionellsten inszeniert, manchmal denkt man, Otto Schenk hätte hinter den Kulissen die Fäden der Personenregie gezogen. Dem Publikum machte es jedenfalls Spaß. Auch Mark Delavan als Wotan kann in der Rätselszene mit Mime durchaus mit guter Diktion und ironisch gefärbtem Wohlklang punkten. Sein Motto: „Nicht zu schaffen, zu schauen kam ich.“ Der optische Traumsiegfried Lance Ryan zeigt am Ende des ersten Aktes mit den Schmiedeliedern, wie gut er sein kann. Allerdings hält er den Kraftakt nicht durch und verliert im Laufe des Abends nicht nur an vokaler Form, auch Intonationstrübungen stellen sich ein und Töne vor allem im mezza voce springen nur schwer und steif an bzw. werden an- und abgeschliffen, dass es dem Ohr mitunter keine Freude macht. Der Dialog zwischen Wanderer und Alberich im 2. Akt bestätigt, dass ein Eric Owens in Höchstform als Alberich doppelt so viel Stimme hat wie Mark Delavan als Wanderer. Keine dramaturgisch richtige Balance. Erst Recht nicht in der Zwiesprache mit Erda, wo Mark Delavan gegen die Orchesterwogen einfach nicht ankommt und auch im Vergleich zu Ewa Wolaks urmutterhaft orgelnder Erda leise und blass bleibt. Nachdem Fafner der Wurm (verstärkt klingt Ante Jerkunica besser als im Rheingold), der in der Produktion als ein verrückter Oberst in einem aus dem 3. Weltkrieg übrig gebliebenen Panzer gezeigt wird, erschlagen ist, darf das Waldvöglein der exzellenten Siobhan Stagg Siegfried den Weg zum Brünnhildenfelsen weisen. Dort liegt die Motorrad Rockerbraut Brünnhilde von Feuer und dichten Rauchschwaden umschlossen in einem der stärksten Bilder des ganzen Rings. Gespannt wartet alles auf das Heil Dir Sonne, heil dir Licht. Um es vorwegzunehmen: Susan Bullock ist eine sympathische Künstlerin und in der Darstellung um Intensität bemüht. Aber ihre Stimme ist maximal Gutrunen tauglich, auf keinen Fall dürfte sie Siegfried und Götterdämmerung Brünnhilden singen. Bullock hat einen kurzen Sopran mit engen Vibrato, der nur im mezza voce halbwegs angenehm klingt. Die extremen Höhen erreicht sie nur durch grelles Schreien, weshalb diese Töne aus der vokalen Linie vollkommen herausfallen. Jammer, ach Jammer. Dieses gloriose Finale im letzten Akt Siegfried überlebt nur dank des großartigen Orchesters. Die Enttäuschung ist groß, weil auch Lance Ryan zuletzt nur noch unschön und zu tief die Partie des Jungsiegfried zu Ende bringt. Die große Frage zum Schluss: Gibt es außer Stemme und Urmana wirklich keine erstklassigen Vertreterinnen im schweren Wagner-Fach mehr?
Dritter Tag – Götterdämmerung, 12. Jänner 2014
Nach einem Tag Erholungspause für Sänger und Publikum ging die Tetralogie mit einem, zumindest was die Inszenierung, das Orchester und die Chöre betrifft, ungemein packenden und spannungsgeladenen Theaterabend zu Ende. Der Durchhänger im letzten Akt Siegfried schien überwunden und auch vokal war der Abend nicht zuletzt dank hervorragender Leistungen von Hans-Peter König als Hagen (derzeit kaum überbietbar) und Anne Sofie von Otter als Waltraute (die ihre Erfahrungen als Liedsängerin mit Gewinn in die Gestaltung der rolle einbringt) mit den in der Besprechung von Siegfried genannten grundsätzlichen Einschränkungen für die Brünnhilde der Susan Bullock und den Siegfried des Lance Ryan ein Ereignis. Beginnend mit der düsteren Nornenszene (Ronnita Miller, Ulrike Hetzel und Heidi Melton als 1., 2. und dritte Norn) vermochte der Dirigent Donald Runnicles das dramatischen Endspiel noch einmal gewaltig zu steigern und beindruckend zu verdichten. Diesem Sog konnte sich niemand entziehen. Ob Markus Brücks Gunther, Eric Owens Alberich, die Gutrune der glorreichen Heidi Melton oder am Ende die Rheintöchter (Martina Welschenbach, Ulrike Hetzel, Dana Beth Miller), alle trugen zu einer finalen Apotheose teil, die sich nur dann in dieser Intensität einstellt, wenn man alle vier Abende des Rings hintereinander in so kurzer Zeit erleben kann. Dementsprechend entlud sich auch die aufgestaute Spannung zum Schluss in einem großen, aber nicht hysterischen Applaus. Dem Publikum sei Dank, lohnte es die vokalen und darstellerischen Leistungen entsprechend dem Dargebotenen durchaus differenziert. Niemand wurde offen geschmäht, aber von den Bravos beim Hagen des Hans-Peter König waren die Sänger von Siegfried und Brünnhilde weit entfernt. Obwohl auch das am Ende keine Bedeutung hat. In diesem Sinne gehört das Schlusswort Charles Camille Saint Saens:“Von der Größe des letzten Aktes der Götterdämmerung gesehen, erscheint das gesamte Werk fast übernatürlich in seiner Unermesslichkeit, vergleichbar mit der Alpenkette vom Gipfel des Montblanc aus gesehen.“
Schluss Götterdämmerung mit Donald Runnicles und seinem auf offener Bühne versammelten Orchester, Foto: Bettina Stöß
Ingobert Waltenberger