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BERLIN/Philharmonie: BALTIC SEA YOUTH PHILHARMONIC

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Berlin/ Philharmonie: Premiere für “Baltic Sea Youth Philharmonic”, 22.01.2014

Erster Auftritt in der Berliner Philharmonie – für ein Orchester ist das der Ritterschlag. Wie der Verlauf des 2-stündigen Konzertes und der riesige Jubel hinterher zeigen, haben sich die großartigen jungen Musiker, geleitet vom estnisch-amerikanischen Dirigenten Kristjan Järvi diese Ehre voll verdient.

Kein falscher Ton bei den Blechbläsern, die arg gefordert werden, dazu ein perfektes Zusammenspiel der Streicher. Manches Berufsorchester könnte da beinahe neidisch werden. Nicht nur wegen der erstaunlichen Perfektion der jungen Instrumentalisten, sondern auch wegen ihrer Leidenschaft und Begeisterung. Die „hängen sich noch voll rein“ und investieren ihre ganze Energie.

Neben ihrem Fleiß und ihrer Musikalität ist dieses hohe Niveau nicht zuletzt Kristjan Järvi zu verdanken, der die Musik in sich hat – vom Haarschopf bis in die Zehenspitzen. Der tanzt auf dem Podium, ohne eine alberne Show abzuziehen. Mit tänzerisch inspirierten Methoden trainiert er, wie er anmerkt, die jungen Leute. Beim Spielen wippen fast alle ebenfalls im Takt. Musik und Rhythmus machen Spaß – das merkt man Järvi und den Seinen deutlich an, das überträgt sich auch auf die Zuhörer.

Noch eines erscheint mir wichtig: Wenn Kristjan Järvi die Hände zum ersten Einsatz hebt, lächelt er die Musiker an, gibt ihnen Selbstvertrauen und führt sie anschließend genauestens durch die gesamte Partitur. Niemand wird allein gelassen. Hier arbeitet, selbst wenn die Interpreten im Laufe der Jahre wechseln, ein echt eingespieltes Team. Schon seit einigen Jahren ist dieses Orchester auf internationalen Konzertpodien erfolgreich unterwegs, musiziert auch jeden Sommer bei „Young Euro Classic“ im Konzerthaus am Gendarmenmarkt.

Gegründet wurde dieses Jugendorchester für Menschen von 18-30 Jahren im Jahr 2008 auf Initiative des Usedomer Musikfestivals. Es umfasst in der Zusammensetzung und im Programm hauptsächlich den Ostseeraum mit seinen Anrainerstaaten. „Baltic Sea Youth Philharmonic“ ist daher der neue Name.

An diesem Abend steht eine „German-Russian Voyage“ auf dem Programm, eine deutsch-russische Reise, die mit „Don Juan“ op. 20 von Richard Strauss beginnt. Bekanntlich hat Deutschland auch eine Ostseeküste, und überdies wird in diesem Jahr der 150. Geburtstag dieses Komponisten gefeiert. Dennoch wirkt sein seinerzeit aufregendes Jugendwerk, pendelnd zwischen Sturm und Drang sowie Romantik und unterschwelliger Ironie, etwas unterkühlt im Vergleich zu den nachfolgenden, weitaus bravouröseren russischen Stücken.

So gesehen setzt die technisch anspruchsvolle „Rhapsodie über ein Thema von Paganini für Klavier und Orchester“ op. 43 von Sergej Rachmaninow den Elan der jugendlichen Truppe noch deutlicher frei. Die Verbindung des russischen Tastenlöwen mit dem Teufelsgeiger ist also für sie eine ganz andere Nummer, zumal die Pianistin Valentina Lisitsa diese 24 Variationen mit stupender Technik und Hingabe völlig kitschfrei gestaltet.

Sie ist für den erkrankten Kollegen Denis Matsuev eingesprungen und erweist sich, so unlogisch das klingen mag, als allererste Wahl. Diese junge Frau hat übrigens ihre internationale Klassik-Karriere in 2007 auf YouTube gestartet. Ihr YouTube-Kanal bringt es heute auf mehr als 62 Millionen Klicks. Insofern passt sie bestens zu den Musikern, wird vom Publikum hinterher intensiv bejubelt und bedankt sich mit einer Zugabe.

Julia Fischer und Kristjan Järvie 2007 in Neubrandenburg, Foto Ursula Wiegand

Julia Fischer und Kristjan Järvie 2007 in Neubrandenburg, Foto Ursula Wiegand

Ein Kontrastprogramm bringt die Star-Violonistin Julia Fischer mit dem „Konzert für Violine und Orchester a-Moll“ BWV 1041 von Johann Sebastian Bach. In mir werden nun viele Erinnerungen wach, habe ich doch Julia Fischer schon als 16jährige bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern und in den Folgejahren erlebt. Schon damals lag ihre baldige Weltkarriere in der Luft. Zusammen mit Kristjan Järvi hat sie 2007 in Neubrandenburg, ebenfalls bei diesen Festspielen, begeistert. Beide haben sich äußerlich kaum verändert. Allerdings tanzte Järvi damals noch wilder auf dem Pult, so wie ein geübter Disco-Tänzer. Seine nach wie vor geschmeidigen Bewegungen lassen vermuten, dass er das noch immer tut.

Nun also konfrontieren beide das Publikum mit Bach, und Julia Fischer versenkt sich in diese ebenso schöne wie strenge Musik. Im Adagio schwebt ihre Violine so zart wie Engelshaar über dem zum Kammerorchester mit basso continuo verkleinerten Klangkörper. Bei den Allegro-Ecksätzen greift sie beherzt zu.

Möglicherweise sind die jungen Interpreten mit dieser durchsichtigen Barockmusik, die wirklich keinen Fehler verzeiht, mindest ebenso gefordert wie bei einem rauschhaften Fortissimo. Starker Beifall im nach hinein, von Frau Fischer mit Bachs „Sarabande in d-Moll“ als Zugabe belohnt.

Ganz ohne Pause schließt sich „Le Poème de l’extase“ op. 54 von Alexander Skrjabin an. Das dazugehörige selbstverfasste Gedicht ließ der Komponist jedoch später weg. Dieses rasante Stück und seine Darbietung treffen das Motto des Abends „Feel the Energy“ genau.

Energie brauchen die Musiker wirklich, um dieses ekstatische Gedicht, schwankend zwischen Melancholie und Furor entsprechend darzubieten, zumal der schon 1915 verstorbene Skrjabin mit seinen gelegentlichen Dissonanzen und Rhythmusverschiebungen bereits in moderne Gefilde verstößt. Hier laufen die „jungen Balten“ unter Järvi nochmals richtig zur Hochform auf. Das Publikum jubelt, trampelt und spendet stehende Ovationen.

Järvi und die Seinen nutzen, offenkundig wohl vorbereitet, ihre Chance und geben Zugabe auf Zugabe, darunter auch eine gekonnt verjazzte Variante von Wagners „Walküre“. Die Zuhörer in der vollbesetzten Philharmonie geraten vor staunender Begeisterung aus dem Häuschen. „Das habe ich in der Philharmonie noch nie erlebt,“ murmelt ein versierter Konzertgänger neben mir. Ich auch nicht.

Ursula Wiegand

 

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