WIENER STAATSOPER:23.1.2014: „BORIS GODUNOV“ – 23. Aufführung in dieser Inszenierung
Dass in dieser sog. Urfassung der Titelheld mehr in den Mittelpunkt rückt als in der erweiterten Version mit dem Polen-Akt u.a., ist für den Boris-Sänger sicher ein Gewinn. Dass die vielen gegensätzlichen Szenen, wie wir sie besonders aus der großartigen Schenk-Inszenierung von 1976 (mit 45 Aufführungen) in Erinnerung haben, hier fehlen und in der düsteren Bilderfolge, wie Yannis Kokkos (2007) als Regisseur und Ausstatter sie recht unspektakulär aneinander gereiht hat, eine optische Ermüdung der Zuschauer eintritt, ist bedauerlich. Es gibt in dieser Produktion fast nie Applaus, wenn wieder einmal der Zwischenvorhang fällt, und in den Umbaupausen ist es mucksmäuschenstill im Haus – offenbar eine Erwartungshaltung, die dann optisch nicht befriedigt wird.
Musikalisch allerdings wurde bestes Ensembletheater geboten, ohne jede Schwachstelle beim Sängeraufgebot. Aus der Premierenbesetzung erhalten geblieben ist der „Star“ des Abends, Ferruccio Furlanetto, der als Wiener Kammersänger aber auch schon fast als Ensemblemitglied zu betrachten ist. Sein Zar Boris erweckt nie den Eindruck, dass er jemals wirklich zu einem Kindesmord fähig gewesen sein könnte. Dazu fehlt ihm die Härte in Stimme und Auftreten. Er kämpft nicht um die Macht – sie wird ihm angeboten und er macht das Beste daraus, nämlich, er hört nie auf, Mensch zu sein. Ein Herrscher, wie ihn sich ein Land nur wünschen kann. Möglicherweise geht seine Sensiblität so weit, dass er bei der bloßen Vorstellung, ein Kind zu töten, schon an den Rand des Wahnsinns gerät. Das singt und spielt er großartig. Dass er in seiner Auftrittsszene nicht gleich mit voller Stimmwucht loslegt, bestärkt obige Annahme. Natürlich bleibt er dann steigerungsfähig, was sein imposantes Bassvolumen anbelangt, kann aber jederzeit die Stimme zurücknehmen und die ergreifendsten piano-Phrasen und wunderbaren Kantilenen formen. Dass Furlanetto trotz seiner sicher hundertprozentigen Beherrschung der russischen Sprache, von der er bekanntlich sagt, dass sie für ihn die sangbarste von allen ist, ein italienischer Boris bleibt, mit weichem, geschmeidigem bassocantante, zeichnet diesen Zaren als persönliche Interpretationsvariante aus. Er bleibt die Hauptattraktion dieser „Boris“-Produktion.
Als Pimen steht ihm ein zweiter „großer Alter“ gegenüber: Kurt Rydl. Er kann nicht mehr mit solchstimmlichem Ebenmaß aufwarten, entfaltet vor allem in der Schlussszene aber doch einmal mehr beachtliche finstere, eindringliche Basseskraft. (Zwischendurch warf sich mit die Frage auf, woher dieser Mönch eigentlich sein Informationsmaterial für die russische Chronik nimmt, an der er oft Tag und Nacht arbeitet? Ich erinnere mich nicht, jemals in dieser Oper einen Pimen mit irgendwelchen schriftlichen Quellen beschäftigt zu sehen. Weiß er alles aus eigenem Erleben oder aus Erzählungen anderer???)
Unter den 4 Rollendebutanten war man auf Norbert Ernst als Schujskynatürlich am neugierigsten. Wie bei diesem vorzüglichen Sänger gewohnt, sang er auch diese Rolle exquisit, immer in schönem Legato, wortdeutlich (soweit man das als des Russischen unkundiger Zuhörer beurteilen kann) und natürlich wohlklingend. Der sonst so versierte Darsteller zwiespältiger Figuren ließ diesmal jegliche Komödiantik bzw. jeden Zynismus, mit dem der durchtriebene, intrigante Fürst SchujskyBoris bekanntlich in den Irrsinn treibt, vermissen, sodass man, durch Heinz Zednik jahrelang verwöhnt, sich fast eine weniger schöne Stimme, aber mehr Charakterschärfe gewünscht hätte. Aber vielleicht war Norbert Ernst vorerst mal mit der korrekten sprachlichen Vermittlung des Gesungenen beschäftigt. Vorgesehen im Jahresprogramm war ja Herbert Lippert, der wohl wegen eines Tokio-Gastspiels diese Wien-Verpflichtung abgesagt hat. Dafür ist der Ensemblegedanke zu preisen, der immer wieder erstaunliche Einspringmöglichkeiten sichert. Als Grigory und Möchtegern-Dimitri hat der im slawischen Fach immer gut eingesetzte Marian Talabain dieser „Boris“-Fassung kaum tenorale Entfaltungsmöglichkeiten.
Neben dem bewährten Janusz Monarcha als Warlaam hörte man den Rollendebutanten James Kryshak als recht ordentlichen Missail. Sehr schön sang Pavel Kolgatin den Gottesnarren, wie sich’s gehört, eine Belcanto-Oase im wuchtigen Mussorgsky‘schen Chorgetriebe. Wolfgang Bankl als Hauptmann – eine nur zu logische und erwartugnsgemäß gute Neubesetzung.
Schade, dass die Rollen der beiden Boris-Kinder so klein sind. Sowohl von Margarita Gritskova als Fjodor wie auchvon IleanaTonca als Xenia hätte man gern mehr gehört. ZoryanaKushpler als Amme und Aura Twarowska als Schenkenwirtin machten vokal und gestalterisch gute Figur. Dass Alexandru Moisiuc als Vogt Nikitisch einen eher groben Bass hören ließ, passte zur grausamen Figur. Oleg Zalytsky tat als Leibbojar gute Dienste. Mehr als das: Marcus Pelz als Mitjuch, ein Bauer, der etwas mitzureden hat, mit durchsetzungsfähiger Stimme und festem Auftreten. Noch mehr: Clemens Unterreiner als Andreej Schtschelkalow mit geradezu luxuriös-noblem Bassbariton, im Textbuch als Geheimschreiber tituliert, aber mit seinen Botschaften sich sehr auffallend der Aufmerksamkeit der Volksmenge versichernd.
Diese, aber auch die Bojaren, vom Wiener Staatsopernchor, ergänzt durch den Slowakischen Philharmonischen Chor, lassen als Kollektiv genau jene menschlichen Eigenschaften akustisch Gestalt annehmen, die auch den Titelrollensänger auszeichnen: Mitgefühl, natürliche Kraft und nie erlahmende Tonschönheit und –fülle. Die hellen Kinderstimmen aus der Opernschule halten ebenfalls diese Komponente parat. Selbstverständlich gilt das auch für unser philharmonisches Staatsopernorchester, das vor allem Wohlklang bietet. Michael Güttler, erstmals bei Mussorgsky hier am Pult, unterstützte das vorhandene Potential offensichtlich ohne irgendwelche Probleme. Man hatte den Eindruck, als spiele sich diese wunderbare, expressive Musik in allen Phasen von selber.
Was sich leider nicht von selber ergab: IN MEMORIAM CLAUDIO ABBADO stand auf dem Programmzettel und Abendplakat. Weder gab es eine verbale Botschaft zum Ableben des ehemaligen Musikdirektors der Wiener Staatsoper noch ist der „Boris“ besonders repräsentativ für den Dirigenten. Abbado hat hier 1991 eine aus London importierte Neuinszenierung der nämlichen Urfassung mit dem wenig aufregenden Robert Lloyd in der Titelrolle dirigiert und konnte mit dieser Produktion keineswegs ebenbürtig an vorher Gehörtes und Gesehenes anschließen.
Als Anregung für die Direktion: Die Deutsche Oper Berlin macht seit Jahrzehnten für verstorbene wichtige Künstler des Hauses eigene Gedenkabende oder Matineen. Das muss ja nicht von heute auf morgen sein – Hauptsache, es wird überhaupt etwas gemacht. Der hiesigen Billig-Variante, schnell mal irgendeinen Repertoire-Abend dem betreffenden Künstler zu widmen, sollte möglichst bald eine gewichtigere entgegengesetzt werden.
Sieglinde Pfabigan