BERLIN Philharmonie ELEKTRA konzertant – Thielemann mit seinen Dresdnern auf Klimts Spuren
am 28.1.2014
Evelyne Herlitzius als Elektra (in Dresden). Foto: Matthias Creutziger
Nein, keine bis ins Mark gehende Klangexegese einer archaischen Familiensaga, kein aufpeitschendes aufwühlendes Musikerlebnis mit Lautstärkerekorden. Dafür bekommt das Berliner Publikum die Musik Richard Strauss‘ von der Sächsischen Staatskapelle Dresden musikalisch hingepinselt wie Klimts Kuss zu Gehör, ein pastoser Jugendstilgruß mit viel Pastelltönen und impressionistisch anmutender Detailverliebtheit. Der Dirigent Christian Thielemann setzt mit sparsamer Zeichengebung auf getragene Tempi. Er betont die Herausarbeitung instrumentaler Finesse und Farbenpracht, aber nicht primär von kompositorischen Strukturen. Also Elektra näher dem Rosenkavalier’schen Klangideal als expressionistischer spätromantischer Entladungsrituale wie gewohnt.
Die Begründung für so viel Wohlklang in der Atridensaga samt entsprechender (fragwürdiger) Besetzung zumindest der Rollen der Chrysothemis und der Klytämnestra liefert Christian Thielemann in einem Interview für das Programmheft selbst: „Denn letztlich findet es doch jeder Revolutionär super, wenn das warme Badewasser eingelassen ist, wenn es etwas Gutes zu essen gibt, wenn die Haushälterin den Tee serviert und das Bett nach Lavendel duftet.
Das sind genau die Antipoden zur Elektra-Interpretation unter Ulf Schirmer, die ich vor zwei Wochen in Leipzig besucht und worüber ich auch für den Merker berichtet habe. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich finde, beide Interpretationsansätze haben ihre Berechtigung und ihren Reiz, zumal wenn man es als Zuhörer mit so einem Prachtorchester wie der Sächsischen Staatskapelle Dresden zu tun hat. Gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern kann man sich keine idealeren Klangkörper für die irisierend-irrlichternde und doch kraftvoll bodenständige Musik des Jubilars Richard Strauss vorstellen. Der Zaubermeister aus Garmisch hat das musikalische Bad mit Sorgfalt bereitet und Thielmann lässt es selbst dann nach Lavendel duften, wenn Ägisth darin erschlagen wird. Wer allerdings Elektra in voller antikischer Wucht mit kathartischem Ende erleben will, wird so einen Ansatz weniger goutieren. Außer er hält sich ausnahmslos an die für heutige Verhältnisse unüberbietbaren vokalen Leistungen von Evelyn Herlitzius als Elektra und René Pape als Orest
Was ich an Evelyn Herlitzius von je her so schätze, ist nicht nur die hohe Qualität ihres dramatischen Ausnahmesoprans, sondern dass sie mit jeder Faser ihrer Persönlichkeit das musikdramatische Geschehen trägt. Eine Mischung aus Annie Krull, der Uraufführungselektra in Desden (den Fotos nach zu schließen), und von Inge Borkh in ihrer besten Zeit repräsentiert Herlitzius dennoch einen vollkommen modernen Frauentyp. Ein starkes Wesen, das fest daran glaubt, was es tut und sein Ziel mit Haut und Haar verfolgt. Dementsprechend intensiv darf man diese Elektra vom Monolog bis zum Schluss erleben. Da fliegt in der Hitze des musikalischen Gefechts schon einmal ein Notenständer einem Posaunisten um die Ohren. Herlitzius setzt mit ihre zugespitzten Unbedingtheit einen Kontrapunkt zur bürgerlich prächtigen Lesart der Partitur durch Thielemann und das distanziert ladyhafte Auftreten von Anna Schwanewilms als Chrysothemis und Waltraud Meier als Klytämnestra. Die beiden sind jeder Zoll mehr Gräfin und die Schauspielerin Clairon aus Capriccio als Mutter und Schwester im archaischen Elektra-Taumel und scheinen sich auch musikalisch im Stück geirrt zu haben. Vor allem Schwanewilms tritt mit blutroter Samtrobe und blonder Mähne auf wie eine unterkühlte Hollywood-Diva aus den 40-er Jahren. Geschliffen und poliert liefert sie Ton um Ton, wobei was die Tragfähigkeit der Stimme und deren Höhe angeht, bald die Grenzen hörbar werden. Thielemann hat alle Mühe, das Orchester zu drosseln, damit diese Chrysothemis überhaupt vernehmbar bleibt und über die Rampe kommt. Jede der fünf Mägde hat mehr Stimmvolumen. Aber was mich am meisten stört, ist das quasi Unbeteiligte in ihrer ganzen Attitüde. Das Drama zwischen den beiden Schwestern wird so nicht spür- und erfahrbar. Schade, aus meiner Sicht eine Fehlbesetzung. Mit der ebenfalls mehr Hofburgball als Mykene atmenden Waltraud Meier als Gattenmörderin hat es eine andere Bewandtnis. Mit Riesenpersönlichkeit und großer Eleganz liefert sie stimmlich eine tadellose Leistung. Man könnte darüber diskutieren, ob ihr die Partie nicht zu tief liegt und ihre musikalische Interpretation deshalb eher defensiv gerät. Eine Belcanto-Klytämnestra ohne jede gewohnte Expressivität und ohne hysterisches Lachen am Ende der wilden Szene mit ihrer Tochter Elektra, die immerhin ihr Genick brechen will. Waltraud Meier singt diese Rolle aber wiederum so schön und fein austariert, dass man dennoch gebannt ihrem Vortrag lauscht, wenngleich jede Spannung nur von der Elektra der großartigen Evelyn Herlitzius ausgeht. Und nicht zu vergessen von René Pape als Traumbesetzung für den Orest. Pape orgelt nicht unvergleichlich nur mit seinem Prachtbass, sondern hält auch interpretatorisch jedem Vergleich bis hin zum legendären Hermann Uhde stand. Frank van Aken gibt den Aegisth mit prägnantem Heldenton in einem halbszenischen Kabinettstück.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die fünf Mädge (Constance Heller, Gala El Hadidi, Christa Mayer, Rachel Willis Sorensen, Nadja Mchantaf) gute Arbeit getan haben, für alle stellvertretend möchte ich Nadja Mchantaf als strahlend beharrliche Verteidigerin Elektras hervorheben. Eine Luxusbesetzung hat man sich mit Nadine Secunde als Aufseherin erlaubt. Im besten Sinne „Alte Schule“ zelebriert sie vor, was musikdramatische Intensität sein kann. Peter Lobert (Pfleger des Orest), Romy Petrick (Vertraute), Ute Selbig (Schleppträgerin), Simeon Esper (junger Diener) und Matthias Henneberg (alter Diener) sind präzise Stichwortgeber.
Ein insgesamt gewinnbringender Abend mit tollem Orchester und zwei hervorragenden Solisten auf dem Zenit ihres Könnens.
Ingobert Waltenberger