“Der Zwerg” und “Botschaften der verstorbenen R.W.Trussova” im Wilhelma-Theater Stuttgart
TIEFER BLICK IN DIE FINANZBRANCHE
“Der Zwerg” und “Botschaften der verstorbenen R.V.Trussova” am 8. Februar 2014 im Wilhelma-Theater/STUTTGART
1922 in Köln uraufgeführt, gehört Alexander von Zemlinskys Einakter “Der Zwerg” zu seinen expressivsten und revolutionärsten Werken. Katrin Prick hat dieses Werk nun mit Studenten der Stuttgarter Musikhochschule packend inszeniert und entführt die Zuschauer in die bizarre Welt der Finanzbranche. Bühne und Kostüme von Birgit Angele wirken hier wie Utensilien eines riesigen Bankgebäudes. Tanja Christine Kuhn mimt und singt die Infantin von Spanien mit nie nachlassender Emphase und hellen Spitzentönen. Unter Anleitung des von Shinyoung Yeo facettenreich gesungenen Haushofmeisters Don Estoban werden die prunkvollen Geschenke aus zahlreichen Schrankkästen geholt und der Infantin Donna Clara zu Füßen gelegt. Zusammen mit ihren Gespielinnen entfacht die Infantin ein überaus kämpferisches Getümmel – schließlich wird sogar ein lebender Zwerg präsentiert, den Christian Georg mit geradezu sensationeller Energie und voluminöser Strahlkraft verkörpert. Sein Tenor birgt hier schier unerschöpfliche Kraftreserven. So steigert sich die Handlung von Minute zu Minute und lässt das Publikum keinen Moment zur Ruhe kommen. Die Gesellschaft macht sich allerdings über den Zwerg lustig, was Kathrin Prick drastisch zur Schau stellt. Schließlich ist die Infantin durchaus berührt vom aufrichtigen Gefühl des Zwerges und möchte mit ihm allein sein, obwohl sie ihn zunächst mit einer ihrer Hofdamen verheiraten wollte. Ihre von Lisa Böhm mit klarem Timbre gesungene Lieblingszofe Ghita wird schließlich gnadenlos gezwungen, dem Zwerg einen Spiegel zu zeigen, um ihn von seiner Hässlichkeit zu überzeugen. Die bittere Erkenntnis, dass er anders ist als in seiner Vorstellung, lässt den Zwerg an sich selbst zerbrechen. Dies gehört zum stärksten und unmittelbarsten Moment dieser im Grunde genommen eher schlichten Inszenierung. Die Damen erscheinen plötzlich allesamt mit Bärten und Zipfelmützen und geben der Handlung damit eine grausig-groteske Wendung. Die herbeieilende Ghita kann ihm nur noch die Bitte erfüllen, mit der weißen Rose in der Hand zu sterben.
Der impulsive Dirigent Nicholas Kok vermag der oftmals aufwühlenden Musik Alexander von Zemlinskys glutvolle Intensität zu verleihen. Melodisch-rhythmische Vorgänge werden auch von den drei Zofen (Dafne Boms, Alice Chinaglia und Carmen Seibel) sowie von den vier Damen der Hofgesellschaft (Inger Torill Narvesen, Miriam Klein, Lisbeth Rasmussen Juel und Jasmin Hosseinzadeh) in exzellenter Weise verdeutlicht. Die thematischen Verbindungen leuchten immer wieder hell auf, denn die Instrumentalisten der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart mit ihren Gästen lassen das differenzierte Motivmaterial grell zu Gehör kommen. Miniaturen und Variationen werden überaus klangfarbenreich präsentiert – so entsteht ein höchst spannendes und musikalisch-strukturiertes Beziehungsnetz. Dramaturgische Mehrdeutigkeiten zwischen Traum und Wirklichkeit lässt die Regisseurin Kathrin Prick mit kluger Weitsicht deutlich werden. Leitmotive werden hier allerdings nicht wie bei Wagner als feste dramaturgische Nomenklatur gebraucht, sondern mit chromatischen Spitzfindigkeiten verfeinert. Zemlinsky erweist sich dabei auch als ein Meister der Instrumentationskunst, was der umsichtige Dirigent Nicholas Kok hervorragend herausarbeitet. Robustere und schärfere Klangfarben kommen hier ebenfalls nicht zu kurz, sondern finden ihre Entsprechung auf der glitzernden und manchmal sogar dämonisch funkelnden Bühne. Das ist sehr gut inszeniert und es kommt keine Langeweile auf. Wagnersche Leitmotivtechnik und Brahms’sche Variantentechnik werden in harmonisch eindringlicher Weise miteinander verbunden. Eine packende Ensembleleistung. Die Kammerfassung des Werkes wurde 2013 in Stuttgart von Jan-Benjamin Homolka erstellt. Der Text stammt von Georg C. Klaren nach der Erzählung “The Birthday of the Infanta” von Oscar Wilde.
Kaum weniger eindrucksvoll ist die zweite Komposition – die “Nachrichten der verstorbenen R.V. Trussova” von György Kurtag, die 1981 in Paris uraufgeführt wurden. Das Werk erklingt in der subtilen Inszenierung von Bernd Schmitt in russischer Sprache. Das Bühnenbild von Birgit Angele mit den vielen Schließfächern bei Zemlinsky wird hier weitgehend übernommen. Laut Bernd Schmitt weiß man nicht, wer Frau R.V. Trussova war. “Wir kennen nicht einmal ihren Vor- und Vatersnamen. Aber es bleiben von ihr Botschaften der ungestillten Sehnsucht und des Verlangens, von Genuss und Zärtlichkeit, von Unterdrückung und Gewalt.” Dies vermitteln die drei auch darstellerisch ausgezeichneten Sopranistinnen Minyoung Lee, Marie-Pierre Roy und Rita Varga in großartiger Weise. So entspinnt sich zwischen den drei Frauen ein überaus beklemmender Existenz- und Überlebenskampf: “Der Tag fiel guillotinengleich…” Es sind Botschaften von Menschen, die selber quieken wollen wie ein Schwein, weil sie von grunzenden Kreaturen umgeben sind. Das Ensemble besteht aus Oboe, Klarinette, Horn, Mandoline, Cymbalon, Harfe, Klavier, Celesta, Vibrafon, Xylophon, Glocken, Schlagzeug und drei Streichern. Und die Singstimmen scheinen diese Instrumente bei ihren heftigen emotionalen Ausbrüchen sogar noch imitieren zu wollen. Glissando-Effekte und Tremolo-Sequenzen der Streicher prägen sich bei dieser suggestiven Wiedergabe tief ein. Ein chromatischer Abstieg begleitet die Sängerinnen bei ihren psychischen Höhen- und Tiefflügen. Das ist stellenweise wie bei einer harmonischen Achterbahnfahrt. Gelegentlich fühlt man sich hinsichtlich des suggestiven Sprechgesangs sogar an Arnold Schönbergs “Pierrot lunaire” erinnert. “Doch unerträglich schmerzvoll ist der Seele das Schweigen der Liebe”, heißt es bei Anna Achmatowa – und wirkt hier fast als Motto für die gesamte Handlung. Die Verdichtung von musikalischen Texturen im Stil Anton Weberns ist dabei deutlich herauszuhören. Das Motiv der Einsamkeit steht im Zentrum des Geschehens.
Alexander Walther