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BERLIN/ Philharmonie: DIE JOHANNES-PASSION als in Szene gesetzte Leidensoper

Berlin/Philharmonie: Die „JOHANNES-PASSION“ als in Szene gesetzte Leidensoper, 28.02.2014

Johann Sebastian Bachs Passionen zu tanzen oder sie szenisch zu beleben, gilt schon lange nicht mehr als ein Sakrileg. Genau genommen enthalten sie mit ihren Rezitativen, Arien und Chören die wesentlichen Bestandteile eines Bühnenwerks. Manch ein Zeitgenosse Bachs kritisierte sie sogar als zu opernhaft.

Tatsächlich wird die „Johannes-Passion“, BWV 245, wenn sie so einfühlsam inszeniert wird wie jetzt von Peter Sellars in der Berliner Philharmonie – bei entsprechender musikalischer Umsetzung – zum Musiktheater und zu einem Gewinn für das Publikum. Das verwirklichen mit spürbarem Engagement und überzeugenden Leistungen die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle, die großartigen Solisten und der spielfreudige Rundfunkchor Berlin.

Vor rund vier Jahren machten Rattle und Sellars mit der szenischen Darbietung der Matthäus-Passion den Anfang. Eine Sternstunde, die als eine der größten Leistungen Rattles als Chef der Berliner Philharmoniker gilt. Jetzt also die kürzere Johannes-Passion. Wie die ihn ebenfalls packt, verraten sein deutlich erkennbares (vielleicht lautloses) Mitsingen, seine Gesten und seine Mimik. Hier steht plötzlich ein Anderer vor den Seinen, auch nicht vorne auf dem Pult, sondern seitlich bei den in kammermusikalischem Format agierenden Instrumentalisten, die die Arien im Verlauf so berührend umrahmen, wie Bach sie komponiert hat.

Hauptdarsteller ist eigentlich der Rundfunkchor Berlin, einstudiert von Simon Halsey, mit dem sich Sellars behutsame Regie-Ideen einprägsam umsetzen lassen. Vielen Mitgliedern ist die Ergriffenheit anzusehen und anzuhören. Am Anfang liegen die schwarz gekleideten Damen und Herren rücklings auf dem Boden, heben beim „Herr, Herr“ des Eingangschores die Arme, als wollten sie zum Himmel flehen. Gestisch dann eine Choreografie bietend, singen sie stehend, anschließend kniend ihre Verse.

Wieder aufrecht, haben sie sich in Ton und Haltung in die Meute verwandelt, die Jesus gefangen nehmen und hinrichten lassen will. Der Evangelist Mark Padmore (Tenor), in dieser Partie ein Weltstar, geht durch die Reihen, kauert später fast immer neben Jesus, als wäre er sein alter Ego. Eine gesangliche und schauspielerische Glanzleistung, der die übrigen Solisten nicht oder kaum nachstehen. Bis auf den Jesus ist das Team identisch mit dem der Matthäus-Passion, und allen ist anzumerken, wie glücklich sie sind, das Gesungene auch spielen zu dürfen.

Den Jesus verkörpert diesmal der Brite Roderick Williams, eine sehr gelungene Wahl. Ein schlanker junger Mann – schwarze Hose, schwarzes Hemd – mit kernigem Bariton, in Typ und Darstellung zwar ein Heiland, der barfuß daherkommt, aber ein wertbewusster „Revoluzzer“, durchaus kein ätherisch Verträumter. Als Gefangener, mit schwarzer Binde vor den Augen, muss er lange auf dem harten Bühnenboden knien und eine (angedeutete) Geißelung erdulden. Bilder, die sofort Verhör- und Folterszenen heutiger Tage im Kopf wachrufen.

Fast unnötig ist es zu erwähnen, dass keiner der Solisten in Frack und Fliege singt. Schon das schafft einen eindringlichen Realitätsbezug, insbesondere beim schlicht gekleideten Petrus. Der gibt den einfachen Mann, der zwar Jesus folgt, aber angesichts der bedrohlichen Massen angstvoll den Kopf einzieht. Der zwar dem Knecht des Hohenpriesters (scheinbar) ein Ohr abschlägt, dann aber wie ein Häufchen Elend in Jesu Armen zusammensackt. Einer der sich schließlich verzweifelt am Boden krümmt, als ihm der Hahnenschrei offenbart, dass er Jesus dreimal verleugnet hat. Eine sehenswerte Schauspielleistung von Christian Gerhaher, der erst im Verlauf mehr Gelegenheit hat, seinen aller Nuancen fähigen Bariton einzusetzen.

Die Damen tragen lange Gewänder, Maria Magdalena ein leuchtend rotes Kleid die Farbe der Liebe. Wie innig umarmt und liebkost sie – Magdalena Kožená mit warmem Mezzo und Babybauch – ihren Jesus, der bei der Arie „Von den Stricken meiner Sünde…“ zärtlich ihren Kopf hält. Zwei Liebende, die das kommende Verhängnis spüren. (Heutige Forscher sehen in Maria Magdalena die Frau des Jesus von Nazareth).

Camilla Tilling, eine noch junge Mutter Jesu, trägt das ihr traditionell zugedachte Blau. Mit sternenklarem Sopran singt sie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“. Nur die fein zisilierten Arien des hoch gewachsenen Tenors Topi Lehtipuu lassen etwas an Durchschlagskraft vermissen.

Nach der (unüblichen) Pause schlüpft Gerhaher – nun im feinen Anzug plus Lackschuhen – in die Rolle des Pilatus. Stimme und Haltung zeigen ebenso die Sympathie mit diesem Jesus wie seinen Abscheu vor den gierig die Kreuzigung fordernden Juden (Glanzpassagen des Rundfunkchors).

Fabelhaft variiert Gerhahers Bariton hier zwischen Nachdenklichkeit („Was ist Wahrheit?“) und energischem Auftreten. Aus Angst um die eigene Karriere gibt er bekanntlich dem Volkswillen nach. Sein „Golgatha“ und das „Sehet, welch ein Mensch“ rütteln auf.

Dieser Mensch – Jesus – steht nun nicht mehr aufrecht da wie bei den üblichen Passionsdarbietungen, sondern liegt als geschundene Kreatur am Boden. Einer, der seine Worte nur noch leise herausstöhnt und dann stirbt. Wie innig und doch mit einem gewissen Verständnis singt Magdalena Kožená das „Es ist vollbracht!“

Gerhaher, gerade noch als Pilatus markant durchsetzungsfähig mit „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“, liegt nun ebenfalls am Boden, doch als ein anderer, ein Gläubiger. Zum Weinen schön bringt er die Arie „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“. Zu einem weiteren Höhepunkt wird nach dem Arioso des Tenors die Sopran-Arie der Maria. Camilla Tillings schöner Sopran und sie selbst beben vor Schmerz, diese Mutter hat die Ermordung ihres Sohnes noch nicht überwunden. Mit glasklaren Höhen singt sie ihren Schmerz, an die Welt und den Himmel gewandt, hinaus: „Dein Jesus ist tot!“

Zuletzt versammelt sich der Chor um Jesu Grab und kündigt mit „Ach Herr, lass’ dein lieb’ Engelein“ zart und intensiv zugleich die Auferstehung an. Erst nach einer nachdenklichen Pause prasselt der Beifall los. Doch es fällt schwer, sich aus der Magie von Bachs Musik und ihrer so plausiblen szenischen Verwirklichung zu lösen. Womöglich hat Bach beim Komponieren dieses dramatische Geschehen so ähnlich vor Augen gehabt.

Ursula Wiegand

 Eine weitere, letzte Aufführung heute/1. März,  um 20 Uhr. Nur noch Restkarten an der Abendkasse.

 

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