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MANNHEIM: DER IDIOT von Mieczysław Weinberg

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Uraufführung in Mannheim: „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg (Vorstellung: 17. 7. 2013)


Ludmila Slepneva als Nastassja neben Dmitry Golovnin als Fürst Myschkin in der Ballszene, in der ein Kuhhandel um ihre Person entsteht (Foto: Hans Jörg Michel)

 Vor drei Jahren wurde der polnische Komponist Mieczysław Weinberg (geb. 1919 in Warschau, gest. 1996 in Moskau), der als Schostakowitsch-Nachfolger gilt, bei den Bregenzer Festspielen wiederentdeckt, wobei seine Oper „Die Passagierin“, deren Deutsche Erstaufführung kürzlich in Karlsruhe stattfand, einen Sensationserfolg feierte und eine zweite Oper von ihm („Das Portrait“) im Theater am Kornmarkt aufgeführt wurde. Im Vorjahr kam es im Studio des Theaters Erfurt zu der szenischen Uraufführung seiner Kammeroper „Lady Magnesia“. Und nun fand im Nationaltheater Mannheim eine weitere Uraufführung statt: „Der Idiot“. Da die Premiere dieser Oper in vier Akten, die eine Spieldauer von knapp vier Stunden hat, vom 5. auf den 9. Mai verlegt wurde, war es dem Rezensenten aus Termingründen erst möglich, die letzte Vorstellung der ersten Serie dieser Produktion zu besuchen.

 Die Handlung der Oper, dessen Libretto Alexander Medwedjew nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewskij verfasste, wobei er das Geschehen des Romans auf die Liebesbeziehung zwischen Myschkin und Nastassja verkürzte: Der junge und vermeintlich mittellose Fürst Myschkin leidet an Epilepsie. Nachdem er fünf Jahre in der Schweiz behandelt wurde, kehrt er in seine Heimat zurück. Im Zug nach St. Petersburg trifft er auf den reichen Rogoschin, der von einer Leidenschaft für Nastassja getrieben ist, die in der Stadt als begehrte Mätresse gilt. Der naiv an das Gute im Menschen glaubende Fürst, der als eine Art russischer Don Quichotte angesehen wird, verfällt Nastassja ebenfalls und will sie retten. Zwischen ihr und der jungen Aglaja wird er selbst Teil eines Geflechts von materiellen und sexuellen Abhängigkeiten, von Verletzungen, Besessenheit und Beziehungsunfähigkeit, das schließlich mit Rogoschins Mord an Nastassja endet. An ihrer Leiche halten der Mörder und Myschkin einander in den Armen.

 Regula Gerber gelang eine atmosphärisch dichte Inszenierung dieses musikalischen Meisterwerks, das Weinberg im Angedenken an Schostakowitsch komponierte. Sie ließ bereits während der Ouvertüre Nastassjas Demütigungen durch eine rücksichtslose Männerwelt anklingen, indem sie als Prostituierte von einem Mann vergewaltigt wird.

Auffallend eloquent ihre Personenführung aller Figuren, die sich immer wieder im Einklang zur Musik bewegten. Köstlich die tänzerischen Bewegungen des intriganten Lebedjew, der seinen gesellschaftlichen Aufstieg durch Bespitzelung der anderen Personen erreicht. Eindrucksvoll die Ballszene, in der die Männer außer dem Fürsten Tiermasken tragen und in der ein echter Kuhhandel um die Gunst von Nastassja entsteht.

 Einfallsreich auch die Bühnenbilder von Stefan Mayer, der es mit einfachen Mitteln und mit Hilfe der Drehbühne schaffte, jedes der zehn Bilder des Werks unterschiedlich und dennoch stets passend zu gestalten, egal ob es ein Zugabteil, ein Salon, ein ländlicher Sommersitz, ein Ballsaal mit Kristallluster oder eine Szene im Freien mit Birkenstämmen war. Die elegant wirkenden Kostüme, deren Entwürfe von Falk Bauer stammen, entsprachen dem 19. Jahrhundert des Zarenreichs. Kreativ auch die Lichteffekte von Nicole Berry; das Video, in der Jesuitenkirche Mannheims gedreht, steuerte Thilo David Heins bei.

 Mit seiner kräftigen und helltönenden Stimme zeichnete der russische Tenor Dmitry Golovnin ausdrucksstark die Figur des naiven und menschlich handelnden Fürsten Myschkin. Eine eindrucksvolle Leistung. Ebenso beeindruckend die russische Sopranistin Ludmila Slepneva als Nastassja, die von Männern begehrte und dennoch unter ihnen leidende Mätresse. Sie bot stimmlich wie schauspielerisch eine exzellente Leistung. Faszinierend auch der Bassbariton Steven Scheschareg in der Rolle des in Nastassja verliebten, sich oft wild gebärdenden Rogoschin, der schließlich zu ihrem Mörder wird.

 Einen besonderen Eindruck hinterließ auch der dänische Bariton Lars Møller in der Rolle des intriganten Lebedjew, der mit seinen tänzelnden Schritten zu den Walzerklängen der Partitur bühnenwirksam agierte. Nicht weniger eindrucksvoll spielte die Sopranistin Cornelia Ptassek die Rolle der schönen Aglaja, die mit dem Fürsten fliehen will. Großartig ihr Auftritt in der Szene, als sie auf Myschkins Verhältnis zu Nastassja anspielt und ihn als „armen Ritter“, als eine Art Don Quichotte, bezeichnet.

 Aus dem großen internationalen Ensemble, das durchwegs eine erstklassige Leistung bot, seien noch genannt: der amerikanische Bassbariton Bryan Boyce in der Rolle des Tozkij, der russische Bass Alexander Vassiliev als General Jepantschin, die polnische Mezzosopranistin Elzbieta Ardam als des Generals Frau und die serbische Sopranistin Tamara Banješević als deren Tochter Alexandra. Der Herrenchor des Nationaltheaters Mannheim, der in diesem Werk eine eher untergeordnete Rolle spielt, wurde von Tilman Michael einstudiert.

Das Orchester unter der betont einfühlsamen Leitung von Thomas Sanderling brachte die teils sehr expressive, lautmalende Partitur des Werks, die aber auch mit zart klingenden Tönen gespickt war, in voller Klangpracht zur Geltung. Zum Komponisten Weinberg ein Zitat des Dirigenten aus seinem Beitrag im informativ gestalteten Programmheft: „Er hatte ein bewundernswürdiges Gespür dafür, wie man einen Stoff möglichst ausdrucksstark musikalisch in eine Oper »übersetzt«. Für den ‚Idiot‘ wählte Weinberg eine volle Orchesterbesetzung, die durchaus der ‚Lady Macbeth von Mzensk‘ gleicht. Wobei Weinberg weit davon entfernt ist, ein Schostakowitsch-Epigone zu sein und zu einer gänzlich eigenen musikalischen Sprache gefunden hat. Bemerkenswert ist, wie Weinberg im ‚Idiot‘ die Technik des Leitmotivs nutzt. Es gibt eine ganze Reihe von immer wiederkehrenden Motiven, die jeweils die Atmosphäre eines Charakters der unterschiedlichen Figuren beschreiben.“ Im weiteren Text weist Sanderling darauf hin, dass Weinberg die Leitmotivik in der Tradition von Richard Wagner verwendete.

 Das begeisterte Publikum im ausverkauften Nationaltheater Mannheim war auch nach vier Stunden nicht zu müde, allen Mitwirkenden großen  Beifall zu zollen. Bravorufe gab es für die russischen Stars der Aufführung Dmitry Golovnin und Ludmila Slepneva sowie für den Dirigenten und das großartige Orchester.

 Udo Pacolt, Wien

 PS: Ein wichtiger Hinweis für Opernliebhaber, die es bisher nicht geschafft haben, Weinbergs Meisterwerk „Der Idiot“ zu sehen: In der kommenden Saison wird die Oper am 12. 1. und am 22. 2. 2014 wiederaufgenommen. Mannheim ist eine Reise wert!

 

 

 

 

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