LEIPZIG / GEWANDHAUS: LE MARTYRE DE SAINT SÉBASTIEN von Claude Debussy
am 6.4. (Werner Häußner)
Wer bei dem selten aufgeführten „Le Martyre de Saint Sébastien“ mit der Musik von Claude Debussy ein christliches Oratorium erwartet, liegt gründlich daneben: Der Schöpfer des groß angelegten Mysterienspiels, der italienische Fin-de-Siècle-Literat Gabriele d’Annunzio, hatte durchaus Interesse an Heiligenlegenden, an einem mystisch überhöhten Glauben, an christlichen Inhalten. Aber seine Idee ist die eines „Mysteriums“, das seine Vorstellungen von antiken und mittelalterlichen Traditionen mit den metaphysischen und symbolistischen Denkwelten der Wende zum 20. Jahrhundert verschmilzt – und das in einer von Nietzsche, vor allem aber von einer von atemberaubendem Narzissmus und Individualismus geprägten Ideologie.
D’Annunzio interessierte sich für wenig anderes als für sich selbst und seine faszinierenden, dekadenten inneren Welten, deren heute noch sichtbarer Ausdruck in Villa und Park des „Vittoriale“ in Gardone am Gardasee zu erleben ist. Der Wohnsitz d‘Annunzios, den er sich von den Faschisten finanzieren ließ, lässt die Selbstbezogenheit und den schrankenlosen Ästhetizismus erkennen, denen d’Annunzio huldigte. Dass er dennoch eine geistige Leitfigur seiner Zeit gewesen ist, bleibt unbestritten; sein ambivalenter Einfluss auf Literatur, Musik, Kunst, aber auch die Politik sind vielfach beschrieben, auch wenn seine Werke heute kaum mehr rezipiert werden.
1910 hatte sich d’Annunzio vor seinen Gläubigern nach Paris geflüchtet und realisierte in der geneigten Atmosphäre der „belle époque“ ein „Gesamtkunstwerk“. Inspiriert von Richard Wagner, aber auch seinen eigenen Ideen von einer Integration aller Künste, wollte er Schauspiel, Musik, Tanz. Literatur und Malerei zu einer großen Einheit bringen. Die Wahl der Sebastians-Legende dürfte dabei nicht zufällig gewesen sein: In dem Märtyrer des dritten Jahrhunderts sind Antike und Christentum präsent; er war im Mittelalter und in der Renaissance ein populärer Heiliger, in der Kunstgeschichte oft dargestellt. Aber der von Pfeilen durchbohrte Jüngling diente oft nur als Studienobjekt für den männlichen Akt. Und mancher venezianischer Patrizier hing ein Sebastians-Gemälde nicht aus frommer Verehrung auf, sondern weil sich darin kaum verhohlen die homoerotischen Neigungen der Epoche manifestierten.
Für d’Annunzio war wohl der Aspekt der „Kunstreligion“ entscheidend: Die Sebastian-Legende eignete sich für die schwüle Verbindung einer mystisch-eklektischen Religiosität mit schwärmerischer Ekstase, sublimer Erotik und frivoler Todessehnsucht. Der Text scheut sich nicht, mit dem antiken Adonis auf Sebastian und Christus anzuspielen – Adonis, der glückselig aus dem Hades zurückkehrt. Wie in seiner dekadenten Glorifizierung und Mythifizierung des Krieges verrührt d’Annunzio Tod, Gewalt, Krieg, Blut und Eros zu einer wollüstigen, überstilisierten, sinnlichen Melange.
Das fünfstündige Mysterienspiel, 1911 uraufgeführt mit der Ausdruckstänzerin Ida Rubinstein als Sebastian, provozierte einen ungeheuren Skandal. Der Erzbischof von Paris störte sich zwar vornehmlich an den nackten Beinen und dem jüdischen Bekenntnis der Tänzerin und drohte mit Exkommunikation. Der dekadente Begriff des Martyriums, der mit dem christlichen nichts zu tun hat, scheint ihn weniger behelligt zu haben. Für die Musik hatten d’Annunzio und Ida Rubinstein mit sicherer Hand einen jungen Komponisten gewählt, dessen Musik genau zu der Atmosphäre des Stücks passt: Claude Debussy. Das instrumentale Raffinement, die exquisite, schwebende harmonische Konzeption, die atmosphärische Sensibilität der Komposition geben ihnen Recht.
Heute, wenn es denn überhaupt einmal aufgeführt wird, ist dieses vielsagende Zeugnis der Musik des Fin de Siècle in einer konzentrierten Fassung zu hören, die Debussys Musik mit Zwischentexten und melodramatischen Abschnitten in einen dramaturgisch befriedigenden Zusammenhang stellt. In dieser Form erklang das Werk nun im thüringischen Suhl und im Gewandhaus in Leipzig in einem Konzert des MDR Sinfonieorchesters und des Rundfunkchors. Und Debussys Musik überzeugt auf der ganzen Linie – nicht nur als tönender Spiegel der geistigen Strömungen und musikalischen Entwicklungen der Zeit, sondern vor allem durch ihre Poesie, ihre Intensität und ihr unerhörtes klangliches Raffinement.
Mit James Gaffigan hatte das MDR Sinfonieorchester einen Dirigenten, der sich auf Debussys subtile klangliche und harmonische Differenziertheit einstellt und den Riesen-Apparat dynamisch im Zaum hält. Entscheidend für die Wirkung ist auch die Balance, etwa zwischen flächigen Streichern und Bläsern, die sich von einer beigemischten Farbe zu einer selbständigen Stimme entwickeln. Die Violinen bewähren ihren homogenen Klang in fragilen Piano-Flächen, die Blechbläser erreichen die archaische Lakonik der modal gefärbten Einleitung ebenso wie den hymnischen Triumph im dritten „Haus“ – wie d’Annunzio die fünf Abschnitte nach mittelalterlichem Vorbild bezeichnet. Glanzvoll und sorgfältig ausgewogen die Hörner; mit zartem Schmelz, aber auch markanten Akzenten die Harfen. Am Ende des ersten „Hauses“ („Der ganze Himmel singt“) meint man in einem hymnischen Finalakkord schon zu hören, wo später Olivier Messiaen anknüpfen wird.
Till Aly hat die rund sechzig Sängerinnen und Sänger des MDR Rundfunkchores auf einen präsenten, unverraucht klar geschnittenen Klang verpflichtet: Er hält sich im Piano licht und kühl, flammt im Forte zwar machtvoll, aber nicht inbrünstig auf und meidet so eine leicht ins Sentiment gleitende Pseudo-Romantik. Der Glanz der a-cappella-Stellen, vor allem im Finale, stellt dem Chor das beste Zeugnis aus. Sunnyi Melles braucht angesichts der Klangfluten als Sprecherin das Mikrofon bitter nötig, kann so differenziert vortragen und den Text akzentuiert verlebendigen. Das eröffnende Duett zeigt den Mezzosopran Sasha Cooke und die Altistin Karina Schoenbeck gut bei Stimme. Laura Tatulescu tut sich mit der Sopranpartie dagegen keinen Gefallen: Sie versucht mit Brillanz im Ton wettzumachen, was ihrer Stimme an tragendem Kern fehlt, um entspannt auf üppig gefluteten Linien zu singen. Mit dem Ergebnis, dass sie immer schriller, mit immer weniger Körper und immer mehr störendem Vibrato ihre Partie zu Ende bringt.
Zu Beginn des Konzerts, in „La Damoiselle élue“, konnte sich Tatulescu mit seidigem Piano viel vorteilhafter zeigen. Das ebenfalls selten zu hörende Werk des jungen Debussy basiert auf einem Text des englischen Malers Dante Gabriel Rossetti, der vor allem durch seine sinnlich-symbolistischen Frauenbilder berühmt geworden ist. In dem Poem sehnt sich eine dieser Frauen an der Schwelle des Paradieses nach der Vereinigung mit dem noch auf Erden weilenden Geliebten. Debussy gelingt es, die unbestimmte, schwebende Atmosphäre und die von Erwartung und Trauer umflorte Sehnsucht der „auserwählten“ Seele einzufangen.
Gaffigan und das MDR Sinfonieorchester realisieren die samtigen Streicherklänge in edel gedämpftem Piano, finden auch zu den zarten Kaskaden des Klangs, der die sprühenden Sterne symbolisiert. Die Bläser entwickeln diskrete Noblesse, selbst wenn der Flöte und dem Englischhorn nicht jeder Ansatz gelingt. Auch dies ein Werk, das öfter zu hören sich lohnt, weil der „systematische Hang zur Verschwommenheit in Ausdruck und Form“, den die Jury des Rompreises 1888 kritisierte, heute als Merkmal der avancierten Qualität dieser Musik wahrgenommen wird. Die schwebende Atmosphäre des Textes ist kongenial eingefangen in einer tonal instabilen, harmonisch unbestimmten, in der Dynamik aus feinsten Schattierungen lebenden Musik.
Werner Häußner