VOLL STÜRMISCHER LEIDENSCHAFT
5. Sinfoniekonzert “Glut” des Staatsorchesters Stuttgart im Beethovensaal der Liederhalle am 7. April 2014/STUTTGART
Der griechische Dirigent Teodor Currentzis gilt als Ausnahmeerscheinung und gewann zweimal den russischen nationalen Theaterpreis “Goldene Maske”. Sein besonderes Faible für russische Musik demonstrierte er in mitreissender Weise angesichts der stürmischen Wiedergabe von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 “Pathetique” aus dem Jahre 1893. Zuvor gewannen die “Lieder eines fahrenden Gesellen” von Gustav Mahler dank der mit weichem, aber leuchtkräftigem Timbre agierenden Sopranistin Christiane Iven starke Präsenz. Man begriff, dass der arme Geselle seine Liebste verloren hatte und nun ruhelos auf Wanderschaft ging. Durch Sänger wie Kathleen Ferrier, Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey sind diese ergreifend-schlichten Lieder weltberühmt geworden. Schubert “Winterreise” und “Schöne Müllerin” blieben auch hier immer wieder deutlich spürbar. Christiane Iven besaß viel Sinn für die leisen Zwischentöne und tragfähigen Kantilenen, die sich zuweilen mit voluminöser Direktheit behaupteten. Das irreguläre Metrum des Volksliedes strahlte bei “Wenn mein Schatz Hochzeit macht” glanzvoll auf. Häufige Taktwechsel und Stimmungskontraste traten präzis hervor. Bei “Ging heut morgen übers Feld” gewann das ausschreitende Dreiklangs-Thema rasch Kontur, während leidenschaftliche expressionistische Tendenzen bei “Ich hab’ ein glühend Messer” aufschienen. Elegisch und verträumt zugleich kamen dann “Die zwei blauen Augen von meinem Schatz” daher, wobei Assoziationen zum dritten Satz von Mahlers erster Sinfonie deutlich wurden. Dank des durchsichtigen Dirigats von Teodor Currentzis wurde Christiane Iven insbesondere von den mit blühender Emphase musizierenden Streichern des Staatsorchesters wie auf Händen getragen. Der für Mahler wichtige sphärenhafte Geist kam so nicht zu kurz. Zuweilen meinte man bereits die magische Eigenart der Tonsprache Arnold Schönbergs zu erkennen. Klangschwelgerische Intensität zeigte hierbei viele Facetten. Danach erklang dann Peter Tschaikowskys “Pathetique” mit ungewöhnlichen Tempi und wilden Ausbrüchen – wobei die Rubato-Effekte von Teodor Currentzis nicht übermäßig betont wurden. Details schimmerten in bewegender Weise auf. Da wurde nichts dem Zufall überlassen. Ehrlich und intim zugleich wurde hier musiziert. Düster und suchend begann der von leidenschaftlichem Gefühl getragene erste Satz mit einer Klage des Fagotts, aus der sich das erregte und drängende Thema des Allegro non troppo entwickelte. Currentzis trieb die Musiker immer wieder neu an. So kam die Zerrissenheit Tschaikowskys und das seltsam Gequälte, hysterisch Aufbegehrende, Gehetzte und Suchende seines Ichs immer bewegender und erschütternder zum Vorschein. Die fieberhaften harmonischen Kurven stiegen bei dieser Wiedergabe ins Unermessliche. Mit eherner Zwiespältigkeit wurde vom Schmerz der Liebe und ihrem Verzicht erzählt. Trost und Qual zugleich beherrschten dieses monströse Traumbild. Als unerreichbar abgeklärter Gesang spielte das Staatsorchester Stuttgart diese Passagen – und das erste Thema behauptete sich in der Durchführung mit Vehemenz. Ohne dem Schicksal gewachsen zu sein, stürzte der Rebell ins Nichts. Das besaß bei dieser Wiedergabe schon fast eine theatralische Wirkungskraft. Mit seinem Fünfer-Rhythmus, der in der Volksmusik des Ostens häufig vorkommt, beschwor Tschaikowsky dank Teodor Currentzis das gedämpfte Stimmengewirr des Salons beim Allegro con grazia eher dezent und zurückgezogen. Eine leise Wehmut lag geheimnisvoll über dem Mittelteil, das interpretierte Currentzis mit dem Staatsorchester Stuttgart voll innerer Bewegung. Wirblig hob der dritte Satz, Allegro molto vivace, an. Die Oboe spielte keck auf das elektrisierende Marschthema an, das sich aus der huschenden Betriebsamkeit immer bestimmter heraushob. Rhythmische Rasanz triumphierte dabei in atemloser Weise. Im Finale dominierte der ergreifende Klagegesang eines vom Tode Gezeichneten. Schmerzlicher Rückblick und Abschied gelangen Teodor Currentzis mit dem Staatsorchester Stuttgart beispielhaft. Die symbolhaften Beziehungen zum ersten Satz wurden deutlich ausgekostet. Mit verzweiflungsvoller Gebärde bäumte sich das gesamte Orchester auf. Die Tonfolgen der beiden Hauptthemen sanken hinab in das Dunkel der Verzweiflung. Diese Stelle gelang Teodor Currentzis mit dem Staatsorchester am besten. Der herbe Entsagungsschmerz beugte sich dem “unergründlichen Walten der Vorsehung”. Zugleich blieb bei dieser denkwürdigen Interpretation die Hoffnung auf eine Erfüllung, die das Schicksal hier nicht gewährte. Großer Jubel.
Alexander Walther