LEIPZIG/OPER : THE RAKE’S PROGRESS von Igor Strawinsky am 5.4.2014
Sandra Janke (Mother Goose), Norman Reinhardt (Tom Rakewell). Foto: Kirsten Nijhoff
Karin Lovelius (Baba the Turk). Foto: Tom Schulze
In Zusammenarbeit mit dem Teatro La Fenice in Venedig hat sich die Oper Leipzig jetzt an Strawinskys Meisterwerk ” The Rake’s Progress ” gewagt und als Regisseur den jungen italienischen Shooting Star Damiano Michieletto (zuletzt “Falstaff” in Salzburg und “Idomeneo” in Wien) für sein Deutschland-Debut verpflichtet.
Michieletto blieb seinem Ruf treu und verpasste dem Moderne-Klassiker ein radikales Face-bzw. fast schon Bodylifting. Der erste Akt spielt in einer Art Vorstadteinfamilienhausidylle, in dem Tom Rakewell von seinem Schwiegervater in spe dazu angehalten wird, Auto zu waschen, Rasen zu sprühen und Grillwürstel umzudrehen. Fast kein Wunder, dass er dann die erstbeste Gelegenheit benützt, um mithilfe der “Teufelsfigur” Nick Shadow aus dieser Spießerhölle auszubrechen.
Im zweiten Bild finden wir uns in einer trashigen Provinzdisco wieder, in der in einem mit Goldlametta ausgelegten leeren Swimmingpool unglaubliche Massenorgien stattfinden…bzw. vorgegeben werden, stattzufinden. Hier erreicht die Inszenierung ihren absoluten Tiefpunkt an spekulativer Oberflächlichkeit, denn auf die Simulation von Geschlechtsverkehr “in allen erdenklichen Stellungen” durch bekleidete Statisten und Choristen sollte eigentlich jahrzehntelange, wenn nicht lebenslange Haftstrafe stehen.
Fast war man geneigt, den Abend enttäuscht abzuschreiben, als nach der Pause (man soll immer bis zum Schluss bleiben !) ein mittleres Wunder geschieht und die Produktion völlig unerwarteterweise im wahrsten Sinne des Wortes an T i e f e gewinnt.
Denn mit einem Mal senkt sich das trockene,wasserlose Schwimmbecken in einem echten coup de théâtre noch um etliche Meter ab.
Und in diesem schauerlichen Abgrund tragen Nick Shadow und Tom Rakewell ihr entscheidendes Kartenspiel- Duell aus. 18 endlos scheinende Minuten, die zum Eindrücklichsten gehören, was man in letzter Zeit auf einer Opernbühne erleben durfte. Zwischen den beiden Protagonisten baut sich eine solche nahezu unerträgliche gesangliche und schauspielerische Spannung aus, die auch im Zuschauerraum plötzlich fast körperlich spürbar wird, weil sich das mucksmäuschenstille Publikum die ganze Zeit über kaum auf den Sitzen zu bewegen traut. Grossartig.
Anfechtbarer wieder der letzte, im Irrenhaus spielende Akt, in dem mit Lehm beschmierte Choristen überchoreographiert synchron zu zittern haben. Aber das tat – in erster Linie nach der packenden Swimmingpool-Szene – dem großen Erfolg keinen Abbruch mehr.
Vor allem auch wegen der nicht anders als überzeugend zu nennenden Gesamtleistung des – hauseigenen ! – Ensembles: Norman Reinhardt (Tom Rakewell), Marika Schönberg (Anne Truelove), Tuomas Pursio (Nick Shadow) und Karin Lovelius ( Baba the Turk )…
Und nicht zuletzt aufgrund des Dirigats von Anthony Bramall, der die komplexe, nur neo-klassizistisch erscheinende Partitur mit dem Gewandhaus- Orchester transparent, filigran und emotional zelebriert.
Man darf gespannt sein, wie sich diese Produktion (ab Juni) in Venedig – mit einem anderen Cast, einem anderen Orchester und einem anderen Dirigenten – darstellen wird…
Robert Quitta, Leipzig