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ESSEN: CARMEN. Wiederaufnahme am

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Essen: CARMEN (Wiederaufnahme)  am 31.05.2014

1998 hatte die Essener Produktion in der Regie von Dietrich Hilsdorf Premiere, damals mit einer recht blassen Sängerbesetzung. Die Inszenierung fällt völlig aus dem üblichen Rahmen. Das gesamte (!) Stück spielt in der Schankstube einer zeitge­nössischen Kneipe in Gelsenkirchen. Man fragt sich allerdings, wieso dann alle Be­teiligten auf Französisch und nicht in „Ruhrpott-Deutsch“ kommunizieren, nachdem neunzig Jahre nach der französischen Besetzung jedenfalls im Volk niemand mehr Französisch versteht oder gar spricht. Wenn man schon ein solches Regieprojekt wagt, sollte man vielleicht auf die Originalsprache verzichten. Jedenfalls ist das Büh­nenbild von Johannes Leiacker noch heute sehenswert. Durch das Fenster der Gaststätte sieht man einen Förderturm, durch ein anderes den durch industrielle Ab­luft verschmutzten Himmel. In der Gaststätte gibt es einen Zigarettenautomaten, eine Pendeltür zur Küche und eigentlich gar nicht genug Platz, um die speziell im ersten und vierten Akt notwendigen Massen des Chors, der Statisterie und des Balletts aufzunehmen.

Frédéric Buhr hatte die szenische Leitung für die Wiederaufnahme übernommen, und ihm ist die Umsetzung der einfallsreichen und detailgenauen Personenführung Hilsdorfs, angereichert mit einigen eigenen Ideen, hervorragend gelungen. Allerdings spielt sich das Geschehen des Librettos nun einmal im Schmuggler- und Zigeuner­millieu Sevillas ab. Das paßt absolut nicht zu Gelsenkirchen, selbst wenn die Maxime „l’amour est un oiseau rebelle“ auch im „Ruhrpott“ wie eigentlich überall auf der Welt gilt.

Carmen ist hier ein wenig erotischer Jeanstyp, eigentlich genau das Gegenteil der Femme fatale, die in Zeiten der Emanzipation in Deutschland tatsächlich kaum noch, bei Französinnen und Italienerinnen aber durchaus noch anzutreffen ist und sich da­durch auszeichnet, daß sie sich ihrer Weiblichkeit bewußt ist, diese stolz einsetzt und ihr alle Sympathien, insbesondere der Männer, zufliegen, weil sie es versteht, jedem die Illusion zu vermitteln, er sei der Mann ihres Interesses. So gesehen entwickelt Hilsdorf in seinem Konzept gewissermaßen eine Anti-Carmen. Auch Escamillo trifft es hart. Anstatt wie ein glamouröser Star zum Anfassen wirkt die Figur hier wie ein heruntergekommener Popsänger, der durch Kneipen tingeln muß, um zu überleben. Anders als z.B. bei Ponnelle überlebt Zuniga den zweiten Akt. In der Finalszene sticht José auf Carmen ein. Niemand kommt zu Hilfe, obwohl das Lokal brechend voll ist. Stattdessen ziehen sich alle Totenmasken übers Gesicht. Derartig krause Einfälle sind ja bei Hilsdorf nicht ungewöhnlich.

Musikalisch stellt sich für den Rezensenten die Essener Wiederaufnahme als ein Unikum besonderer Art dar. Am Pult stand Yannis Pouspurikas, entgegen seinem griechisch klingenden Namen Franzose. Er schien sich vorgenommen zu haben, einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen und schaffte es, den Abend abzüglich der Pause in einer Zeit von etwa zwei Stunden und zwanzig  Minuten „durchzuziehen“, obwohl die Sollspielzeit rund eine halbe Stunde länger dauert und breit ausmusi­zierende Dirigenten wie Levine oder Barenboim es auch schaffen, fast drei Stunden daraus zu machen. Jedenfalls ließ er dem Orchester und dem Solisten keine Atem­pause. So etwas wie Fermaten oder Generalpausen scheint ihm unbekannt zu sein. Er musizierte geradezu über sämtliche Feinheiten hinweg, sodass bei dem Rezensen­ten der Eindruck entstand, als habe er eine Kurzfassung des Werkes gehört. Für dra­matische Schnittstellen wie z.B. „C’est la retraite“ oder „Adieu pour jamais“ war das ein Desaster. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass das Publikum ihn gleichwohl bejubelte und das wohl kaum aus Freude darüber, eine halbe Stunde früher nach Hause zu kommen. Vielleicht ist der Rezensent auch nur zu anspruchsvoll…

Das Sängerensemble bedarf einer besonderen Analyse. Da war zunächst der Eng­länder Peter Auty, dessen Verpflichtung nicht ganz verständlich ist. Er hat bisher le­diglich an mittleren und kleinen Häusern, vornehmlich in Großbritannien, gesungen, neigt dazu, die Höhen zu stemmen und ist allenfalls als rollendeckende Besetzung zu bezeichnen. Besondere Ausstrahlung hat er auch nicht, wirkt vielmehr etwas ält­lich und im Verhältnis zu Carmen zu klein. Geeignetere Besetzungsalternativen hätte es allein im deutschsprachigen Raum viele gegeben. Almas Svilpa als stimmgewal­tiger Escamillo mit allen Extremnoten in Höhe und Tiefe ist z.B. ein glänzender Holländer, den er mittlerweile Land auf Land ab singt. Angesichts der Tatsache, dass der glamouröse Star Escamillo in dieser Produktion zur traurigen Gestalt umfunktio­niert wird, hatte er aber keine Chance, mit dem nötigen Applonb über die Rampe zu kommen. Anders war es mit den Damen.

Hier hat Essen mit der 34jährigen Liana Aleksanyan, einer Armenierin, und der erst 31jährigen Ieva Prudnikovaite  aus Litauen zwei Edelsteine mit besten Zukunftsperspektiven. Aleksanyan ist bereits im Hamburg und Berlin etabliert und hat dort u. a. auch schon die Violetta gesungen. Mit ihrem wunderschön aufblühenden Material berechtigt sie zu großen Hoffnungen. Für Prudnikovaite gilt Ähnliches wie für Svilpa. Ihre Carmen war durch die Rollenanlage in dieser Inszenierung der wesentlichen erotischen Elemente beraubt. Sie hat die Partie bislang nur an ihrem Stammhaus in Vilnius gesungen, machte aber bereits in der Habanera deutlich, dass ihr kraftvoller und höhensicherer Mezzosopran der Partie in jeder Nuance gewachsen ist. Wegen ihrer Modelmaße, auch hinsichtlich der Größe, dürfte sie speziell für Hosenrollen eine Idealbesetzung sein. Mit ihr hat die Essener Intendanz gegenüber der langweiligen Premierenbesetzung einen wirklich guten Griff getan.

Christina Clark (Frasquita), Karin Strobos (Mercédès), Martijn Cornet (Moralès), Albrecht Kludszuweit (Dancairo), Ivan Tursic (Remendado) waren durchweg solide Nebenrollenbesetzungen, wie man sie am Aalto Theater gewohnt ist. Besonders hervorzuheben ist Baurzhan Anderzhanov, der eine vokale Luxusbesetzung für den Zuniga ist und mit seinem Outfit (dunkle Haare, Sonnenbrille, Lederjacke) und seiner Körpersprache eine bemerkenswert maskuline Ausstrahlung einbrachte.

Zu erwähnen ist die hervorragende Choreinstudierung von Alexander Eberle, eben­so die tadellose Leistung der Essener Philharmoniker, wogegen der Kinderchor schrecklich distonierte. Aber das kennt man aus Carmen-Aufführungen. Hier hat wohl der Komponist etwas zu hohe Ansprüche an die Kinder gestellt.  

Klaus Ulrich Groth

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