BERLIN/Deutsche Oper: BILLY BUDD – Der Schöne und das Biest – John Chest triumphiert als idealer Bill 6. Juni 2014
John Chest. Foto: Marcus Lieberenz
Blutrot schwappt frei die Flut und ringsumher wird das Ritual der Unschuld nun ertränkt; Die Besten ohne Kraft, die Schlechtesten voll leidenschaftlicher Besessenheit (William Butler Yeats).
„Aus unseren Taten steigt ein Gericht, aus unseren Herzen ruft die Posaune, die uns lädt“. An dieses Zitat aus der Frau ohne Schatten musste ich denken, als ich den großartigen Burkhard Ulrich als Kapitän Edward Fairfax Vere schuldbeladen im Prolog seinen Erinnerungen nachhängend über die Bühne schlurfen sah. Ein verpfuschtes Leben, ein Mann voller Feigheit und wohl auch Hinterhalt, der Gesetz vor Gerechtigkeit, Angst vor Überzeugung und Politik vor Menschlichkeit stellt. Für mich ist die wohl genialste Oper aus der Feder Benjamin Brittens nach einem Prosafragment von Herman Melville nicht so sehr die Geschichte um in Hass kippendes schwules Begehren, als vielmehr eine Variation des Themas Schuld und Sühne. Kapitän Vere verschweigt sich absichtlich und rettet wider besseres Wissen um den Tathergang des durch einen „Unfall“ ums Leben gekommenen Bösewichts John Claggart Billy letztendlich nicht, nur um die (Friedhofs)Ruhe auf seinem Schiff und in seiner unentschiedenen, ontologisch unsicheren Seele wiederherzustellen.
Dabei wissen ALLE auf dem Schiff, was für ein elender sadistischer Schuft da in der Person des Waffenmeisters und für Disziplin zuständigen Claggart sein unrühmliches Ende gefunden hat. Gidon Saks verkörpert diese wohl zu den furchtbarsten Charakteren der gesamten Opernliteratur zählenden Mixtur aus Jago und Mephisto mit äußerster Intensität. Mit seinem kohlrabenschwarzen Bass vermag Saks alle Nuancen an Gewalt, Drohung und verzweifelter Sehnsucht Klang werden zu lassen. Die Musik bleibt so wie heißes Pech an den Trommelfellen der Zuhörer kleben. Die trefflich den Subkontext des Librettos von Edward Morgan Forster und Eric Crozier erhellende Partitur mit Anklängen u.a. an Turandot und Herzog Blaubart hebt vor allem die Rollen der brutal unbeteiligten aber auch tröstenden Natur und des eigengesetzlichen Kollektivs hervor. Unrecht, Intrigen und die tödliche Verfolgung des sprachbehinderten Außenseiters Billy als Kitt einer unter dem Diktat von Krieg und männlicher Hackordnung verwahrlosten Gesellschaft. Die nur eines fürchtet: den Aufstand. Der Friede wird da zur Gratwanderung zwischen kollektivem Kampf gegen einen gemeinsamen Feind und richtig dosierter Unterdrückung.
Nur einer sticht aus diesem Höllenpfuhl an menschlichem Laster und politischem Gefängnis, dieser Versuchsküche aus schuldloser Schuld und Strafe um jeden Preis hervor, ein menschlicher Idealist, der treue Kamerad Billy. Mit John Chest verfügt die deutsche Oper Berlin über eine Idealbesetzung der schwierig zu interpretierenden Titelrolle. Männlich, voller aufrichtiger Prinzipien und dem positiven Glauben an das Morgen wirkt Chest als Billy in der Regie von David Alden so gar nicht naiv. Der Held, der so gerne singt und seine innere Freiheit flüchtig wie ein Vogel der Luft in Sturm und Wind hängt, glaubt an Gerechtigkeit und Verdienst. An all die Werte also, die unsere westliche Demokratie oftmals wie ein Sternenbanner vor sich her trägt, nur um sie – wenn Macht es so will – umso mehr zu ignorieren und zu verletzen. Billy als der makelbehaftete Starke und ungewollt Verschreckung säende Unerschrockene, dem John Chest seinen markanten Kavaliersbariton leiht. Was dem jungen Chest vielleicht noch ein wenig an Persönlichkeit abgeht, macht er durch jugendliche Verve und eine präzise Geradlinigkeit der Figur mehr als wett. Wie überhaupt das Verdienst der neuen Berliner Produktion, die optisch konventionell und schörkellos in einem Schiffsrumpf angesiedelt ist (Bühne Paul Steinberg), in der präzisen Personenführung und dem zwingend dargestellten Geflecht aus kalter Kriegsmaschinerie und individueller Befangenheit liegt. Selbst Billy entgeht dem negativen Sog nicht und wird ohne sein Wissen und ohne Vorsatz schuldig, wie das etwa Heimito von Doderer in seinem Roman „Ein Mord, den jeder begeht“ so eindringlich dargestellt hat.
Die am Ende lautstark bejubelte Aufführung verdankte ihre eindringliche Botschaft und Intensität aber auch den gut bis hervorragend interpretierten kleineren Partien, wie etwa dem orgelnden Bass von Markus Brück als Mr. Redburn, Tobias Kehrer als Leutnant Ratcliffe und Albert Pesendorfer als Mr. Flint. Berührend Lenus Carlson als zweiter menschlicher Lichtblick auf hoher See in der Rolle des Dansker. Auch Thomas Blondelle als intriganter Neuling überzeugt das Publikum mit einer tadellosen Leistung.
Was wäre die Oper Billy Budd ohne die großen Chöre? Die Hundertscharen des Herrenchors und der Herren des Extra-Chors sowie des Kinderchors der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung William Spaulding) wurden am Ende zu Recht lautstark bejubelt. Moritz Gnann sorgte am Pult für große Spannung und die richtige Balance aus kammermusikalischer Durchhörbarkeit und wuchtigem Auftrumpfen der Elemente und Leidenschaften. Ein großer Abend!
Dr. Ingobert Waltenberger