MÜNCHEN – Gärtnerplatztheater: Wiener Blut –Operette, Spielzeitpremiere 9. Nov. 2018
Musik von Johann Strauß (Sohn), für die Bühne bearbeitet von Adolf Müller jun.
Libretto von Viktor Léon und Leo Stein –
Überall „Herzblut“: Hingabe und Enthusiasmus auf der Bühne und im Auditorium
Einlassungen von Tim Theo Tinn
Vor über 20 Jahren hat der Rezensent seine letzte Wiener Blut-Inszenierung als Produktionsdramaturg erlebt. Vorbereitend auf den Gärtnerplatz-Besuch stellen sich Fragen (wissend um die schwere Kunst der leichten Muse): wie macht man das heute? Revue, Spektakel, keine Ressentiments hinterfragend stringent „vom Blatt“ inszenieren, oder, oder?
Handlung und Videos: Trailer (45 Sec.) + Stückeinführung (4,41 Min.) https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/wiener-blut.html?m=345
Der Vorhang geht auf und es ist hübsch – ein reizendendes Bühnenbild – Pavillon mit Hundertwasser-Anmutung auf einer Drehbühne, die den Weg zu allen Szenen ebnet.
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Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, © Christian POGO Zach
Schade, dass der gesamte Bühnenhintergrund pechschwarz ist und somit dem Bühnengeschehen lediglich eine Kulisse liefert, statt vitales Leben zu animieren.
Schade, dass die Kulisse viel zu weit vorn platziert ist, somit nahezu nur als Auftrittsrampe fungiert.
Schade ….. ?????? –Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust. (Goethes Faust)
Vieles wollte der Rezensent hinterfragen – aber muss diese Beckmesserei sein? Tatsächlich saß ich in einem selten so aufgeschlossen erlebtem Publikum. Diese Menschen sind nun mal essentieller Bestandteil einer Aufführung, sollten das tatsächliche Ziel aller Bestrebungen sein, keinesfalls tiefschürfende Kritik -Exegeten.
Somit fand ich es aufgrund der so mitreißenden Publikumsreaktionen (es wurde gelacht, amüsiert, man freute sich usw.) unanständig hier die Kritiker-Keule zu schwingen. Ich werde allgemeine Einlassungen machen, keine Details verhackstücken.
Mit dem ersten gesungenen Ton entstand Überraschung: viele Beteiligte habe ich in letzten Monaten mit wunderbaren Leistungen erlebt – nun entstand Beklemmung. Ich konnte diese Qualität nahezu bei keinem Sänger finden.Nach längerer Irritation komme ich zu folgendem Ergebnis: offensichtlich wurden zu viele Freiheiten bei der Einstudierung in Anspruch genommen. N. m. E. hat der Gesang in der klassischen Operette nicht die Massivität der Fortissimo-Paraden mancher Opern zu erfüllen, sondern die subtile Tiefe/Intimität, die auch im klassischen Liedgesang (auch wenn man mich nun prügelt: z. B. Schubert) nötig ist. Hier wurde allerorten kräftig geschmettert – diese Gesangstechnik Belten (englisch für ‚Schmettern‘) gibt es eigentlich im klassischen Gesang nicht. In wenigen Fällen führte das dann auch zum Bruch beim Aufschwung in höhere Register – da kann man für zukünftige Aufführungen noch viel optimieren – die Stimmen am Gärtnerplatz sind außerordentlich gut – aber ohne Delikatesse im Vortrag verkommt da Manches. Mit Freude konnte der Chefdirigent des Gärtnerplatz -Theaters Anthony Bramallin seiner Loge erkannt werden,hier sicher als korrektiver Spiritus Rector seines kreativen Reiches.
Ebenso waren die Text-Deklamationen oft unverständlich. Es wurde gehastet, geprustet, Vokale wurden verschluckt – etwas mehr Ruhe und Besonnenheit könnte hier der „Weg zum Sieg“ sein. Es muss dabei nach Aussprachedeutlichkeit und betonter Diktionunterschieden werden. Die Ausstattung mit Wortbedeutung/Betonung war insbesondere für Sänger hervorragend, bloß das „Rüberbringen“ war eingeschränkt.
Eine individuelle Würdigung: alle waren blitzeifrig mit Herzblut dabei, aber Wolfgang Hübsch (79 Jahre!!) als Kagler war etwas Besonderes. Selbst die übelsten Kalauer wurden durch ihn zur perlenden Komik. Ein Schauspieler, der auch beim Vorlesen von Telefonbüchern Begeisterung wecken kann.
Die Regie hatte sich zur dramatischen Sichtung der Vorlage entschieden. Also zur Aufbereitung einer komischen Geschichte mit Dialogen in Gesang und Sprache. Dabei wurde der schnörkellose Weg der Humoreske gewählt, ohne soziale Wahrhaftigkeiten. Die überkommenen Konventionen altgedienter Operetten wurden in ausgezeichneter Personenführung bedient. Der Publikumserfolg gibt recht.
Und trotzdem: es ist schade, dass der Weg vitaler Wahrhaftigkeiten nicht gegangen wird.Dazu empfehle ich auch:Walzer-Predigt -Pfr. Vincenzo Petracca,
– Walzerpredigt-Petracca-5.5.2016.pdf [481.7 kB]
Handlungsmuster von Operetten seien seichte, kitschige, nostalgische, reaktionäre Kakophonie, sind blödsinnige Behauptungen. Man muss sich halt aus den Traditionen von beschränktem Interesse lösen und den Gehalt sichten:
Im Wiener Blut gibt es z. B. einen von Dauergeilheit geprägten Grafen, der gleichzeitig mit 3 sexuellen Zielpersonenunterwegs ist und nicht innehalten kann.(„… dann ist vergessen die Moral. ‚Nur noch dies eine Mal! Von morgen an werd’ ich solid!‘ Und morgen, ach, ja dann … Fang ich von vorne an!“). Das sind Themen, die auch in Mozarts Don Giovanni und Verdis Rigoletto wesentlich sind. Dieser Graf hat einen Diener, dessen Geliebte der Dauergeile auch vernaschen will (Mozart, Figaros Hochzeit). Auch der Diener ist einen Seitensprung nicht abgeneigt usw.
Es gibt einen dümmlich heuchelnden Moralapostel. Und mit wahrhaftiger Moral und Ethik befragt: kann es sein, dass auch die Ehefrau des Dauergeilen alles billigen und fördern soll oder muss. Dieses ekelhafte Tun gibt es nur in der Operette?
Und schon sind wir in Tagesaktualität: die Ehefrau des amerikanischen Präsidenten muss genau dieses Schicksal dulden. Ebenso hatgerade jahrelanges solches Fuhrwerken diverser berühmter Dirigenten und anderer Prominenter Öffentlichkeit gefunden.
Im Wiener Blut wird exemplarisch gesellschaftlich privilegiertes desolates Tun Unterprivilegierten gegenübergestellt. Dadurch findet heutePopulistisches jeder Richtung Ausprägung. Dabei gibt „Blut“ auch Raum zu Assoziationen: „Blut ist ein ganz besonderer Saft“ Mephisto in Goethes Faust.
Jetzt geht es natürlich nicht darum, aus dieser Sachlage tragische Momente zu erkitzeln und damit das Genre zu verlassen, aber mit grotesk-trivialen Überhöhungen, mit direkten, durchaus rabiaten Momenten könnte eine narrative Empfindlichkeit entstehen gem. Hugo von Hofmannsthal: „Die Tiefe muss man unter der Oberfläche verstecken.“
Shakespeare: „Wir wissen was wir sind, aber wir wissen nicht was wir sein könnten“. Auch Operette kann Wege zeigen, man muss sie halt gehen (wollen).
Dazu: https://onlinemerker.com/dramaturgische-schriften-von-tim-theo-tinn-nr-3/
Das theatrale Paradoxon sollte sein: nicht dagegen kämpfen! Spielen wir den Possenreißer mit Gleichmut Bewusstsein des Menschen kann durch Theater das nötige energetische Feld schaffen – vieles wird dann obsolet – Geist wird Materie. Theater wird neue/alte Instanz!Beispiele verlorener Menschlichkeit finden sich schon jetzt in Verwaltungen, Bürokratien, Banken, höherem Management, der Justiz, totalitären Systemen u.a. …
Kostüme: eine hochwertige Kollektion historisierender Exaktheit stört mich. Statt des brillanten Handwerks wünsche ich beherzten Zugriff in die Mottenkiste theatraler Überhöhungen und Verfremdungen. Warum muss alle exakt passen und unserer wohlgeordneten Wirklichkeit entnommen sein? Max Reinhardt geht vom Theater der Verzauberung aus, sorgsam dosiertes und geistvoll angereichertes Reizmittel der menschlichen Fantasie, Wahrheitssuche mit Mitteln der Illusion. Was sagt uns da die Ausstattung unserer Konsenzrealität? Last fraktale Formen in den Kostümen blühen!
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Fraktale Dreamies -Pinterest
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Rainbow Mystic – Pinterest
Das Dirigat von György Mészáros: der Eindruck eines sehr feinfühligen achtsamen Musikers entstand. Der Ausgleich zwischen den Instrumentalgruppen, des akustischen Pegels, die gesamte Erhebung der Komposition waren schon beeindruckend. Nur entstand der Eindruck, dass es sich fast um eine Probe ohne Unterbrechungsmöglichkeit handelte, gemessen am zaghaften, zurückhaltenden Zugriff auf Strauß’sche Walzerseligkeit, der vorsichtigen Abstimmung mit den Sängern, die nicht immer klappte. Es gab auch fragende Blicke von Sängern an der Rampe, hier fehlten vielleicht Routine oder auch ausreichende Proben. Vitales Auf und Ab im Kosmos eines JohannStrauß (jetzt bin ich unverschämt), wie ich es bei der Zusammenarbeit als Spielleiter mit Carlos Kleiber (z. B. seine berühmte Boris Becker – Einlage in der Fledermaus) erlebte, hat natürlich eine fundamentale Prägung hinterlassen. Bei diesem sensiblen Beginn könnte ich mir diesen Weg vorstellen.
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Solisten u. Chor Staatstheater am Gärtnerplatz, © Christian POGO Zach
Fazit: dieser Abend ist kein Abgesang auf überkommene Operettentradition, auch wenn er daran knüpft. Das überschäumende Herzblut aller Protagonisten übertrug sich rasch und ungestüm auf das begeisterte Auditorium. Eine selten erlebte Sternstunde – mit Luft nach oben. Operette hat unvergleichliche Zukunft. Denn: „Man kann alles machen – es muss nur gut sein“- Otto Schenk!
Dirigat GyörgyMészáros
Regie Nicole Claudia Weber
Choreografie Cedric Lee Bradley
Bühne Karl Fehringer, Judith Leikauf
Kostüme Marie-Luise Walek
Licht Michael Heidinger
Choreinstudierung Felix Meybier
Dramaturgie Daniel C. Schindler
Fürst Ypsheim-Gindelbach Hans Gröning
Balduin Graf Zedlau Daniel Prohaska
Gabriele Gräfin Zedlau Alexandra Reinprecht
Demoiselle Franziska Cagliari Sophie Mitterhuber
Kagler Wolfgang Hübsch
Pepi Pleininger Ilia Staple
Josef Christoph Filler
Graf Bitowski/Ein Fiakerkutscher Harald Hofbauer
Chor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
München, 10. Nov. 2018
Tim Theo Tinn berichtet aus dem Münchner Gärtnerplatztheater
Profil TTT: Rd. 15 Jahre Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Über 20 Jahre wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freie Tätigkeit:Publizist, Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik u. Quantentheorie für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden).