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Film: QUEEN & SLIM

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Filmstart 9. Jänner 2020
QUEEN & SLIM
USA / 2019
Regie: Melina Matsoukas
Mit: Jodie Turner-Smith, Daniel Kaluuya u.a.

Wie das schon so ist bei Tinder-Dates. Die beiden sitzen einander gegenüber, hier in einem reizlosen Coffee Shop in Cleveland, Ohio, und der Kinobesucher weiß schon, das kann nicht klappen. Sie so cool und forsch, Anwältin, er so nett und freundlich und fromm und Schuhverkäufer. Macht nichts, er bringt sie nur noch in seinem Auto nach Hause. Und übrigens – die beiden sind Afroamerikaner.

Kurze Introduktion für einen Film, der in den USA mehr Aufsehen erregt und bessere Kritiken bekommen hat, als das Ergebnis es wert ist. Aber es ist ein Film, der „schwarze Problematik“ aufrührt, und da will sich niemand die Finger verbrennen (die „Rassismus“-Keule wird einfach zu leicht gezückt).

Und der Ausgangspunkt stimmt, passiert immer wieder, ist oft genug schlecht ausgegangen. Dass die beiden von einem harschen Polizisten gestoppt werden – das passiert auch Weißen, und die halten dann auch den Mund, weil sie wissen, dass sie der Willkür ausgesetzt sind. Man versteht allerdings, dass eine intelligente Afroamerikanerin, die solche Szenen der absichtlichen Demütigung zu oft erlebt hat, dabei ausflippt. Sie zieht ihr Smartphone, der gereizte Polizist schießt, ihr Begleiter fällt ihn an, noch ein Schuß löst sich… der Polizist ist tot.

Slim, der geradlinige Mann, will den Vorfall der Polizei melden. Queen, die weiß, dass zwei Schwarze in einem solchen Fall in den USA keine Chance haben, setzt auf Verschwinden – hinunter nach Florida, mit möglichem Ziel Kuba. Nur weg aus den Staaten. Sie zieht den Mann hinter sich her. Von nun an sind die beiden in diesem Film von Melina Matsoukas, dem ersten Spielfilm der griechisch-afroamerikanischen Regisseurin (bisher auf Werbung und Musikvideos spezialisiert), auf der Flucht.

Und der Titel deutet darauf hin, dass sie als „Outlaws“ so wie „Bonnie und Clyde“ dennoch die Sympathie des Publikums genießen sollen. (Wenn auch Namen wie „Queen“ and „Slim“ nicht in erster Linie einleuchten und auf ein Paar hinweisen.)

Was nun folgt, ist auf seltsame Art uneben, Unglaubwürdigkeit der Handlungsführung begleitet die Handlung durch die ganzen mehr als zwei Filmstunden. Einerseits soll ihr eine Politstory gezeigt werden, die auch typisch ist für die Zeit der Sozialen Medien, wo ein Fall wie dieser sofort verbreitet und instrumentalisiert wird, um Rassenunruhen wieder anzuheizen (und das von beiden Seiten).

Andererseits schickte die Regisseurin die beiden in eine Liebesgeschichte, für die nach Meinung des Zusehers eigentlich keine Zeit ist. Im übrigen schlagen sie mit Problemen sich nach Süden durch, kommen kurz bei ihrem zwielichtigen Onkel unter, der eine Art Puff führt, erhalten hier und da überraschend Hilfe, auch von Weißen, weil sich eine Sympathiewelle für sie aufbaut. Andererseits sind sie aber auch immer wieder in Gefahr, geschnappt zu werden, denn schließlich gibt es eine „nationwide hunt“ nach zwei „afro americans“ – ein dramatisches Element, das die Regisseurin in keiner Weise ausnützt. Und was an der Geschichte „ideologisch“ zu behandelt wäre, schon gar nicht.

Nebenbei eskaliert, an ihrem Fall aufgehängt, die Gewalt: Während die beiden sich liebevoll anschluchzen (tatsächlich ist es eine ausgespielte Sexszene im Auto), schneidet Melina Matsoukas Szenen dagegen, in denen (ohne dass man eine wahre Ursache erfährt) ein schwarzer Junge eine Pistole zieht und unvermutet einen (übrigens schwarzen!) Polizisten erschießt… und das hängt völlig in der Luft.

So laufen mehrere Handlungsstränge nebeneinander, ohne dass sie verknüpft werden, und man wird mit der plötzlichen Liebesgeschichte des ungleichen Paares ebenso allein gelassen wie mit den Rassenunruhen. „Euphorie und Tragödie“, die die amerikanische Filmkritik hier sah, kann man im Grunde nicht erkennen.

Jodie Turner-Smith spielt „Queen“, die selbstbewusst von sich sagt, sie sei ein „excellent lawyer“, wechselt von langer Haarpracht zu Kurzhaarfrisur, mit der sie aussieht wie Grace Jones (mit ähnlicher Entschlossenheitsmiene) und erringt kaum Sympathie. Daniel Kaluuya ist der schwache Slim, der ihr durch seine Gefühlsintensität doch ein starker Helfer im Spiel ist, das die beiden  nicht gewinnen können. Die Regisseurin setzt immer wieder auf Sentimentalität und äußere Effekte (etwa, wenn Slim ein weißes Pferd reitet…), aber sie versteigt sich zumindest nicht zu einem Happyend – das würde ja auch niemand glauben.

Als es dem Finale zugeht, wartet man eigentlich – man ist verdorben durch die vielen, auch guten Filme, die man gesehen hat – auf ein „Thelma & Louise“-Ende, aber die Geschichte endet so unspektakulär, wie sie erzählt wurde. Und das ist schade, denn vom Thema her wäre da eine echte, packende Geschichte drin gewesen. Sie wurde allerdings nicht heraus geholt. Man hat sich auf das „Material“ verlassen und vergessen, es zu gestalten.

Renate Wagner


Film: 7500

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Filmstart: 9. Jänner 2020
7500
Deutschland, Österreich  /  2019 
Drehbuch und Regie: Patrick Vollrath
Mit: Joseph Gordon-Levitt, Omid Memar, Aylin Tezel, Carlo Kitzlinger u.a.

Man muss nicht in die Unendlichkeit des Weltalls fliegen, um Spannung zu erzeugen. Der engste Raum, das Cockpit eines Flugzeugs beispielsweise, reicht gleichfalls aus, um Gänsehaut zu erzeugen. Klaustrophobisch und panisch. Wobei „7500“ vermutlich der Alptraum jedes Piloten ist: Dabei handelt es sich nämlich um die Codezahl, mit der man eine Flugzeugentführung meldet…

Man bleibt im engsten Raum in diesem deutschen Thriller des Regisseurs Patrick Vollrath. Der Ruf des Deutschen leuchtet durch eine „Oscar“-Nominierung für seinen Abschluß-Kurzfilm an der Wiener Filmakademie und durch die Tatsache, dass er von seinem Lehrer Michael Haneke besonders geschätzt und gefördert wurde. Für seinen ersten Spielfilm ist es ihm auch noch gelungen, Hollywood-Star Joseph Gordon-Levitt zu verpflichten, und weil in der Welt des Fliegens ohnedies Englisch die Umgangssprache ist, konnte er einen deutsch-österreichischen und dennoch internationalen Film in englischer Sprache drehen. Der eine starke Sache geworden ist. Vor allem, weil das Thema ja heutzutage niemandem unwahrscheinlich vorkommt…

Man ist in diesem Film nach ein paar Eingangssequenzen immer auschließlich auf allerengstem Raum – gerade dass man vom Cockpit des Flugzeugs her sieht, wie vom vorderen Tor her die Passagiere unter der Aufsicht der Stewardessen einsteigen. Zentrale Figuren dieses Fluges von Berlin nach Paris sind der ältere deutsche Pilot Michael Lutzmann (von dem Darsteller Carlo Kitzlinger heißt es, er sei tatsächlich einmal Flugkapitän gewesen) und sein amerikanischer Co-Pilot Tobias Ellis (Joseph Gordon-Levitt), beide in voller Harmonie agierend. Ellis hat, was vielleicht nicht ganz selten ist in der Branche, eine bereits langjährige Beziehung mit der hübschen, türkischstämmigen Stewardesse Gökce (Aylin Tezel), aber es ist keine Zeit, das private Problem des Kindergarten für den gemeinsamen kleinen Sohn zu diskutieren. Das Flugzeug hebt ab, der Film hat ein Stück selbstverständlichen „Berufs“-Alltags nachgezeichnet, wie er täglich auf Hunderten Flughäfen der Welt abläuft. Alles paletti? Nein.

Denn Terroristen, die eisern entschlossen sind, sich und ihr Leben einzusetzen, um etwas zu erreichen, schaffen das auch ohne Waffen, die sie heutzutage wohl nicht mehr an Bord bringen können. Sie schaffen sich ihre Bedrohungen selbst. Hier sind es scharfkantige Flaschenstücke, die einer Stewardesse an den Hals gehalten den Eingang ins Cockpit erzwingen wollen…
Es wäre unfair, die Geschichte zu erzählen, die den Co-Piloten, der mit seinem Problem bald allein lässt, vor die menschlich schier unlösbare Situation stellt, dass man ihn mit seiner Geliebten erpresst… Drei Terroristen sind es, die ein Blutbad anrichten, zwei von ihnen blind und gnadenlos zu allem entschlossen. Und die Möglichkeit, sie zu bekämpfen, ist denkbar gering. Und doch geschieht vieles…

Bis dann noch das „Duell“ zwischen Ellis und dem 18jährigen Türken Vedat (Omid Memar) übrig bleibt, und Ellis nur versuchen kann, hier zu dem Jungen durchzudringen, der von den anderen in diese Situation hinein gezwungen wurde, selbst kein radikaler Islamist, sondern selbst nur ein verzweifeltes Opfer ist, der aber dennoch die bekannten Rituale der Drohungen und Forderungen  durchspielt. Auch wenn sich herausstellt, dass beide, der Pilot und der Junge, in Kreuzberg nur ein paar Straßen von einander entfernt leben… So stellt sich nicht nur die Frage, in welche Situationen die Männer kommen, die für die Leben hunderter Menschen verantwortlich sind – sondern auch, wer sich da aller unter Druck dem Terrorismus verschreibt, möglicherweise, ohne es wirklich zu wollen. Am Ende ist man notgelandet, die „Verhandler“ treten in Aktion, und wieder weiß man, dass die Katastrophe ihren unabwendbaren Lauf nimmt.

Patrick Vollrath balanciert die Spannung, ohne einen billigen Thriller auf die Leinwand zu bringen. Er zieht die Schuhe seines Helden an, des Piloten in einer schier unlösbaren Situation, wahrt ausschließlich seinen Blickwinkel, wo man ja auch mit Hilfe der Bordkameras immer nur einen Teil dessen sehen kann, was im Flugzeug vorgeht… Schritt für Schritt geht man mit Ellis, sprich dem hoch konzentrierten und hoch überzeugenden Joseph Gordon-Levitt, durch die Katastrophe, fühlt sich mit ihm gefragt, welche Entscheidungen er treffen muss und kann. Das ist nicht spannendes Unterhaltungskino, das ist hautnah die nackte Realität von heute. Und wie immer geht sie für alle Beteiligten schlecht aus.

Nur der Regisseur kann zufrieden sein, denn er hat einen bemerkenswerten Film gedreht – und das auch noch ganz ohne tremolierende Musik.

Renate Wagner

WIEN / Staatsoper: DIE FLEDERMAUS von Johann Strauß

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Daniela Fally als Adele und Adrian Eröd als Einenstein. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: DIE FLEDERMAUS von Johann Strauß

175. Aufführung in dieser Inszenierung

6. Jänner 2020

Von Manfred A. Schmid

Vor 30 Jahren, am 31. Dezember 1979, erlebte die prickelnd stimmungsvolle Schenk-Inszenierung in der gediegenen Ausstattung von Günther Schneider-Siemssen ihre Premiere im Haus am Ring. Die Tradition, Die Fledermaus alljährlich zu Silvester aufzuführen, geht allerdings bereits auf das Jahr 1900 zurück. Bei der diesjährigen Reprise am Neujahrstag also auch schon ein 120 Jahre zurückliegendes Ereignis. Ob diesmal beim Jahreswechsel in der Staatsoper dieser beiden Jubiläen gedacht worden ist, ist dem Rezensenten unbekannt. Besucht wird nämlich die vierte und letzte Vorstellung der aktuellen Aufführungsserie. Doch auch diese hätte mit einer durchaus feierwürdigen Zahl aufzuwarten, handelt es sich dabei doch um die 175. Aufführung in dieser Inszenierung.

Das Publikum ist sichtlich in Feierlaune gekommen und unterhält sich offenbar prächtig, was angesichts der genialen Musik von Johann Strauß, des Melodienreichtums seiner Arien, der mitreißenden Walzer- und Polka-Rhythmen sowie der feinen Instrumentierung – die allerdings zum Großteil nicht vom König der Wiener Operette stammt, sondern von seinem Librettisten und Komponistenkollegen Richard Genée – gewiss kein Wunder ist. In der musikalischen Umsetzung gibt es an diesem Abend jedoch vielerlei Mängel. Wichtige Rollen sind nur unzureichend besetzt. Das beginnt mit Laura Aikin, die als Rosamunde mit der Tessitura dieser Partie nicht und nicht zu Rande kommt, einen ziemlich müden Csárdás („Klänge der Heimat“) hinlegt und Temperament und Leidenschaftlichkeit weitgehend vermissen lässt.

Eine Enttäuschung ist auch Zoryana Kushpler, die sich als Prinz Orlofsky überfordert zeigt und der bizarren Figur des geheimnisumwitterten, großzügigen und höchst eigenwilligen Gastgebers wenig abzugewinnen weiß. Beim Versuch, einen Hauch von Androgynítät auf die Bühne zu stellen, merkt man ihr die gekünstelte Angestrengtheit an. Der markante, stets wiederkehrende Spitzenton in ihrer Auftrittsarie „Ich lade gern mir Gäste ein“ darf zwar üblicherweise durchaus etwas schräg klingen, in ihrem Fall aber ist es ein Schrei, der einfach nicht wohltut.

Jochen Schmeckenbecher ist für den Gefängnisdirektor Frank ebenfalls alles andere als eine Idealbesetzung. Es könnte zwar durchaus reizvoll sein, diese Rolle einmal mit einem Bariton zu erleben, der hörbar aus Deutschland stammt. In diesem Fall aber wirkt er doch etwas zu derb und plump. Wienerischen Schmäh wird man auch bei Peter Schimonischeks Frosch vergeblich suchen, aber seine steirische Variante eines subalternen k.u.k. Beamten fügt sich gut in das Setting ein, das einen bunten Querschnitt der Wiener Gesellschaft im ausklingenden Habsburgerreich bietet: Die Unterschicht wird hier repräsentiert durch die meist aus Böhmen stammenden Dienstmädchen und durch den „Zuagrasten“ aus der Steiermark, dann gibt es  – auf Orlofskys großem Ball – die pseudo-„ungorische“ Gräfin, Gäste aus den Kronländern, den schwerreichen Russen, die gehobene Bürgerschicht der Doctores und der führenden Beamten, man sieht hohe Militärs in schmucken Uniforme, und schließlich die Adeligen, die sich auf Kosten des aufstrebenden Bürgertums amüsieren wollen.

Clemens Unterreiner als Dr. Falke. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Clemens Unterreiner ist ein ansprechender Dr. Falke, darstellerisch wendig und stimmlich stets präsent. Bei seiner Eröffnung des großen Chorwalzers „Brüderlein und Schwesterlein“ fehlt seinem eleganten, nicht sehr großen Bariton aber der gewisse Schmelz. Benjamin Brus singt sich als Alfred unverdrossen und rollendeckend durch das gängige Tenorrepertoire. Die Ida von Valeriia Savinskaia überzeugt durch ihr Spiel mehr als durch ihre – freilich in der Partitur sehr spärlich gehaltenen – gesanglichen Einschübe. Csaba Markovits als Iwan liefert das 0815-Klischee eines Dieners ab.

Von dieser in wesentlichen Teilen suboptimalen Fledermaus gibt es zum Glück noch weiteres Erfreuliches zu berichten. Gesanglich und darstellerisch überzeugen können Daniela Fally und Adrian Eröd. Wie die koloraturenstarke, mit komödiantischer Lust ans Werk gehende Daniela Fally als quicklebendige Adele durch die Aufführung fegt, ist geradezu atemberaubend. Sie ist in dieser Rolle eine Edelsoubrette erster Güte und zeigt, warum es Sinn macht, dieses Paradestück der Wiener Operette an einem erstklassigen Wiener Opernhaus spielen zu lassen. Denn besser und variantenreicher lässt sich „Mein Herr Marquis“ und „Spiel‘ ich die Unschuld vom Lande“ kaum gestalten. Das gilt auch für Adrian Eröd, dem diese Partie des Eisenstein in den letzten Jahren offensichtlich sehr ans Herz gewachsen ist. Er bestätigt erneut seinen Ruf als begnadeter Sänger-Schauspieler. Davon kündet nicht nur sein hinreißend gestalteter Part im Uhren-Duett mit Rosalinde, sondern vor allem sein Auftritt als stotternder Dr. Blind im Gefängnis-Akt, wo er mit seiner Nachahmung des Winkeladvokaten den ohnehin komischen Auftritt des Tenors Peter Jelosits, der den „originalen“ Dr. Blind gibt, noch weit in den Schatten stellt. Fally und Eröd bewähren sich jedenfalls als Retter der Ehre der Wiener Staatsoper auf dem Gebiet der Fledermaus-Haltung.

Und wo bleibt das Orchester? – Hinter seinen Möglichkeiten. Der junge australische Dirigent Nicholas Carter, derzeit Chefdirigent des Kärntner Sinfonieorchesters und des Adelaide Symphony Orchesters, hat ein gutes Gespür für die Melodien des Walzer- und Operettenkönigs, vernachlässigt dabei aber zuweilen die rhythmischen Herausforderungen der Partitur. Manches wird da zerdehnt und verschleppt, was zu Diskrepanzen- z.B. beim großen Finale des 2. Akts – im Zusammenklang von Orchester und den Protagonisten auf der Bühne führt. Der Chor der Wiener Staatsoper macht seine Sache wie gewohnt gut, wirkt aber eine Spur zu routiniert. Die Balletteinlage „Unter Donner und Blitz“ als Ball-Höhepunkt im Palast des Prinzen Orlofsky, choreographiert von Gerlinde Dill, ist eine Augenweide. Zündend wie ein Feuerwerk.

Fazit: Mehr Schatten als Licht bei dieser 175. Aufführung. Geht so. Der Applaus war herzlich kurz.

FREIBERG/ Mittelsächsisches Theater. CENDRILLON von Jules Massenet

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Freiberg / Mittelsächsisches Theater/Theater Freiberg: “CENDRILLON“ VON JULES MASSENET – 7.1.2020

Jules Massenet hat über 20 Opern, Komödien und andere Bühnenwerke geschrieben, aber die meisten Musikfreunde kennen nur seine „Manon“, die oft auf den Spielplänen der Opernhäuser steht. Der sehr erfolgreichen Uraufführung seines Märchenpoems „Cendrillon“ in vier Akten (1899) an der Pariser Opera-Comique folgten Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Frankreich weitere Aufführungen, und in der 2. Hälfte u. a. auch in Brüssel, Genf, New York, am ROH London, an der Komischen Oper Berlin, in Bern und an der MET. Im Herbst hatte es nun am Mittelsächsischen Theater Premiere: am 19.10.2019 in Döbeln und 2.11. in Freiberg (Sachsen), da beide sächsischen Theater 1993 in einer Fusion zusammengeschlossen wurden. Das Theater Freiberg ist ein Drei-Sparten-Theater (Schauspiel, Musiktheater, Philharmonie) und das älteste Stadttheater der Welt , das seit 1789 noch in seinem angestammten historischen Gebäude spielt, aber – gut restauriert – ganz und gar keinen verstaubten Eindruck macht und oft zu kaum bekannten oder selten gespielten Opern einlädt.

Sehr populär ist Jules Massenets Oper „Cendrillon“ nicht und selbst unter Musikfreunden nicht unbedingt bekannt, obwohl darin der bekannte Stoff vom Aschenputtel, Aschenbrödel usw., das seinen Ursprung in griechischen Quellen hat, von Charles Perrault (1628-1803) als Märchen für Erwachsene mit Doppelsinn und doppelbödiger Moral verwendet wurde, der 100 Jahre später von den Brüdern Grimm und Ludwig Bechstein als Märchen verarbeitet und von Rossini als Oper „La Cenerentola“ und von Serge Prokofjew als abendfüllendes Ballett „Cinderella“ („Aschenputtel“ – russisch: Soluschka) auf die Musikbühne gebracht wurde. Vielleicht liegt es an allzu viel romantischem „Feenweben“ und verträumter Geisterhaftigkeit, oder auch, weil es keinen ausgesprochenen „Ohrwurm“ darin gibt.

In ihrer Inszenierung verwendet Judica Semler die seit Jahren und Jahrzehnten üblichen Regie-Attribute und baut daraus – auch als Zugeständnis an das lokale Publikum – ein leichtes, auch amüsantes Stück mit Gegenwartsbezug, Schattenspielen und Traumvorstellungen, aber auch sehr irdischen Gestalten. Zu Beginn „zaubert“ Cendrillon, das unansehnlich kostümierte Aschenputtel in Handspielen mit einem grünen und einem gelben „Handschuh“ (oder Socke) – später auch andere Akteure – Märchenfiguren schemenhaft auf die verschiebbaren hellgrauen Wände mit Blau-, Grün- und Spiegeleffekten eines Mehrfunktionsraumes (Bühne: Ulv Jakobsen). Später wird weiterer Zauber per Video eingeblendet. Den üblichen Flitter-Regen von oben gibt es auch – hier passend, um das Happy End bereits im Feenwald „vorauszusagen“.

Außerdem gibt es einen Sessel und ein vielfunktionales Podest, das durch Drehung zum Laufsteg für die „Parade der Schönen“ oder zum „Sockel“ für die „Erhöhung“ der Fee oder des Königs (Elias Han) wird, letzterer als ostasiatischer Herrscher kostümiert. Durch einen mit Bäumen bemalten Vorhang wird die Bühne später geschickt in einen „Märchenwald“ verwandelt, der mit einfachen Mitteln wirkungsvoll zwischen der Realität des zum Aschenputtel verdammten Mädchens und seinen Träumen vermittelt. Zunächst fegt aber erst einmal viel tadellos gekleidetes Personal in schwarz, die weiblichen Bediensteten mit den üblichen weißen Schürzchen, den Fußboden, und die herrschsüchtige Madame de la Haltière (Katalin Kajan), die keinen Widerspruch duldet und später ihre lange Ahnenreihe besingt, erscheint in übertriebenem, später geschickt verwandelbarem, Outfit.

Die oft kurios übertriebenen Kostüme von Nina Reichmann sind mitunter sehr „gewöhnungsbedürftig“. Die mit leicht schrillem Sopran und zuweilen an der Grenze zum Rezitativischen singende Dimitra Kalaitzi-Tilikidou darf als Cendrillon ihre „ewige“ Brille nicht einmal beim großen Ball abnehmen und dürfte mit ihrem Ballkleid „vorn hui – hinten…“ (nur weißer „Baumwollschlüpfer“ sichtbar), das ihr die beiden passabel singenden Stiefschwestern Noemi (Rea Alaburic) und Dorothée (Alice Hoffmann) halbherzig übergestülpt haben und nicht einmal beim Ball hinten geschlossen wird, kaum Eindruck gemacht haben, oder hat sie dem ewig gelangweilten, desinteressierten, vollschlanken, legeren „Langweiler“-Prinzen (Johannes Pietzonka), der hier die eigentliche Mezzosopranpartie als Tenor singt (was zuweilen auch üblich ist) gerade deshalb gefallen, obwohl er doch „nur“ auf die ehrliche Liebe wartet? Haben sich da zwei gleich Desillusionierte gefunden?

Schon eher stimmig erscheint die Kostümierung des nur in Abwesenheit seiner Gattin mutigen Pandolfe (Sergio Raonic Lukovic), der das Schicksal seiner Aschenputtel-Tochter beklagt, zwischen Strickjacke und elegantem Frack. Die sich wie „Glamour-Girls“ dem Prinzen auf einer Art Laufsteg anbietenden und anbiedernden Prinzessinnen, die in andeutungsweise „leichtem Striptease“ überflüssige „Accessoires“ abwerfen, erscheinen in ausgeflippten „Kleidern“ und operettenhafter Farbigkeit wie auf einem Filmball. Die recht ansehnliche, weiß gekleidete Fee (Lisa Schnejdar), deren Gesang durch Sicherheit und gute Höhe auffällt und die auch darstellerisch ihre Rolle ansprechend gestaltet, wird noch von zwei Doubles in vorgerückten Altersstufen begleitet – warum eigentlich? Soll das bedeuten, dass der Glaube an die gute Fee langsam veraltet und verfällt?

Frieder Post engagierte sich als Zeremonienmeister für seine Rolle. San Tea Lee agierte als Dekan der Fakultät und Stefan Burmester als Premierminister. Die Mittelsächsische Philharmonie erfüllte unter der Leitung von José Gutiérrez ihre Aufgabe gut und auch der Chor des Mittelsächsischen Theaters (Einstudierung: Peter Kubisch), der mit dem, durch Frauenstimmen des A-capella-Kammerchors Freiberg verstärkten, „Geisterchor“ beeindruckte.

Ingrid Gerk

 

WIEN / Kosmos Theater: DAS WERK

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Fotos: Kosmos Theater / Bettina Frenzel

WIEN / Kosmos Theater:
DAS WERK von Elfriede Jelinek
Premiere: 8. Jänner 2020  

Elfriede Jelinek hatte ihre großen Wiener Theaterjahre an Peymanns Burgtheater. Dann dünnte die Zahl ihrer Aufführungen an Wiener Bühnen spürbar aus, ihre zahlreichen neuen Stücke hat man hier nicht gesehen. Nun kündigt Kusejs Burgtheater für Anfang Februar ihr „Ibiza“-Stück „Schwarzwasser“ an – wie meist bei ihr eine Reaktion auf aktuelle Ereignisse. Und das Kosmos Theater holt ein altes Stück hervor – „Das Werk“, 2003 am Akademietheater uraufgeführt, damals ihre „Antwort“ auf die Katastrophe von Kaprun im Jahre 2020, als 155 Menschen bei einem Gletscherbahnbrand starben (und die Verantwortlichen später frei gesprochen wurden).

Damals war das für Elfriede Jelinek Anlaß für eine ihrer großen Sprachattacken, wo sie die Ereignisse von 2000 mit den Erinnerungen an den Bau des Kraftwerks Kaprun verband, der auch Hunderte von Menschenleben kostete, von so genannten „Freiwilligen“, dann von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Es erzeugte Gänsehaut, wie sie in Sprache Bilder des Sterbens malte, in grauenvollen Gleichnissen, mit der ihr üblichen Gnadenlosigkeit. Und Regisseur Nicolas Stemann hat bei der Uraufführung ihre Sprachtiraden in wilde Bilder (samt Leichenteilen in der Waschmaschine) umgesetzt und den Text auf drei junge Schauspielerinnen und einen Chor verteilt (plus Libgart Schwarz ironisch in der Rolle der „Autorin“).

Nun kennt man ja die Methode der Jelinek: Sie schreibt Textflächen, ohne szenische Anweisungen, ohne die Zuweisung an irgendwelche identifizierbare Protagonisten. Die Interpreten bekommen von ihr die Lizenz, damit zu machen, was sie wollen. Und wenn das Kosmos Theater nun (mit dem leichten Jahrestage-Hautgout, die Katastrophe habe vor 20 Jahren stattgefunden) „Das Werk“ auf die Bühne bringt, dann nimmt die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard die Freiheit des Umgangs voll in Anspruch. Dann muss man den Jelinek-Text nicht nehmen, wie er ist, man kann ihn auch kommentieren oder parodieren. Das geschieht zu Anfang des pausenlosen zweistündigen Abends sehr ausführlich, ziemlich weit weg vom Inhaltlichen des Stücks:

Da sitzen drei Damen und ein Herr (ein anderer bleibt zuerst im Hintergrund) eigentlich wie bei einer Fernseh-Talk-Show zusammen: Literaturkritiker, wie sich bald herausstellt, die über die Jelinek reden. Sie jonglieren mit ihrem üblichen Wissenschafts-Jargon, spitzen sich gegenseitig mit Bosheiten an, reden sich in den Wirbel ihrer unverständlichen Hochgestochenheit hinein. Die Phrase, das Pathos, die mediale Aufbereitung stehen zur Diskussion. Man fragt sich nur, wann man zum Thema kommt.

Die „Kaprun“-Schiene des „Werks“ läuft an diesem Abend eher  am Rande. Man amüsiert sich über die Darsteller, die wahrlich souverän ihr Handwerk beherrschen, wenn ihre „Rollen“ auch zumindest bei den drei Frauen nicht gänzlich ausdifferenziert sind. Immerhin, Veronika Glatzner, Alice Peterhans und Tamara Semzov sind brillant. Wojo van Brouwer hat starke Momente in seiner Parodie eines lächerlichen Wissenschaftlers, und Lukas David Schmidt lässt nicht nur eine bemerkenswerte, geradezu magische Singstimme hören, sondern turnt auch entschlossen über Leitern und auf Balustraden.

Darüber hinaus hat Video-Gestalterin Annalena Fröhlich noch einiges zur Ausstattung von Elisabeth Weiß (Kostüme geschmacklos, und plötzlich werden antike Säulen herbei geschleppt) beigetragen: Im Hintergrund droht nicht nur ein schneebedeckter Berg, immer wieder fährt ein riesiges, vielstöckiges Kreuzfahrtschiff der „Royal Caribbean“ (!) vorbei (Achtung, Umweltkrise, heutig!) – und am Ende, ja da gibt es Katastrophen zuhauf, da fallen noch und noch Riesengebäude in sich zusammen, absichtlich gesprengt oder willkürlich zerstört…

Die Aufführung hängt immer wieder stark durch  –  das ist weder bei dem „Geschwätz“-Teil noch bei Jelineks allzu komplexer Sprache zu vermeiden, die man ja doch am besten liest. Dann läuft das Geschehen Gefahr, in viel alberne „Aktion“ zu zerbröseln, dann wieder zersprengt sich der Abend  in Virtuosen-Stücke der Darsteller (immer mit einem gewissen Albernheitsfaktor), und wirkt schließlich am stärksten, wenn man einfach den harten, gnadenlosen Text der Jelinek her nimmt.

Dennoch ist es auch als Ganzes ein so weit gelungenes Unternehmen: Denn heiligsprechen muss man die Jelinek ja nun wirklich nicht (Nobelpreis hin oder her), sie in Frage zu stellen, ist jedenfalls legitim. Und wenn auch nur wenig „Kaprun“ übrig bleibt – ihre sprachlichen Stärken greifen. Und rundum gibt es über weite Strecken ziemlich amüsantes Theater.

Renate Wagner

BIEL/ SOLOTHURN/ Theater: GIOVANNA D’ARCO. Vom Vater gesegnet, von den Leiden befreit

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Giuseppe Verdi: Giovanna d’Arco, Theater Orchester Biel Solothurn, Stadttheater Solothurn, Vorstellung: 08.01.2020

(12. Vorstellung seit der Premiere am 25.10.2019)

Vom Vater gesegnet, von den Leiden befreit

Vom Vater gesegnet und von den Leiden befreit zieht Giovanna etwa in der Mitte des dritten Aktes in die Schlacht um König Karl und Frankreich zu retten. Ob sie von den Leiden wirklich befreit ist, stellt die Inszenierung von Yves Lenoir gerade damit in Frage, wie Giovannas Vater Giacomo in der inszenierten Ouvertüre gezeigt wird: er will mehr als, wie es sein Nachfahre Rigoletto formulieren wird, «culto, famiglia, patria». Wie er seinen Kopf auf den Schoss seiner Tochter, die sich für ihn auf dem Bett in ihrem klaustrophobisch engen, verliesartigen Zimmer (Bühne: Bruno de Lavenère) drapiert hat, legt, lässt tief blicken.

Da die Heiligsprechung Jeanne d’Arc’s (1920; Seligsprechung 1909) und auch die politische Vereinnahmung (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) erst nach der Uraufführung von Verdis Oper erfolgte, sieht sich Lenoir vom Ballast der Mythen und Legenden befreit. Er erzählt die Geschichte von Jeanne d’Arc in der Fassung von Verdi und Solera (deren Zusammenarbeit bekanntermassen alles andere als einfach war, was sie vielleicht auch in der Qualität des Librettos niederschlägt), als die Geschichte eines starken, jungen Mädchens, dass sich gegen die politischen wie gesellschaftlichen Auffassungen (von Rigoletto eben so treffend auf den Punkt gebracht) wehrt und revoltiert. Ist man nun bereit, Verdis immer wieder geäussertes Interesse an Schlaglichtern auf eine Geschichte und nicht unbedingt stringent erzählten Geschichten selbst, anzunehmen und zu akzeptieren, funktioniert Lenoirs Ansatz bestens. Lenoir zeigt Giovanna als starken Charakter, die immer wieder gegen ihren Helikopter-Vater revoltiert und dabei durchaus auch mal Benzin und Streichholz verwendet. Gerade diese übermässige Fürsorge, wie sie bei Rigoletto wieder auftreten wird (vieles aus den frühen Verdi-Opern wird in späteren Werken in perfektionierter Form wieder auftauchen), führt zur falschen Verurteilung Giovannas. Giacomo kriegt die Kurve grade noch und kann seine Tochter um Verzeihung bitten, bevor sie mit seinem Schwert, hier ein Sprengstoffgürtel, in die Schlacht zieht um Frankreich zu retten.

Bildergebnis für theater biel solothurn giovanna d'arco
Foto: Joel Schweizer

Unter Leitung Vito Lattarulos spielt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn einen knackig-frischen jungen Verdi, dessen saftigen Melodien sich der Zuhörer kaum entziehen kann. Die Tempi sind absolut sängerfreundlich, die Interpretation läuft nie Gefahr grobschlächtig zu wirken.

Der von Valentin Vassilev vorbereitete Chor Theater Orchester Biel Solothurn wirkt an diesem Abend nicht so kompakt und klangstark wie gewohnt.

Bildergebnis für theater biel solothurn giovanna d'arco
Foto: Joel Schweizer

Mit ungeheurer Bühnenpräsenz gibt Astrik Khanamiryan eine hervorragende Giovanna d’Arco. Mit schier unglaublichen Kraftreserven, nie enden wollendem Atem und enormer stimmlicher Wandlungsfähigkeit gelingt ihr eine mitreissende Interpretation. Auf hohem Niveau agiert auch Irakli Murjikneli. Er dürfte sich bei Gelegenheit eine grössere Vielfalt an Stimmfarben und Lautstärken aneignen. Erneut in Höchstform präsentierte sich Michele Govi als Giacomo. Gerade seine Bitte um Verzeihung zu Beginn des dritten Aktes war Verdi-Gesang allererster Güte. Konstantin Nazlamov und Pawel Šlusarz ergänzen das Ensemble als Delil und Talbot.

Eine lohnenswerte Begegnung mit einer hochstehenden Regie-Arbeit. Und junger Verdi geht immer!

Weitere Aufführungen: 10.01.2020 im Stadttheater Olten, 12.01.2020 im Stadttheater Solothurn.

08.01.2020, Jan Krobot/Zürich

STUTTGART/ junge oper im Schauspiel Nord: ANTIGONE-TRIBUNAL – Musiktheater von Leo Dick

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Chor der Bürgerinnen, David Kang, Deborah Saffery. Foto: Martin Sigmund

Musiktheater „Antigone-Tribunal“ von Leo Dick im „JOiN“ am 8. Januar 2020 im Schauspiel Nord/STUTTGART

Geballte harmonische Kraft

 Die tragische Geschichte der Antigone wird hier gleichsam neu erzählt. Antigone und ihre Geschwister sind die Kinder von Ödipus und seiner Mutter Jokaste. In der Nachfolge ihrer Eltern regieren Antigones Bruder Eteokles und Polyneikes Theben und geraten darüber in Streit. Polyneikes wird aus der Stadt verbannt und verbündet sich mit Thebens Feinden. So kommt es zum Krieg, in dem beide Brüder getötet werden. Und Kreon, der Onkel von Antigone, wird der neue König. Er erlässt ein Gesetz: Polyneikes darf nicht beerdigt werden, seine Leiche soll vor die Tore der Stadt gebracht werden – den Vögeln und Hunden zum Fraß. Antigone beerdigt ihn dennoch. Kreon verurteilt sie deswegen zum Tode und lässt sie lebendig begraben. Haimon, Antigones Verlobter und Kreons Sohn, kann seinen verblendeten Vater nicht umstimmen. Der blinde Seher Tiresias warnt Kreon vor der Missachtung uralter Gesetze und fordert ihn auf, Polyneikes zu beerdigen und Antigone aus ihrer Gruft zu befreien. Beides erfolgt nicht. Kreon und Antigone gehen schließlich unter – gelyncht von der wütenden Bürgermenge.

Unter der elektrisierenden Leitung von Christopher Schmitz kann sich das Staatsorchester Stuttgart bestens entfalten. Chromatik, Glissandi und Tremolo-Akzente sowie Triller wechseln sich wirkungsvoll ab. Auch der Metronom-Rhythmus ist immer wieder deutlich herauszuhören. Dreimal wird in Slavoy Zizeks 2013 erschienenem Theaterstück „Die drei Leben der Antigone“ Antigones Widerstand gegen jede staatspolitische Vernunft zu einem jeweils anderen Ende geführt. Auf diesem Stück basiert Leo Dicks Musik. Diese bildet die Grundlage für dieses interessante Musiktheater-Projekt für alle ab 16 Jahren. Mit einem eigens gecasteten Bürgerchor beleuchtet man hier auf und hinter der Bühne Fragen nach dem Erhalt, der Veränderung, der Auflösung oder Neuerschaffung politischer Ordnung. Die unsichere Lage in Europa spiegelt sich so auch in der unruhigen Musik von Leo Dick wider. Ein bruchstückhaftes Bühnenbild von Blanka Radoczy (die auch Regie führt) ergänzt die raffiniert eingesetzten „Echo-Kammern“. Andrea Simeons Kostüme wirken hier ebenfalls effektvoll. Als Antigone überzeugt Alice Rossi mit einer erstaunlichen stimmlichen Biegsamkeit, Wandlungsfähigkeit und zielsicheren Höhenlage, die auch den schwierigen Intervall-Spannungen gerecht wird. Nicht minder eindrucksvoll ist der sonore Kreon von David Kang. Deborah Saffery kann Haimon und Tiresias gleichermaßen ein glutvolles Charisma geben. Antigones große Arie kommt als Da-capo-Arie im Barock-Stil daher. Hier kann sich Alice Rossis weiträumige und voluminöse Sopranstimme mit glutvollen Kantilenen in ausgezeichneter Weise entfalten.


Chor der Bürgerinnen, David Kang. Foto: Martin Sigmund

Gerade bei den Ensembleszenen erreicht diese Aufführung eine ungewöhnlich starke melodische Intensität. „Unheimlich dämonisch ist viel, doch nichts ist so unheimlich und dämonisch wie der Mensch“, lautet dabei die Devise, die verzerrte und verfremdete Stimmen aus dem Off immer wieder skandieren. Antigone tritt dabei zwischen zerklüfteten Felsen gleichsam als Untote auf, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen hat. Leo Dicks vielschichtige Musik lebt von Brüchen in der Erlebniszeit. Vieles wirkt schroff und unvermittelt – und der von Eleonora Siciliano nuancenreich einstudierte Chor der Bürger (Paco Aldeguer, Ulrike Dengler, Birgit Filzek, Christiane Frey, Hilmar Friedel, Erika Hahn, Andrea Häuser, Anna Holzhammer, Wolf Liebermann, Sarah Panten, Runi Reinhard, Ronja Schweizer, Werner Stein) entfaltet einen mitreissenden gesanglichen Strom, der das Publikum mit sich fortzieht.

Die Wiederholung im Rahmen der Rhetorik wird dabei vom Komponisten immer wieder erneut herausgestellt. Vielleicht könnten die dramatischen Effekte der Handlung in der Musik auch noch aufwühlender und eindringlicher betont werden. So aber überwiegen die kammermusikalischen Akzente umso mehr. Christopher Schmitz arbeitet jedes Detail der Partitur mit dem Staatsorchester Stuttgart minuziös und sensibel heraus. So lässt er auch den Sängern bei ihren schwierigen Partien genügend Freiraum. Mit Vuvuzelas bläst der Chor zuletzt zum „Jüngsten Gericht“. Da kommt Endzeitstimmung auf. Die Furcht vor dem nahen Tode ist Antigone in der packenden Darstellung von Alice Rossi deutlich anzumerken. Harmonische Durchformung und innerer Gehalt bilden dabei keine Gegensätze. Echoblasen und Filterkammern im Internet schaffen hier eine zuweilen sogar beängstigende Atmosphäre. Der Sound dieser Klangsphären wirkt betörend und sogar narkotisierend. Begeisterung gab es am Schluss für dieses gelungene Debüt von Alice Rossi in der Titelrolle sowie für das gesamte Ensemble. 

Alexander Walther

PRAG/ Ständetheater: LOLITA von Rodion Schtschedrin

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Pelegaya Kurrenaya. Foto: Petr Hornik.

Opernrarität in Prag:
„Lolita“ von Rodion Schtschedrin (Vorstellung: 8. 1. 2020)

Im Prager Ständetheater, in dem einst Mozarts Don Giovanni seine Uraufführung hatte, wird zurzeit die Oper „Lolita“ von Rodion Schtschedrin als Tschechische Erstaufführung mit tschechischen und englischen Übertiteln gespielt. Das Werk in zwei Akten, das im Jahr 1994 unter Rostropowitsch in Stockholm uraufgeführt wurde, entstand nach dem gleichnamigen Roman von Vladimir Nabokov, wobei das Libretto der Komponist selbst  verfasste.

Der russische Komponist Rodion Schtschedrin (auch Shchedrin oder Šhedrin geschrieben) wurde 1932 in Moskau geboren und studierte bei Jurij Schaporin und Jakow Flijer. Er begann mit Ballettmusik, die er vornehmlich für seine Gattin Maja Plisetskaja schrieb. Seine bekanntesten Opern sind  Nicht nur Liebe (Moskau 1961), die an Schostakowitschs Oper Nase anknüpfenden Toten Seelen (Moskau 1977) und eben Lolita. Bei den Salzburger Pfingstfestspielen 2012 kam seine Mini-Oper Kleopatra i zmeja mit Mojca Erdmann zur Erstaufführung. Sie hatte der Komponist ursprünglich für Anna Netrebko geschrieben, die damals jedoch wegen Krankheit absagen musste.

In der Prager Produktion von Lolita führte die Slowakin Sláva Daubnerová Regie, die geschickt die Drehbühne für ihre Inszenierung mit Wohnwagen und Motel nützte und damit stets für Bewegung auf der Bühne sorgte. Sehr dezent waren die unausweichlichen Sexszenen gespielt. Für die adäquate Ausstattung zeichnete Boris Kudlička, für die zeitgemäßen Kostüme Natalia Kitamikado verantwortlich.

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Petr Sokolov, Pelegaya Kurrenaya. Foto: Petr Hornik.

Die russische Sopranistin Pelageya Kurennaya war eine zarte und auch verführerisch wirkende Lolita. Gesanglich bestach sie durch eine sichere Höhe, darstellerisch überzeugte sie in jeder Szene. Mit großem Raffinement lockte sie – auf dem Bett liegend –  ihren „Gegenspieler“ Humbert zu sich. Sie kann als Idealbesetzung der Titelrolle angesehen werden. Beeindruckend auch der russische Bariton Petr Sokolov als verführter  Humbert. Mit seiner lyrischen und dennoch kräftigen Stimme sowie seiner großen Bühnenwirksamkeit war  er ein idealer Widerpart von Lolita. Seine Zerrissenheit spielte er in jeder Szene überzeugend.

Sehr temperamentvoll agierte die hübsche slowakische Mezzosopranistin Veronika Hajnová in der Rolle der Charlotte, Lolitas Mutter und Humberts Geliebte. Als sie bei einem Unfall stirbt, verreist Humbert mit seiner Stieftochter im Wohnwagen, wo er schließlich den Verführungskünsten Lolitas erliegt. Die zwiespältige Figur von Humberts Widersacher Clare Quilty, der das Geschehen als Filmproduzent immer wieder provokant kommentierte, wurde vom ukrainischen Tenor Alexander Kravets eindrucksvoll gespielt und gesungen.

Mit tschechischen Sängerinnen und Sängern waren die diversen Nebenrollen besetzt, die allesamt gute Leistungen boten und dadurch das Niveau der Aufführung hochhielten. Für die hohe musikalische Qualität sorgte der in Russland geborene Pianist und Komponist Sergey Neller als Dirigent des Prager Staatsopernorchesters.

Das Publikum im Prager Ständetheater zollte am Schluss der Vorstellung allen Mitwirkenden minutenlang Beifall, unter den sich auch Bravorufe für die Darsteller der beiden Hauptrollen  Lolita und Humbert mischten.

 

Udo Pacolt

 


WIEN/ Staatsoper: LOHENGRIN – mit kurzfristiger Umbesetzung der Titelrolle

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Klaus Florian Vogt musste kurzfristig die Titelrolle übernehmen. Foto: Michael Pöhn/ Wiener Staatsoper

WIENER STAATSOPER: LOHENGRIN – Staatsoper, 9.1.2020

(Heiunrich Schramm-Schiessl)

Diese Vorstellung sollte eigentlich das Wien-Debut von Pjotr Beczala in der Titelrolle sein. Leider sagte er am Vormittag ab und statt ihm sang Klaus Florian Vogt, der auch szt. die Premiere dieser Produktion gesungen hat. Er ist heute sicher der meistgefragte Interpret dieser Partie, und man muss ihm auch zugestehen, dass er sie sehr gut singt, alle Höhen und sonstigen schwierigen Passagen meistert und auch von der Gestaltung her zufrieden stellt. Er hat allerdings auch ein sehr helles, offenes und manchmal ein bißchen trompetenhaftes Timbre, was zumindest für mich seine Leistung zu einer Unvollendeten macht. Seine Elsa war die Hausdebutantin Cornelia Beskow und sie verfügt über einen interessanten, schön klingenden lyrischen Sopran, den sie durchaus gekonnt einsetzt. Allerdings gerät sie in den dramatischen Passagen (noch) etwas an ihre Grenzen. Darstellerisch hat sie mir gut gefallen. Sie stellt nämlich nicht dieses hehre Geschöpf dar, das entweder betrübt oder glücklich ist, sondern ein durchaus resolutes junges Mädchen, das um seine Rechte kämpft und auch trotzig werden kann, wenn sie etwas nicht bekommt, wie z.B. im 3. Aufzug die Erlaubnis von Lohengrin, die bewusste Frage doch zu stellen. Eine erfreuliche Wiederbegegnung gab es mit Egils Silins, der sich in den letzten Jahren rar gemacht hat, als Telramund. Er sang eine sehr eindrucksvolle Klage und war auch im 2. Aufzug sowohl in der Szene mit Ortrud als auch in der Auseinandersetzung mit Lohengrin und dem König sowohl darstellerisch als auch stimmlich mehr als zufriedenstellend. Die Ortrud wurde von Linda Watson mit grosser Stimme gesungen, wobei stellenweise leider ein gewisses Tremolo zu hören war. Allerdings gelangen sowohl die „Entweihten Götter“ als auch der Schluss sehr eindrucksvoll. Ain Anger, mittlerweile auch ein eher seltener Gast, sang den König mit kräftiger Stimme, blieb aber gestalterisch etwas blaß. Boaz Daniel war ein guter Heerrufer.

Leider nicht so zufrieden wie bei seinem „Parsifal“ in der vorigen Saison war ich mit Valery Gergiev am Dirigentenpult und verfestigte sich bei mir der Eindruck, den ich schon nach seinem Bayreuther „Tannhäuser“ gewonnen  habe, nämlich dass seine Stärke eher die großen Musikdramen Wagners sein dürften, während er bei den „romantischen“ Opern etwas Probleme hat. Natürlich gab es wunderbare Stellen, wie das Vorspiel zum 1. Aufzug oder das gut aufgebaute Königsgebet, aber vieles anderes wirkte eher laut und etwas ruppig. Zudem fehlte mir diesmal der große Bogen und gab es auch einige wackelige Choreinsätze, speziell im 2. Aufzug. Der Chor selbst (Leitung Thomas Lang) sang auf seinem üblichen Niveau. Auch die Leistung des Orchesters an sich war in Ordnung.

Am Ende gab es viel Applaus für alle, den meisten Jubel natürlich für den Einspringer.

Zum Schluss sei noch angemerkt, dass diese „Zenzi von der Alm“-Inszenierung, in meinen Augen der grösste Schwachsinn den wir im Repertoire haben, vom neuen Direktor hoffentlich baldigst entsorgt wird.

Heinrich Schramm-Schiessl

STUTTGART/ Opernhaus-Foyer: DIE SCHÖNE MÜLLERIN – Dialog zweier ebenbürtiger Künstler (Matthias Klink & Cornelius Meister)

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Copyright: Staatsoper Stuttgart

Stuttgart

„DIE SCHÖNE MÜLLERIN“ 8.01.2020 (Foyer Opernhaus) – Dialog zweier ebenbürtiger Künstler

 

Zum würdigen Gedenken an den am 1. Weihnachtsfeiertag verstorbenen Peter Schreier wurde dieses Liedkonzert im Rahmen der von Staatsoper und Hugo Wolf-Gesellschaft (deren Medaillenträger er ist) gemeinsam verantworteten Veranstaltungsreihe, standen hier doch zwei Künstler im Rampenlicht, die in völlig übereinstimmendem Dialog zwischen Klavier und Singstimme für eine qualitativ singuläre Interpretation von Franz Schuberts Liederzyklus op.25 mit Texten des ebenfalls früh verstorbenen Wilhelm Müller garantierten.

Die Intimität dieser Kunstform, die im festlichen Foyer des Opernhauses einen idealen Rahmen hatte (die Kartennachfrage hätte indes den größeren Zuschauerraum verlangt), wurde von dem trotz seiner regen internationalen Gastiertätigkeit schon viele Jahre zum Ensemble gehörenden Tenor Matthias Klink und Generalmusikdirektor Cornelius Meister am Flügel in einer Dichte ausgeschöpft, die eine bisweilen szenische Imaginationskraft aufwies. Klink, als intensiver und äußerst differenziert Gestalter auf der Opernbühne bekannt, identifizierte sich auch hier mit dem Wanderer auf eine so eindringliche Weise, als wäre der Zuhörer an seinem anfangs froh gestimmten Marschieren, seinem Zwiegespräch mit dem Bach, seinem Zusammentreffen mit der Müllerin bis hin zum Selbstmord aus versagter Liebe selbst beteiligt. Den kleinen Raum auf dem Podium nutzt er für eine körpersprachlich und mimisch  suggestive, die jeweiligen Gedanken und Gefühle des Wanderers trefflich auffangende Auslotung. Die Bandbreite seines vokalen, sprachlich bis ins kleinste Detail natürlich artikulierten Einsatzes umfasst ganz zart Gesponnenes, an Mozart geschulte feine Lyrismen, forsch charaktervoll Zupackendes bis hin zu grellen und schneidenden Phasen, die dem Schicksal des Protagonisten eine hohe Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit geben. Im Grunde genommen ist es fast eine halbszenische Umsetzung, nur eben ohne Requisiten, aber mit entscheidender Unterstützung durch den musikalischen Begleiter, einem – nomen est omen – echten Meister, nicht nur in seiner Funktion als Dirigent, sondern auch im Bereich der Kammermusik, die ihm als Pianist gleichfalls sehr am Herzen liegt und dem Stuttgarter Publikum so auch einige Auftritte über seine Opern- und Orchesterkonzert-Dirigate hinaus bietet. Als Partner von Matthias Klink ist er mehr als ein bloßer Begleiter, auch wenn manche der Lieder in ihrem einfachen Verlauf diese Funktion suggerieren mögen, doch da gibt es so viele kleine Nuancen, entscheidende Momente, wo Meister das Fließen des Baches oder das Klappern des Mühlenrades abtönt, mal etwas verlangsamt, wieder beschleunigt und dem Solisten so den entscheidenden Akzent vorgibt. Harmonische Übergänge, einmütiges Nachklingenlassen von Phrasenenden, das Miteinanderatmen und Einssein – allesamt Aspekte, die Schuberts ersten Liederzyklus an diesem Abend zu einem Minidrama werden ließen. Für den nicht enden wollenden Beifall wurden die Zuhörer mit einem subtil und empfindsamst bis ins Piano ausgekosteten „Nacht und Träume“ nach Hause geschickt.

Viele von ihnen werden sicher auch dabei sein, wenn Matthias Klink im März in einer szenischen Darstellung der „Winterreise“ in der zeitgenössischen Orchesterfassung von Hans Zender zu erleben sein wird.

                                                                                                                      Udo Klebes

DRESDEN/Kreuzkirche: ABSCHIED VON PETER SCHREIER IN EINEM „TRAUERGOTTESDIENST“

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Dresden / Kreuzkirche: ABSCHIED VON PETER SCHREIER IN EINEM „TRAUERGOTTESDIENST“ – 8.1.2020

„Ein wahrhaft Großer ist von uns gegangen“ sagte Kreuzkantor Roderich Kreile in seiner kurzen Würdigung im „Trauergottesdienst“ für Peter Schreier in der Dresdner Kreuzkirche. Er hat Schreier erst spät kennengelernt, als Schreier, der immer den Kontakt zum Kreuzchor suchte, auf ihn zuging. Sie wurden gute Freunde.

Schon Stunden vorher sammelten sich die Menschen vor der Kirche und bildeten lange Schlangen wie zu Weihnachten zur Christvesper, um mit Traurigkeit und Dankbarkeit Abschied zu nehmen von ihrem Lieblingssänger. Unzählige Male hat Schreier das „Weihnachtsoratorium“ von J. S. Bach gesungen. Weihnachten in Dresden war für ihn wichtig, nicht nur als Musiker, auch persönlich mit dem weihnachtlich geschmückten Dresden und dem „Striezelmarkt“, den er einmal auf einer Konzerttournee während der Weihnachtszeit in den USA schmerzlich vermisste.

Am 1. Weihnachtsfeiertag des Jahres 2019 ist er im Alter von 84 Jahren nach langer Krankheit in einem Dresdner Krankenhaus gestorben. Er hatte noch einiges vor, Gespräche für Publikum über sein Künstler- und Privatleben, Interpretationsprobleme und Anliegen der Musik. Seine letzten Jahre waren ein Geschenk für ihn und auch für sein Publikum, das ihm immer treu geblieben ist.

Die über 3200 Plätze in Dresdens größter Kirche reichten nicht aus, um allen Platz zu bieten, die Peter Schreier, dem international bekannten und gefeierten Operntenor, Oratorien- und Liedsänger, Dirigenten, Lehrer, Organisator, Buchautor und liebenswerten Menschen (und nicht zuletzt auch Fußball-Fan) das letzte Geleit geben wollten. Kaum ein Künstler wurde von allen Bevölkerungsschichten so geliebt wie er, war er doch auf vielen Gebieten der Musik gleichermaßen geschätzt, als lyrischer Tenor auf den Opernbühnen der Welt von Wien, München, Hamburg, Mailand, den Salzburger Festspielen usw. bis Budapest, Bukarest, New Yorker MET, Teatro Colon Buenos Aires, Leningrad (St. Petersburg) usw. genauso wie in Kirchen und Konzertsälen.

Er war als „Weltbürger“ auf mehreren Kontinenten zu Hause und immer Dresden und der sächsischen Kulturlandschaft sowie Wien und den Österreichern sehr verbunden. Als Sänger war er zum (aller)letzten Mal 2005 in Prag zu erleben. Von der Opernbühne trat er schon früher mit einer seiner glanzvollen Opernrollen, dem Tamino an der Oper unter den Linden in Berlin ab. Seinen letzten Liederabend gab er in Dresden und Wien mit Franz Schuberts „Winterreise“ (und seinen allerletzten in Großenhain in Sachsen). Mit seinen Schallplatten/CDs erreicht er auch jetzt noch viele Menschen, die sonst nicht unbedingt klassische Musik bevorzugten. Seine, im Herbst 2019 neu aufgelegte CD mit Weihnachtsliedern war sofort vergriffen und musste nachgepresst werden.

Im großen Altarraum der Kreuzkirche strahlten noch die beiden Weihnachtsbäume und die Festbeleuchtung an den Emporen in festlichem Glanz. Ein riesiges Blumenmeer mit weißen, rosa und gelben Blumen schmückte den Altarraum mit dem Sarg und die Stufen davor. Ein großes Foto zeigte ihn in seinen letzten Jahren, gealtert, aber mit freundlich-wohlwollendem Gesichtsausdruck. Neben Schreiers Familie, engen Freunden und Kollegen, Weggeführten und ehemaligen Kruzianern aus nah und fern, war auch viel Prominenz erschienen, darunter der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer, für den es als Förderer von Musik- und Kunst nicht nur eine Repräsentationspflicht gewesen sein dürfte, und ein großer Kreis der Menschen, denen Peter Schreier mit seinem Gesang und seiner Interpretationskunst Freude und Kunstgenuss und nicht selten auch Trost und Zuversicht gegeben hat.

Musikalisch wurde die Feier vom Dresdner Kreuzchor unter der Leitung von Roderich Kreile und Kreuzorganist Holger Gehring an der Orgel mit sinnreich gewählten Stücken, vor allem von Heinrich Schütz und J. S. Bach gestaltet, zwei Komponisten, die Schreier immer begleitet hatten. Eine sehr persönlich geprägte Trauerrede (Predigt) hielt Markus Deckert, ehemaliger Kruzianer, Freund der Familie Schreier und Pfarrer der Heimatkirche Schreiers in Dresden-Loschwitz, für deren Wiederaufbau er sich zusammen mit Theo Adam engagiert hat, nicht zuletzt mit Benefizkonzerten. Adam verstarb zu Beginn des Jahres 2019, Schreier am Ende. So schloss sich der Kreis, der bei beiden im Dresdner Kreuzchor begonnen hatte (wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten) und in enger Verbundenheit durch zwei Weltkarrieren führte.

Schreier hatte mit seiner einmaligen Stimme, die so unverwechselbar war wie er selbst, ein erfülltes Leben in Würde und Schönheit, aber auch nicht ohne Probleme und anfangs geprägt von Krieg und Nachkriegszeit. Am 1.7.1945 kurz nach dem Ende des Krieges, als inmitten von Trümmern und Provisorien langsam wieder ein Neuanfang gewagt wurde, kam er als erster Junge in den Kreuzchor, in ein Notquartier. Am 4.8.19945 sang der Chor bereits wieder in der ausgebrannten, mühsam von Trümmern, auch durch die Kruzianer, geräumten Ruine der Kreuzkirche.

Der damalige Kreuzkantor Rudolf Mauersberger erkannte seine musikalische Begabung, förderte ihn sehr und schrieb sein „Dresdner Requiem“ ganz auf den Kreuzchor und Schreiers Knabenalt zugeschnitten. Schon damals träumte Schreier davon, Tenor zu werden, um Evangelisten-Partien singen zu können, womit er später Vorbild für viele junge Sänger bei der Interpretation von Bachs Oratorien und Passionen wurde, obwohl er nicht imitiert werden wollte, sondern lieber andere Interpretationen hörte. Seine exakte Technik und intensive Beschäftigung und Deutung dieser Partien hat aber Maßstäbe gesetzt, an denen sich viele junge Sänger immer noch und immer wieder orientieren. Er hat das Wort sehr ernst genommen und musikalisch umgesetzt. Damit zog er unzählige Menschen in seinen Bann und an das heran, was er sang, ob in Oper, Operette, Oratorium oder Lied. Hier über das große Kapitel Oper zu sinnieren, hieße „Eulen nach Athen zu tragen“. Es hätte auch den Rahmen dieser Feier gesprengt und konnte nur tangiert werden.

Um die Erinnerung an den Aufenthalt Robert Schumanns und seiner Familie 1849 (während der Revolution) in der Gegend etwa 20 km südlich von Dresden wach zu halten, gründete Schreier 1998 den Kunst- und Kulturverein Kreischa, dessen Ehrenvorsitzender er war. Die Vereinsmitglieder nahmen am 4.1. 2020 bei stürmischem, nasskaltem Wetter an der, von dem Bildhauer Hans Kazzer aus eigener Verehrung geschaffenen, Bronze-Büste im Kurpark von Kreischa feierlich Abschied und werden sein Vermächtnis weiterführen. Die 1999 aus gleichem Anlass von Schreier ins Leben gerufene, aller zwei Jahre stattfindende, „Schumanniade“ in Reinhardtsgrimma wird unter der Leitung von Olaf Bär, an den er die Fackel weitergegeben hat, weiterbestehen.

Seine Stimme ist verstummt, nun auch seine Sprechstimme, mit der in den letzten Jahren noch sehr gefragte und begeistert aufgenommene Beiträge geleistet hat, aber sein Gesang, seine Aufführungen als Dirigent und seine „Plauderstündchen“ werden im Gedächtnis unendlich vieler Menschen und Musikfreunde bleiben, auch derer, die es durch ihn erst geworden sind, und sie wird auch auf Tonträgern noch lange erklingen.

Ingrid Gerk

WIEN/ Volksoper: CARMEN

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Martina Mikelic (Carmen). Foto: Agentur

Wiener Volksoper: Carmen, 9. Jänner 2020

Martina Mikelić hat zweifellos eine große, schöne Stimme. Sie gestaltet und singt ihre Carmen aber noch zu zurückhaltend. Vielleicht wird sie ihre Tiefe und ihr Brustregister, das hörbar vorhanden ist, später einmal voll einsetzen, und so ihrer Stimme eine stabile Basis und noch größere emotionale Ausdruckskraft geben. Ohne Vergleiche anstellen zu wollen, denke man z.B. an Fedora Barbieri oder Elena Obraztsova. 

Voraussetzungen dazu hat die Mikelić jedenfalls und musikalisch ist sie ebenfalls und gestaltet zusammen mit Elisabeth Schwarz, Frasquita; Manuela Leonhartsberger, Mercédès; Karl-Michael Ebner, Remendado  und Michael Havlicek, Dancaïro ein schwungvolles Schmugglerquintett.

Immer läßt dabei das Dirigat Anja Bihlmaiers und das Orchester der Wiener Volksoper aufhorchen. Alles sehr präzise, musikalisch, interessant, weit entfernt von bloßer Routine.

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Alik Abdukayumov. Foto: Herta Haider

Mit Alik Abdukayumov als Escamillo mit ausgesprochen schöner Baritonstimme und Mehrzad Montazeri als Don José mit seiner überzeugenden und intensiven Darstellung  treffen wir auf zwei Veteranen nicht an Jahren, aber an  Erfahrung, die schon unzählige Male gemeinsam mit großem Erfolg auf der Bühne der Wiener Volksoper standen.

Sehr intelligent und musikalisch gestaltet Montazeri die Blumenarie, wobei er den hohen Schlusston bis ins Nichts verklingen läßt. Hier geht es nicht um Belcanto sondern um gestalterische Wahrhaftigkeit. Alik Abdukayumov hat natürlich mit dem Torerolied seinen großen und effektvollen Auftritt, der auch vom Publikum entsprechend gewürdigt wird.

Sehr gut kam auch Julia Koci als Micaëla beim Publikum an. Ihre schöne Stimme ist zwar nicht allzu groß. Sie singt und spielt aber sehr gefühlvoll.

Maximilian Klakow, Zuniga und Ben Connor, Moralès ergänzen erfolgreich das Team, ja und Georg Wacks in der Sprechrolle des Schenkenwirtes Lillas Pastia könnte man sofort in jedem Abenteuerfilm als Schurken besetzen.

Auf die Chöre, besonders die Kinder- und Jugendchöre darf man keineswegs vergessen. Einstudiert von Thomas Böttcher, Lucio Golino und Brigitte Lehre waren sie eine Ohren- und Augenweide.

Christoph Karner

 

WIEN / Staatsoper: LOHENGRIN von Richard Wagner

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Klaus Florian Vogts in der Titelpartie und Cornelia Beskow als Elsa. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Richard Wagners LOHENGRIN

22. Aufführung in dieser Inszenierung

9. Jänner 2020

Von Manfred A. Schmid

Der in ehrenrettender Mission nach Brabant entsandte Gralsritter war nicht per Schwan angereist. Klaus Florian Vogt, Einspringer für den kurzfristig erkrankten Piotr Beczala, kam per Auto von München nach Wien, weil das Flugzeug wegen Nebels nicht starten konnte. Offenbar traf er aber gerade noch rechtzeitig ein, denn als Staatsoperndirektor Meyer vor dem Vorhang tritt, um die Umbesetzung anzukünden, bittet er das Publikum um Geduld: Valery Gergiev, der Dirigent des Abends, habe mit dem Sänger der Titelpartie unbedingt noch „zwei Minuten lang sprechen“ wollen, bevor die Oper beginnen würde. Diese zwei Minuten genügen dann tatsächlich, um sich abzustimmen. Denn was folgt, ist eine weitgehend gelungene Vorstellung mit zwei bemerkenswerten Rollendebüts und einer neuen Stimme, die man sich wohl merken sollte.

Vogt, der mit den Gegebenheiten der ärgerlich krachledernen, irgendwo zwischen Musikantenstadl und Oktoberfest angesiedelten Inszenierung von Andreas Homoki als Titelheld der Premiere 2014 bestens vertraut ist, erweist sich gesanglich wie auch darstellerisch wiederum als hervorragende Besetzung. Kein Wunder, gilt er doch seit Jahren als Bayreuther „Lohengrin vom Dienst“ und verfügt über eine helle, nie zum Forcieren genötigten Stimme. Diese ist freilich mit einer Eigenart ausgestattet, die nicht jedem gefallen muss: Sein Tenor klingt geradezu entmaterialisiert, ätherisch, fast körperlos. Das mag in diesem Fall gut zum geheimnisvollen Charakter Lohengrins passen, der gewissermaßen ja auch nicht von dieser gewöhnlichen Welt ist, sondern aus der abgehobenen Sphäre der Gralsritter kommt (wunderbar eingefangen in den entrückten Geigenklängen des Vorspiels) , lässt aber auch den Wunsch nach einem etwas kernigeren Tenor aufkommen. Wenn Beczala zurückkehrt und sein Wiener Debüt als Lohengrin abliefern wird, könnte er das ideale missing link zwischen dem ungestümen, eher an die Jugendjahre seines Vaters Parsifal erinnernden Andreas Schager (im Herbst 2018) und dem an die zauberhafte Ausstrahlung  von Sängerknabenstimmen erinnernden Klaus Florian Vogt sein.

Eine weitgehend noch unbekannte junge Sängerin, Cornelia Beskow, wird für die Partie der Elsa von Brabant aufgeboten. Die mutige Entscheidung des Besetzungsbüros lohnt sich. Die aus Schweden stammende, bisher vor allem an mittleren skandinavischen Häusern – u.a. als Senta und Weilgunde – auftretende Sopranistin erweist sich als vorzügliche Gestalterin. Ihre Elsa ist eine selbstbewusste junge Frau mit eigenem Willen, die aber gegenüber Ortruds gefährlicher Überredungskunst letztlich machtlos ist, nachgibt und Treuebruch begeht. Ihr etwas abgedunkelter Sopran ist fein geführt, das Timbre ansprechend. Zunächst etwas verhalten, wird ihre gesangliche Leistung zunehmend souveräner. Im letzten Akt, in exponierter Lage, zuweilen freilich auch etwas schrill. Jedenfalls ein eindrucksvolles Welt-Debüt. Und die Hoffnung, dass diese fordernde Rolle der Elsa für sie nicht zu früh gekommen ist und Beskow nicht zu den vielen Blütenträumen gehören wird, die nicht reiften.

Egil Silins als Telramund und LInda Watson als Ortrud. Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Viel lernen in puncto Wagner kann Cornelia Beskow von der bewährten Linda Watson, die spätestens seit ihrem Bayreuther Kundry-Debüt 1998 zur ersten Garde der Wagner-Heroinen zählt und insbesondere als Brünhilde weltweit in Erscheinung getreten ist. Diesmal, bei ihrem Rollendebüt als Ortrud, bewegt sich die dramatische Sopranistin allerdings in stimmlich tieferen Regionen. Für diese Partie werden – nicht ohne Grund – oft auch Mezzo-Soprane eingesetzt. Watson singt intensiv, geht an ihre stimmlichen Grenzen und liefert das imponierende Porträt einer verletzten, nach Rache dürstenden Zauberin und Verführerin, die der alten heidnischen Weltordnung und ihren Göttern nachtrauert und diese wieder errichten will. Ihre Beziehung zu ihrem Mann Telramund ähnelt anfangs der zwischen Macbeth und Lady Macbeth, doch anders als bei Shakespeare gelingt es Telramund nicht, sich von seiner bestimmenden Frau zu emanzipieren. Egils Silins ist bei seinem Wiener Rollendebüt ein ehrgeiziger Erfüllungsgehilfe in einem mit Leidenschaft und Perfidie ausgetragenen Machtkampf und überzeugt vor allem im 2. Aufzug, wo er sich nach der schmählichen Niederlage wieder sammelt und ein Comeback anvisiert.

Ain Angers mächtiger Bass hat inzwischen einiges an Strahlkraft eingebüßt. Dass sein Heinrich der Vogler königliche Ausstrahlung ziemlich vermissen lässt, liegt aber in erster Linie an der unsäglich dümmlichen Inszenierung, die als Einheitsbühnenbild (Ausstattung Wolfgang Gussmann) eine meist unaufgeräumte alpenländische Gaststube vorsieht. Wer hier seines Amtes waltet, ist höchstens ein Oberförster – oder ein Aufsichtsjäger wie Boaz Daniel als verlässlicher Heerrufer.

Valery Gergiev kennt die Wiener Philharmoniker gut, und umgekehrt gilt das ebenfalls. Auch das Staatsopernorchester weiß daher die flirrende Bewegung der Finger seiner rechten Hand richtig umzusetzen. Eindrucksvoll fallen nicht nur die ausgefeilten Vorspiele vor jedem Aufzug aus, sondern auch das Zusammenwirken mit den Akteuren und dem blendend eingestellten Chor auf der Bühne. Dass Gergiev manche Passagen etwas langsamer angeht als gewohnt, was vor allem im Vorspiel zum 1. Aufzug auffällt, ist eine legitime Lesart und zwingt ebenso zu einem aufmerksamen Hinhören wie die stürmischen, vorwärtstreibenden, jubelnden Klangballungen, die den 3. Aufzug einbegleiten. Ein großer Hörgenuss schließlich die düster drohenden Celli und Fagotte in der Telramund-Ortrud-Szene am Beginn des 2. Aufzugs.

Viel Beifall und auch Jubel – insbesondere für den Einspringer Vogt, die junge Debütantin Beskow und den Dirigenten Gergiev: Das ist der Lohn für einen anregenden Opernabend.

KÖLN/ Philharmonie: CHICAGO SYMPHONY-ORCHESTRA/ RICCARDO MUTI (Prokofjew)

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KÖLN/ Philharmonie: CHICAGO SYMPHONY-ORCHESTRA/ RICCARDO MUTI (Prokofjew)

Sergej Prokofjew
Romeo und Julia. Auszüge aus den Sinfonischen Suiten op. 64a und b

Sergej Prokofjew
Sinfonie Nr. 3 c-moll op. 44 (1928)

Chicago Symphony Orchestra

Riccardo Muti Dirigent

Besuchtes Konzert in der Kölner Philharmonie am 09. Januar 2020

Symphonischer Gipfel

Im Rahmen seiner sehr seltenen Gastspiele in Deutschland präsentierte sich das Chicago Symphony Orchestra mit seinem langjährigen Chef-Dirigenten Riccardo Muti in der Kölner Philharmonie. Auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Sergej Prokofjew.

Im Jahr 1938 feierte dessen Ballett „Romeo und Julia“ seine Ur-Aufführung in Brünn, nachdem es wenige Jahre zuvor vom Moskauer Bolschoi-Theater in Auftrag gegeben wurde. Seither ist dieses Meisterwerk ein Klassiker im Repertoire vieler Ballett-Kompanien geworden. Bis 1946 erstellte Prokofjew drei Suiten für Orchester. Seither sind diese Werke auch in symphonischen Konzerten häufig anzutreffen. Ungemein farbenreich ist die Instrumentierung und die melodische Vielfalt, die sich bis zur Atonalität hin bewegt und doch immer wieder den Weg zur Kantabilität zurückfindet.

Ein äußerst effektvoller Einstieg also für den italienischen Maestro und sein Elite-Orchester. Das Publikum konnte staunen und sich an der spieltechnischen Perfektion des Orchesters geradezu berauschen. Alle Orchestergruppen musizierten mit einer atemberaubenden Virtuosität. Riccardo Muti ließ in den gewaltigen Klangballungen sein Orchester völlig entfesselt ausmusizieren und doch blieb dabei alles im dynamischen Lot.

Die Tempi wirkten immer harmonisch aus dem Duktus der Partitur entwickelt. Auffallend und bestechend war die überragende Transparenz im kollektiven Orchesterklang. Selbst im größten rhythmischen Getümmel fächerte Muti mit seinem großartigen Orchester alle Orchesterstimmen auf, so dass Haupt- und Nebenstimmen in der polyphonen Anlage der Partitur stets klar wahrgenommen werden konnten.

Das Chicago Symphony Orchestra vereint großartige Virtuosen in den eigenen Orchesterreihen. Wunderbare Soli in den Holzbläser konnten sich auf einen vollendet tönenden Streicherklangkörper verlassen. Hier zeigte immer wieder der famose Konzertmeiser sein hinreißendes Können. Legendär von jeher bei diesem Orchester die exquisite Klangqualität der Blechbläser, angeführt von deren superben Solo-Trompetern, die auch in extremster Lage blitzsauber intonierten. Und wie vielschichtig ein Schlagzeug-Ensemble klingen kann, zeigten die Damen und Herren des Chicago Symphony Orchestras an ihren verschiedenen Schlagwerk-Instrumenten. Große und völlig berechtigte Begeisterung für diese perfekte Darbietung von „Romeo und Julia“.

Nach der Pause präsentierte Riccardo Muti eine seiner Lieblings-Symphonien. 1928 komponierte Prokofjev seine dritte c-moll Symphonie, die Motive aus seiner Oper „Der feurige Engel“ verarbeitete. Es ist eine kühne Komposition, gerade einmal etwas mehr als eine halbe Stunde dauernd, die in harschen, sehr düsteren Farben daher kommt. Stalin war seinerzeit von dieser Musik entsetzt und forderte vom Komponisten eine „Kurskorrektur“, die sodann die Tonalität und Melodie in den Mittelpunkt stellen sollten. Prokofjev folgte und sicherte sich damit sein Überleben.

Muti wies am Ende des Konzertes in einer kurzen Ansprache an das Publikum auf die musikhistorische Bedeutung dieser Komposition hin, weil es noch den „unbearbeiteten, originalen“ Prokofjev zeigt.

Die Symphonie fordert das Orchester in seinen rhythmischen Exzessen und dissonanten Ballungen extrem. Lediglich im Andante des zweiten Satzes entsteht eine kurze Phase der Ruhe, da die Musik sich plötzlich in eine klerikale Tonsprache verändert. Berückende Soli der Violine verleihen dem Werk besondere Farbtupfer. Es folgt ein rasantes Allegro Agitato für die beiden Schluss-Teile. Hier bietet Prokofjev nochmals alle Klangballungen und bedrohlichen Farben auf, ehe das Werk geradezu infernalisch endet.

Es war Riccardo Muti immer anzumerken, wie sehr ihm dieses Werk am Herzen lag. Hoch wachsam steuerte er mit größter Genauigkeit seine Musiker durch die horrend schwere Partitur. Das Orchester konnte jederzeit frei ausmusizieren und doch war Muti immer seinen Musikern voraus, so dass diese sich jederzeit auf seine perfekte Zeichengebungen verlassen konnten.

Das Chicago Symphony Orchestra mobilisierte in der Ausführung dieser Symphonie außergewöhnliche Reserven, wie sie schwerlich anderswo in dieser Perfektion anzutreffen sind. Alle Orchestergruppen musizierten auch hier auf höchstem Niveau, ohne auch nur im Ansatz einen Hauch der tatsächlichen Schwierigkeiten zu vermitteln. Was für eine beeindruckende Leistungsschau! Ein symphonischer Gipfel der Königsklasse! Und Riccardo Muti agierte in diesem unvergesslichen Konzert als ein wahrer Maestro, der völlig alterslos mit viel Temperament und Aura, Musik zu einer außergewöhlichen Erfahrung werden ließ.

Das Kölner Publikum zeigte in seiner Begeisterung keinerlei Zurückhaltung und jubelte lautstark mit stehenden Ovationen.

Muti bedankte sich mit einer humorvollen und sehr persönlichen Ansprache. Versehen mit Neujahrswünschen präsentierten das Chicago Symphony Orchestra und er ein seltenes Orchesterwerk von Alexander Scriabin als Zugabe.

Dirk Schauß

 

ZÜRICH/ Opernhaus: DON PASQUALE

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Gaëtano Donizetti: Don Pasquale, Opernhaus Zürich, Vorstellung: 09.01.2020

 (9. Vorstellung seit der Premiere am 08.12.2019)

Der alte Mann und das Joghurt

Wenn Don Pasquale während der inszenierten Ouvertüre lüstern eine junge Frau beobachtet, löffelt er ein Joghurt. Da Regisseur Christof Loy die Geschichte in der Gegenwart (Kostüme: Barbara Drosihn) verortet, befindet sich das Joghurt natürlich ökologisch korrekt in einem Glas.


Johannes Martin Kränzle, Julie Fuchs. Foto: Monika Rittershaus

Hebt sich dann der Vorhang zum Stück, stellt sich heraus, dass es nur ein Traum, eine Vision war. Der Alltag ist wieder da, statt der jungen, hübschen Frau sieht Don Pasquale, wenn er aus dem Fenster blickt, einen kahlen Baum.

Es war ein feuchter Traum für Don Pasquale, denn die junge Frau, bald stellt sich heraus, dass es Norina war, erfüllt wohl alle Kriterien der Traumfrau von Don Pasquale, sei es nun die Form des Décolleté oder das laszive Rauchen. Für Ernesto, Don Pasquales Neffen, war es ein Albtraum, aus dem er emporschreckt. Das Thema Heirat scheint als schon länger aktuell zu sein…

Johannes Martin Kränzle als Don Pasquale und Julie Fuchs als Norina (Monika Rittershaus/ Opernhaus Zürich)
Johannes Martin Kränzle, Julie Fuchs. Foto: Monika Rittershaus

In diesen wenigen Minuten werden die Stärken wie die Schwächen von Loys Inszenierung deutlich. Zu den Stärken gehört auf jeden Fall die differenzierte Personenführung Loys. Don Pasquale ist beim Loy ein älterer Herr, der allein einen repräsentativen Altbau, wie er ohne Probleme am Zürichberg zu finden sein dürfte, bewohnt (Bühnenbild: Johannes Leiacker). So wie er das Joghurt aus dem Glas löffelt, scheint ihm das in früheren Zeiten jemand als gesund ans Herz gelegt zu haben. Vielleicht war er einmal verheiratet, wer weiss. Nun ist er aber, und darunter leidet er, allein. Er ist nicht mehr der Jüngste, und so ist das Thema des Erben aktuell. Ernesto wird ihn einmal beerben. Nach welcher Façon er glücklich wird, möchte sein Onkel dann aber schon noch mitbestimmen. Norina, in die Ernesto verliebt ist, passt Don Pasquale, der Generationenkonflikt lässt grüssen, ganz und gar nicht. Im Bestreben nun endlich einmal wieder Rückgrat zu zeigen, beschliesst er nach seinem Traum selbst zu heiraten. So wie Ernesto hochschreckt, muss er etwas geahnt haben.

Die differenzierte Personenführung in Kombination mit dem Hyperrealismus der Inszenierung ist aber auch ihre grosse Schwäche. Loy weist im Programmheft darauf hin, dass es sich bei „Don Pasquale“ nicht um eine „opera buffa“ sondern ein „dramma buffo“ handelt, über dem zudem ein leichter melancholischer Schleier, eine gewisse Traurigkeit liege. Loy stellt fest, man spüre, dass die Dinge zu Ende gingen. Es gebe in dem Spätwerk Donizettis, entstanden als seine tödliche Krankheit ausbrach, eine Nähe zum Tod.

Loy legt letztlich zu viel Gewicht auf das „dramma“ der Gattungsbezeichnung und vergisst dabei das „buffo“. Sein Ansatz würde vielleicht passen, wenn es um ein Werk des Verismo ginge, aber nicht für ein Meisterwerk des Belcanto, der romantischen italienischen Oper. Die Hyperpsychologisierung tötet noch den letzten Moment „buffo“ ab: von der Leichtigkeit und Wärme der Musik ist nichts mehr übrig. Das Cello-Solo der Ouvertüre, als Beispiel, passt nun so gar nicht zum Gaffen und Geifern Don Pasquales.

Die szenische Stimmungslosigkeit setzt sich leider auch im musikalischen Bereich fort. Für die letzte Vorstellung steht Carrie-Ann Matheson an der Spitze der Philharmonia Zürich und bringt Orchester und Solisten sicher durch den Abend. Die musikalische Interpretation leidet darunter, dass Enrique Mazzola, der die Produktion einstudiert hat, die Partitur mit deutscher Gründlichkeit von „Traditionen“ gereinigt hat. So bleibt letztlich eine genauso korrekte wie blutleere Umsetzung.

Der von Ernst Raffelsberger vorbereitete Chor der Oper Zürich leidet wie alle anderen unter dem Hyperrealismus. Die von Norina veranstaltete moderne Party passt so gar nicht zu Donizettis Musik.

Der Lichtblick der Produktion ist Julie Fuchs in der Rolle der Norina. Mit stupender Technik gelingt ihr eine charmante, glaubwürdige Interpretation des jungen Mädchens. Mingjie Lei gibt ihren Geliebten Ernesto. Seine Stimme hat sich gegenüber der zweiten Vorstellung deutlich erholt. Johannes Martin Kränzle setzt Loys Konzept mit allen Stärken und Schwächen perfekt um. Begeisterung vermag er damit nicht zu wecken, bestenfalls Bewunderung für die schauspielerische Leistung. Konstantin Shushakov als Dottore Malatesta bestreitet auch diesen Abend ohne grosse Variation von Farbe oder Lautstärke der Stimme. Dean Murphy (Carlotto), R. A. Güther (Sergio), David Földszin (Ugo) und Ursula Deuker (Clara) ergänzen das Ensemble.

Keine weiteren Aufführungen in dieser Saison.

10.01.2019, Jan Krobot/Zürich


DRESDEN/ Semperoper: „FAMILY SCHUMANN & FRIEND“ IM 3. KAMMERABEND DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN

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Dresden / Semperoper: „FAMILY SCHUMANN & FRIEND“ IM 3. KAMMERABEND DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN – 9.1.2020

Das gab es noch nie bei einem Kammermusikabend der Sächsischen Staatskapelle Dresden, dass die Semperoper bis in den obersten Rang voll besetzt war und das Publikum in andächtiger Stille bis zum Schluss intensiv lauschte, bis der begeisterte Beifall losbrach, zu dem es guten Grund gab.

Um noch einmal Clara Schumann anlässlich ihres 200. Geburtstages zu ehren, hatten sich drei versierte Musiker der Sächsischen Staatskapelle, Solooboistin und zwei Konzertmeister zusammengefunden, um gemeinsam mit einem Gast am Klavier kammermusikalische Werke von Clara und Robert Schumann sowie des ihnen befreundeten Francois Schubert aufzuführen.

Hochschwanger, aber unermüdlich, mit weichem, klangvollem Ton widmete sich die Solooboistin Céline Moinet mit Florian Uhlig am Klavier „Drei Romanzen für Violine und Klavier (op. 22) (bearbeitet für Oboe) von Clara Schumann, drei sehr angenehm anzuhörende, schöngeistig unterhaltsame Stücke, die von beiden mit viel Einfühlungsvermögen zu Gehör gebracht wurden.

Da störte auch die kleine Episode nicht, als das noch ungeborene Baby „sein Recht“ forderte,  sich bewegte und eine kleine Pause erzwang. Vermutlich wird es ein sehr musikalisches Kind. Für Céline Moinet geht das Oboespielen vor. Bei ihr gibt es keine Routine, sie spielt alles „einmalig“. In diesem Fall musizierte sie besonders innig, mit weichem, schönem Ton und viel Feingefühl als Frau und (werdende) Mutter die Kompositionen einer Frau und vielfachen Mutter.

Danach folgte gemeinsam mit dem 1. Konzertmeister, Matthias Wollong und dem Konzertmeister Violoncello, Norbert Anger das „Trio g‑Moll für Klavier, Violine und Violoncello (op. 17), am Klavier Florian Uhlig, der sich als Gast „nahtlos“ in die feinsinnige Musizierweise der Kapellmitglieder einfügte, als würden alle drei schon immer zusammen musizieren.

Von einem Freund der Familie Schumann, dem Geiger und Konzertmeister der Königlichen Hofkapelle in Dresden, aus der die Sächsische Staatskapelle Dresden hervorgegangen ist, und Komponisten Francois Schubert (eigentlich Franz Anton Schubert) erklangen „Zwei Nocturnes für Violine und Klavier (op. 7) sowie drei „Bagatellen (Nr. 3, 8 und 9) aus den „Bagtelles“ für Violine und Klavier (op. 13), eingängige, einschmeichelnde Stücke mit einfacher Melodik und einem Hang zur (guten) Salonmusik im besten Sinne und auch einiger Virtuosität.

Dieser Franz Schubert war ab 1838 Vize- und ab 1847 bis 1873 Konzertmeister der Hofkapelle und entstammte einer ganzen Dynastie von Musikern, von denen viele den Vornamen Franz hatten und in der Königlichen Hofkapelle gewirkt haben, vornehmlich als Konzertmeister. Ihr Leben und Wirken wird gegenwärtig aus dem reichen Fundus in Dresden erforscht und aufbereitet. Da dieser Schubert seine Studien in Paris fortsetzte, wandelte er nach seiner Rückkehr seinen Vornamen in Francois um, auch um Verwechslungen mit dem berühmten Wiener Franz Schubert zu vermeiden.

Da spielte jetzt der gegenwärtige 1. Konzertmeister der Staatskapelle Kompositionen eines seiner zahlreichen (weit zurückliegenden) Vorgänger am 1. Pult des Vorgänger-Orchesters aus dem 19. Jahrhundert mit schönem Ton, klangvollen Doppelgriffen und auch diversen Extras, die offenbar eine „Spezialität“ des Herrn Schubert waren, in kongenialem Zusammenspiel mit dem Pianisten.

Danach war die reiche Substanz des „Klaviertrios Nr. 1 d‑Moll op. 63) von Robert Schumann umso sinnfälliger. Wollong, Anger und Uhlig muszierten dynamisch, aber nicht vordergründig, sondern wie selbstverständlich auf sehr hohem Niveau und in einem wunderbaren Miteinander, bei dem jeder seinen Part genau in das Gesamtgefüge einordnete.

Ingrid Gerk

ATHEN/ Griechisches Nationaltheater/ Theater Rex: EAU DE COLOGNE –„Der Duft des Irdischen“ von Efthymis Filippou

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Griechisches Nationaltheater, Theater Rex

Eau de Cologne
Besuchte Vorstellung am 9. Januar 2020

Der Duft des Irdischen

Wer den Namen Efthymis Filippou hoert, duerfte vor allem an den Drehbuchautor denken, der bereits mehrfach mit Yorgos Lanthimos zusammengearbeitet hat. Vielfach ausgezeichnet und fuer wichtige Preise nominiert wurde das Script zum Film „The Lobster“ (2015), welches Filippou zusammen mit dem Regisseur verfasste. In Griechenland kennt man den Autor auch aufgrund seiner Buehnenarbeiten, die sich wie Lanthimos‘ Filme durch einen Hang zur Absurditaet auszeichnen. Auf der Kleinen Buehne des Griechischen Nationaltheaters in Athen ist nun Efthymis Filippou’s Drama „Eau de Cologne“ zu sehen.

Der griechische Autor fuehrt uns in seinem neuen Stueck in eine Produktionsstaette besonderer Art, wo ein Mann auf eine Gruppe oder besser gesagt auf einen Chor von jungen Frauen trifft. Der Mann ist gekommen, weil er eine Nachricht an seine verstorbene Mutter senden will. Und die Eigenart dieser Botschaft hat es in sich: Es geht naemlich darum, ein Parfuem fuer die Mutter herzustellen. Eine Maschinerie auf der Buehne uebersetzt einen vorgelesenen Brief des Sohns zunaechst in Bilder, welche auf einer an Zylinder fixierten Papierrolle erscheinen. Diese visuelle Uebertragung wird dann – und der Zuschauer wird im Unklaren gelassen, wie dies geschieht – in Duftaromen verwandelt, welche dann schliesslich das Parfuem fuer die Mutter ergeben. Es ist eine absurde, aber auch eine traurig-komische Handlung, welche uns Filippou praesentiert. Sie erzaehlt davon, wie wir mit dem Tod umgehen und wie wir oft erst nach dem Ableben naher Angehoeriger merken, was wir diesen noch gerne gesagt haetten. „Eau de Cologne“ waere, daran musste der Verfasser waehrend der kurzen, nur etwa 70minuetigen Auffuehrung mehrfach denken, der perfekte Stoff fuer einen Theatermacher wie Christoph Marthaler.

Was die Theatergruppe Vasistas unter der Leitung der Regisseurin und Schauspielerin Argyro Hioti daraus macht, wirkt leider mehr wie eine unfertige Skizze oder eine Studentenauffuehrung. Gelungen sind, um mit dem Positiven zu beginnen, die Musik von Jan van de Engel und der schoene Gesang des kleinen Frauenchores. Der von Vasilis Marmatakis gestaltete Buehnenraum und die Inszenierung von Argyro Hioti wissen aber nicht recht mit der starken Vorlage umzugehen. Die Absurditaet des Text erfaehrt weder ein raeumliches Echo noch eine Entsprechung in der Bewegungsfuehrung der Akteure. Man erlebt auf der Buehne ein Ensemble ohne Charaktere. Man fragt sich, wo das Sonderbare, wo das Skurrile bleibt resp. sich Ausdruck verschafft. Die originelle Geschichte Filippous wird brav heruntergespielt, ihr Potential bleibt weitgehend unausgeschoepft. Was haette ein Regisseur und Musiker wie Christoph Marthaler daraus machen koennen! Fidel Talampoukas, Eleni Vergeti, Katerina Papandreou, Areti Paschali, Sofia Priovolou, Kalliopi Simou, Argyro Hioti und Georgina Chryskioti versorgen das Publikum zwar am Schluss mit Proben des erschaffenen Parfuems, Momente intensiver Darstellung bleiben sie uns aber schuldig.

Das Publikum spendet am Ende anhaltenden Beifall.

Ingo Starz (Athen)

WIEN / Scala: HÖLLENANGST

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Fotos: Scala / Bettina Frenzel

WIEN / Scala:
HÖLLENANGST von Johann Nestroy
Premiere: 10. Jänner 2020

Der durchaus gequälte Wiener Theaterbesucher mag dazu neigen, über die verloren gegangene Kunst der Nestroy-Interpretation (der Schnitzler-Interpretation, der Tschechow-Interpretationen… ad infinitum) zu klagen. Und dann leuchtet plötzlich ein Licht in der Finsternis. Wie so oft wird es in der Scala entzündet, jenem Theater von Bruno Max auf der Wiedner Hauptstraße, wo Stücke zwar grundsätzlich inszeniert, aber nie ruiniert werden. Nicht einmal beschädigt, Und so wird auch Nestroys „Höllenangst“ zu einem infernalischen Spaß – ganz im Sinne des Erfinders.

Geschrieben nach der Revolution von 1848, war das Stück erst einmal gar kein Erfolg. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es „wieder entdeckt“, auf die wienerischste Art und Weise – dank der plötzlich entdeckten „Traumrollen“, die Hans Moser und Hans Putz 1962 im Theater in der Josefstadt als Vater und Sohn Pfrim auf die Bühne stellten, den Schuster, der nicht arbeitet, und den gewissermaßen arbeitslosen Sohn: Wer je erlebt hat (glücklicherweise auf DVD nachzuprüfen), wie die beiden nach Rom pilgern, wird es nie vergessen… Und dann gab es dieses „Traumpaar“ noch reichlich auf Wiener Bühnen, sie hießen Propst und Petters (Volkstheater), Muliar und Morak (Burgtheater), Schweiger und Meyer (Reichenau), Schenk und Hackl (Josefstadt), Schwab und Ofczarek (das war Kusej, noch bevor er Direktor am Burgtheater war).

Sich mit dem Stück richtig abzugeben, ist schwer, denn selten ist auch bei Nestroy, der sich dramaturgisch nur in Ausnahmefällen den Kopf zerbrach, eine so konfuse, alberne Handlung zu finden. Was in der Habsburger-Monarchie, die ihren Metternich gerade abgeschüttelt hatte, dennoch störte, nämlich der in damaligen Augen leichtfertige Umgang mit der Religion, interessiert heute kaum mehr. Was also bleibt?

Regisseur Bruno Max weiß es in seiner Scala-Aufführung ganz genau: Ein Stück über Proletarier und ihr wunderbar-vollmundiges Aufbegehren. Nun sind weder Vater noch Sohn Pfrim gewissermaßen „Geistesblitze“, es ist ihre Vitalität und Frechheit, die sie aus dem Opfer-Dasein erlöst – aber auch in die alberne Geschichte stürzt, dass Sohn Wendelin meint, einen Teufelspakt geschlossen zu haben. Und der jetzt (lesen und schreiben kann er ja, vom Doktor Faust hat er auch schon gehört), da er seine unsterbliche Seele verloren meint, vom Leben etwas haben will… Und der versoffene Papa auch.

Das wird in der Aufführung der Scala schreiend komisch, wenngleich Bruno Max auch eine Rahmenhandlung dazu erfunden hat, die die Dinge deutlich macht. Da sitzen sie nämlich alle wie am Fließband in einer Werkstatt, machen Schuhe und räsonieren über ihr Schicksal. Vor der Handlung und auch nach dem Happyend: Sie sollen nicht meinen, die armen Leute, dass es für sie je wirklich gut ausgehen kann… Das ist eine intelligente und stilsichere Art der Verdeutlichung einer Situation, die Max (in einem überaus geschickten Bühnenbild, bei dem Marcus Ganser mitwirkte, in ebenso geschickt stilisierten Kostümen von Anna Pollack) gar nicht ins Biedermeier versetzt. Nicht einmal in den Vormärz. Und auch nicht (von einer kleinen Pointe abgesehen) zwanghaft ins Heute. Das spielt im Nestroy-Land, und das ist eine wunderbare Theaterwelt für sich.

Die Handlung ist, wie gesagt, gequirlter Blödsinn, und der Regisseur nimmt sie als solche nicht eine Minute ernst. Da wird, teilweise auch in überzogener Slapstick-Manier, ganz einfach parodiert, was da abläuft. Die Figuren jedoch behalten ihre Substanz – sie wirbeln zwar künstlich herum, stimmen aber in sich. Ein bemerkenswerter Balanceakt.

Der Wendelin des Philipp Stix ist ein Prachtbursche, ein Kraftlackl, ein ehrlicher Empörer mit Revoluzzer-Seele, exakt und beschwingt zugleich, von Wünschen und Forderungen gelenkt, von Ängsten und Nöten getrieben. Und er darf auch – wann war das in Wien zuletzt der Fall? – zu normaler Musik (danke Frizz Fischer) seine Couplets singen. Und der Regisseur erspart sich billige Seitenhiebe auf das tägliche Geschehen. Nur einmal… aber davon später.

Und natürlich ist auch der alte Pfrim des Bernie Feit eine Prachtleistung: dauerbesoffen und entsprechend laut, der Alptraum eines Ehemannes und die Seele von einem Vater. Säufer gelingen Nestroy (man denke an den Knieriem) einfach besonders gut… und gute Schauspieler danken es ihm.

Dritter im Bunde ist eine zappelnde Respektsperson, die ihren Rang ablegt, wenn er zum Liebenden mutiert: Matthias Tuzar als Thurming ist ein Virtuose der Körpersprache, übertreibt schamlos, wenn er den „Teufel“ spielt, für den Wendelin ihn hält, und wird bei der Hetzjagd, die der Regisseur ihm auferlegt, nicht einmal atemlos.

Drei Damen zeigen, dass Nestroy nicht so schlechte Frauenrollen schrieb, wie immer wieder behauptet wird, besonders ein Dienstbote wie Rosalie – herrlich: Johanna Rehm – steckt doch alle Männer souverän in die Tasche, Magdalena Hammer als Komtesse, die von dem bösen Vormund ausgebeutet und weggesperrt werden soll, wehrt sich wenigstens kräftig gegen ihr Schicksal, und Sibylle Kos als Pfrim-Gattin hat sich mit diesem gänzlich unlarmoyant abgefunden…

Mit Leopold Selinger und Georg Kusztrich als der böse und der gute Onkel der Komtesse sind zwei der besten Schauspieler des Hauses aufgeboten und agieren entsprechend, im übrigen gibt es eine Menge „Personal“, die sich ergötzlich, lautstark und komisch in mehreren Rollen umtun (Michael Werner, Leonhard Srajer, Philipp Schmidsberger) – und schließlich erscheint da noch ein Staatssekretär, österreichisches Beamtentum der schlimmsten Sorte, und dass es Peter Fuchs schafft, von der ersten Sekunde an unverwechselbar als Herbert Kickl zu erscheinen – ja, das ist  eine Pointe, die Nestroy, der immer so nahe an der Alltagsrealität war, zweifellos gefallen hätte. Und die ganze Aufführung auch. So wie dem Publikum, das begeisterten Beifall spendete.

Renate Wagner

ATHEN/ Megaro Mousikis; MAHLERS 3. SYMPHONIE mit dem Staatsorchester Athen (Lajovic, Paasikivi)

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Megaro Mousikis, Athen

Staatsorchester Athen: Gustav Mahler Symphonie Nr. 3

Konzert am 10. Januar 2020

Von der tiefen Ewigkeit

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Uros Lajovic. Foto: Agentur

Im Rahmen eines Mahler-Zyklus brachte das Staatsorchester Athen nun das laengste Werk des Komponisten zur Auffuehrung, die dritte Symphonie. Die Veranstalter hatten mit der Verpflichtung des Dirigenten Uros Lajovic eine wirklich gute Wahl getroffen. Der Slowene, der lange Jahre in Wien angehende Dirigenten unterrichtete, erwies sich als der richtige, um dem mit Mahlers Werk noch wenig vertrauten Orchester den Weg zu weisen. Lajovic sorgte denn auch fuer eine hochkonzentrierte und gut gestaltete Auffuehrung des imposanten symphonischen Stuecks.

Die gestalterischen Faehigkeiten des Dirigenten zeigten sich schon im ersten Satz, wo er die gleich einer Collage zusammengefuegten musikalischen Teile spannungsvoll zu verbinden wusste. Dass Lajovic dabei Kontraste und Schaerfen – etwa im Hinblick auf den Marsch – nicht voll ausgekostet hat, duerfte in Ruecksicht auf die (beschraenkten) Moeglichkeiten des Orchesters geschehen sein. Mit sicherer Hand fuehrte er die Musiker durch das Werk, legte ebenso den pastoralen Klang des zweiten wie die groteske Anmutung des dritten Satzes ueberzeugend frei. Bemerkenswert geriet dabei das Hornsolo des Scherzos. Im anschliessenden vierten Satz brachte Lajovic das Orchester dazu, mit der Stimme der Mezzosopranistin Lilli Paasikivi zu atmen. Eindringlich erklang so die Vertonung von Friedrich Nietzsches Nachtwandlerlied aus „Also sprach Zarathustra“. Gelungen war auch die Ausfuehrung des nachfolgenden Chorsatzes, wobei wiederum auffiel, wie gut der Maestro die Singstimmen in den Gesamtklang einzubinden wusste. Das Adagio, der letzte Satz klang wie ein hymnischer Gesang. Gerade im Schlussteil wurde ersichtlich, wie die Gestaltungskraft eines Dirigenten auch ein eher mittelmaessiges Orchester zu einer sehr erfreulichen Leistung fuehren kann.

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Lilli Paasikivi. Foto: Agentur

 

Das Athener Staatsorchester zeigte sich an diesem Abend von seiner besten Seite. Die Blechblaeser liefen nach anfaenglichen Intonationsmaengeln zu Hochform auf. Die Streicher erreichten zwar nicht den intensiven und warmen Klang, den man sich wuenschen wuerde, agierten aber sicher und praezise. Lilli Paasikivi lieferte eine sehr gute Gesangsdarbietung ab. Sie trug das Nietsche-Lied mit warmem, fokussiertem Ton und sehr wortdeutlich vor. Der Chor des Nationalen Rundfunks ERT, der Chor der Stadt Athen und der Rosarte Kinderchor erbrachten sehr solide Leistungen. Alle Beteiligten trugen dazu bei, dass das erste Konzert des Staatsorchesters im Jahr 2020 zu einem eindruecklichen Erlebnis wurde.

Ingo Starz (Athen)

WIEN – NEW YORK / Die Met im Kino: WOZZECK

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WIEN – NEW YORK / Metropolitan Opera /Die Met im Kino:
WOZZECK von Alban Berg
11.
Jänner 2020

Die Metropolitan Opera in New York hat nun jene Produktion von Alban Bergs „Wozzeck“ übernommen, die einen schon nicht ganz glücklich gemacht hat, als man sie 2017 bei den Salzburger Festspielen sah. Natürlich ist William Kentridge ein bedeutender bildender Künstler, aber genau darin liegt das Problem der Aufführung. Er hat seiner Ideenfülle, Bergs Oper zu „bebildern“, nicht die geringsten Schranken auferlegt, er hat ganz einfach die Ausstattung zum Konzept gemacht. In einem Bühnenbild mit fester Einheitsstruktur, das dennoch ununterbrochen anders aussieht, da eine nie endende Folge von Videoprojektionen Bild und Stimmung dauernd verändern, versinken die Figuren des Geschehens nahezu in Bedeutungslosigkeit.

Gewiß hatte man es als Zuseher im bequemen Wiener Kinosessel in Richtung „Met“ weit leichter als einst im Haus für Mozart. Während man beim Live-Eindruck durch Dauerablenkung oft nicht wusste, wo man die Protagonisten in der voll zugemüllten Bühne (Sabine Theunissen) suchen und finden sollte, übernahmen das nun die Kameras. Es machte die Übersicht leichter. Dennoch war der Eindruck von dieser Wozzeck Horror-Picture-Show ein ähnlicher. Besonders die konzertanten Passagen des Werks wurden zur Hintergrundmusik für eine sich selbst bestätigende Bilderflut genommen. Und wo blieb die Geschichte?

Kentridge hat ein Ambiente gewählt, das vom Ersten Weltkrieg erzählt, es gibt viele unscheinbare Uniformen aus dieser Zeit, und ja, es ist eindrucksvoll, wie man hier durch ein optisches Schlachtfeld geschickt wird, in dem weniger mehr wäre, es aber nur noch und noch mehr gibt: Immer wieder schickt Kentridge alte Stummfilme über diverse Leinwände (gleich zu Beginn führt Wozzeck dem Hauptmann einen Film vor, statt ihn zu rasieren), kombiniert seine Zeichnungen mit Computer-Kunst. Als „Performance“ wäre man hoch beeindruckt – fände „nebenbei“ nicht auch noch „Wozzeck“ statt. Immer irgendwo am Rande. Ganz weit abseits der Menschen-Realität, die an diesen Schicksalen ergreift.

Dieses Manko zeigt sich auch an der Entscheidung, das Kind von Wozzeck und Marie mit einer „Puppe“ zu besetzen (das gelang in der New Yorker „Butterfly“-Inszenierung viel besser): Wenn da (ganz im Habjan-Stil) eine grottenhäßliche Handpuppe von Marie angesungen wird, ist das nur befremdlich – und das herzzerreißende Ende, „Deine Mutter ist tot“, wirkt nur, wenn da ein verblüfftes kleinen Kind steht, das weiter spielt… und nicht, wenn ein Puppenkopf ins Publikum starrt, der wirkt, als trüge er eine Gasmaske und dem man eine Soldatenmütze aufgesetzt hat…

Peter Mattei, der einen so hoheitsvollen, zynisch-eleganten Don Giovanni abgibt, ist ein Wozzeck der besonderen Art. Abgesehen von der exzellenten deutschen Aussprache des Schweden, fasziniert sein „Anderssein“ – nicht die arme, geschundene Kreatur, das herumgestoßene Opfer, wie man ihn so oft gesehen hat. Sondern ein völlig in sich verschlossener, verbohrter, manischer Mann, der auch so singt. Eine wirklich erkennbare psychologische Linie der Figur ist natürlich nicht zu erkennen, weil Kentridge ja keine Geschichte erzählt: Aber Matteis Präsenz ist bestechend und stark.

Weit weniger überzeugt Elza van den Heever (die schon im Theater an der Wien so gar keine stimmige „Vestalin“ abgegeben hat): Auch da hakt es an der Regie. Das Kleid ist zwar rot, aber hoch geschlossen, darüber eine Schürze, das Haar brav zurückgebunden – eine aus dem Kloster kommende Nonne könnte so aussehen, nicht die Frau, die so verzweifelt nach Leben giert (Kostüme: Greta Goiris), Sie singt tadellos, aber vielleicht zu schön, zu unengagiert für das, was diese Marie verkörpert.

Als einziger von der Salzburger Inszenierung ist Gerhard Siegel als Hauptmann übrig geblieben. Der Doktor (der sich schon so viele Interpretationen gefallen lassen musste) ist in Gestalt von Christian Van Horn fast parodistisch grotesk. Man freut sich, Christopher Ventris engagiert (sprich: heftig herumrudernd) als Tambourmajor zu sehen, aber der Mann ist wirklich größere Rollen wert. Andrew Staples und Tamara Mumford als Andres und Margret kamen dank der Kameraarbeit gelegentlich zur Geltung, wer den Narren gesungen hat, ist nirgends nachzulesen.

Yannick Nézet-Séguin betonte in gleich zwei Interviews, wie besonders, grandios und komplex diese Partitur sei. Keine Frage, dass er, das Orchester und Bergs Musik durch die Inszenierung schlicht und einfach in den Hintergrund gedrückt wurden, bei allen – auch erfolgreichen – Bemühungen um Intensität.

Übrigens: Der Opernfreund mag sich an James Levine erinnern, der diese Oper besonders liebte, der Dirigent, der alles konnte, den die Met auf Händen getragen hat und der nun dermaßen der „damnatio memoriae“ anheim gefallen ist, als hätte es ihn nie gegeben. Wie mittlerweile auch Placido Domingo, der in den Werbefilmen, die vor den Met-Vorstellungen stets ablaufen, vielfach unter den Superstars vertreten war. Mittlerweile ist er herausgeschnitten, verschwunden, als Erinnerung vernichtet. Eine seltsame Welt, in der wir leben.

Renate Wagner

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