Quantcast
Channel: KRITIKEN – Online Merker
Viewing all 11208 articles
Browse latest View live

WIEN / Theater im Park: GÜNTHER GROISSBÖCK & PHILHARMONIA SCHRAMMELN

$
0
0
groissböck

Groissböck mit Johannes Tomböck und Heinz Hromada. Foto: Martina Schmid-Kammerlander

WIEN / Theater im Park: GROISSBÖCK & PHILHARMONIA SCHRAMMELN

19. Juni 2021

Von Manfred A. Schmid

Günther Groissböck, Wagner- und Strauss-Sänger von weltweitem Format, als Wienerlied-Sänger? – Dass er das kann und damit eine weitere stimmige Facette seines Könnens offenbart, hat der Bassist bereits vor zwei Jahren unter Beweis gestellt. Der erste Auftritt fand, wie bei diesem seiner Heimat zutiefst verbundenen und geerdeten Sänger üblich, im Mai 2019 in kleinem Rahmen in seiner Geburtsstadt Waidhofen an der Ybbs statt. Schon damals war die einzigartigen Wiener Philharmonia Schrammeln dabei, und selbstverständlich gehörte ein anschließender Plausch mit seinen Waidhofenern bei Wiener Wein und einem Heurigenbuffet mit dazu. Weitere Auftritte in diesem Metier wurden – mit einer Ausnahme – von Corona verhindert: Im Juli 2020 lud der Tausendsassa André Heller Groissböck und Camilla Nylund zu einem Hauskonzert besonderer Art, dass dann im Herbst auf ORF III ausgestrahlt wurde. Neben ausgesuchten Evergreens des Wienerliedes standen damals auch Chansons, Musicalhits wie Stephen Sondheims „Send in The Clowns“ sowie, mit einem Stück von Richard Strauss, auch das deutsche Kunstlied auf dem Programm.

Aufgrund dieser ersten Erfahrungen bestärkt und gereift, präsentiert sich Günter Groissböck, im Verein mit den Philharmonia Schrammeln Johannes Tomböck und Dominik Hellsberg (Violine), Heinz Hromada (Kontragitarre, Günter Haumer (Knopfharmonika) und Stefan Neubauer (G-Klarinette), im herrlichen Ambiente des Wiener Theater im Park mit erlesenen Kostproben der Wiener Musik. Das kundige Wiener Publikum ist hellauf begeistert. Günther Groissböck ist auf bestem Weg, sich in den Reigen jener Opernsänger einzureihen, die zu Publikumslieblingen des Wienerlieds wurden, wie etwa Erich Kunz, Walter Berry, Heinz Holecek, Heinz Zednik. Auf genau dieser Bühne im Schwarzenberg Park hat sich vor einem Jahr auch Jonas Kaufmann mit einem Querschnitt von Wienerliedern vorgestellt. Groissböck bezieht sich – in einer Zugabe – scherzhaft darauf, als er augenzwinkernd die Hoffnung ausdrückt, bei seinem Auftritt wohl„authentischer zu sein als die Münchener Tenor-Variante“. Das steht jedenfalls außer Zweifel. Ganz die Wiener Sprechweise hat er (noch) nicht, aber er kommt dem Wiener Idiom sehr nahe.

Liebevoll die Wiener Seele auslotend, gestaltet Groissböck die musikalischen Kleinode des Wienerliedes. Im Mittelpunkt des Programms stehen drei thematische Paarungen: Bäume, Fiaker und Lebensphilosophie. Emmerich Zillners „Es steht ein alter Nussbaum“ und Pepi Wakovskys „Der narrische Kastanienbaum“ werden mit leichter Wehmut und nicht ohne dem nötigen Quäntchen Humor zum Besten gegeben. Selbstbewusst geht es in „Stellt’s meine Ross‘ in‘ Stall“ zur Sache, und dann verwundert es nicht, dass der vermutlich beste Ochs auf Lerchenau im anschließenden „Fiakerlied“ von Gustav Pick auch den kecken Pfiff, auf den alle warten, effektvoll setzen kann. In „Wenn der Herrgott net will“ und „Es is einmal im Leben so“ geht Groissböck dem Wiener Gemüt auf den Grund und rechnet milde mit den Suderanten ab. Die Philharmonia Schrammeln begleiten ihn dabei gediegen und springlebendig zugleich. Dass sie in den instrumental dargebotenen Tänzen, ob Walzer, Polka, Marsch oder in der an Richard Wagner angelehnten „Ring-Quadrille“, beseelt und beschwingt zugleich aufspielen, gehört einfach dazu. Es werde dankenswerterweise auch nicht so populäre Stückerln des Schrammel-Repertoires angeboten, wie etwa der „Glasscherb’n Tanz“ oder der „Beim-G’rebelten“-Tanz.

Der Applaus des Publikums wird mit drei Zugaben belohnt. Der gelungene Sommernachmittag im Park nimmt mit, „Ich hab‘ die schönen Maderln net erfunden“, Hermann Leopoldis „In einem kleinen Café in Hernals“ und „Verkauft‘s mei G’wand, ich fahr‘ in Himmel“ seinen feinen Ausklang.


WIEN/ Staatsoper: LOHENGRIN . Das „Wirtshaus zum Lohengrin“ hat wieder geöffnet

$
0
0

lohengrin d5a0371 eroed youn
Adrian Eröd, Kwangchul Youn. Foto: Wiener Staatsoper Pöhn

WIEN/ Staatsoper: LOHENGRIN  – 19.6.2021

Das „Wirtshaus zum Lohengrin“ hat an der Staatsoper wieder seine Tore geöffnet – und gegen ein kühles Bier hätte bei den herrschenden Außentemperaturen auch niemand etwas einzuwenden gehabt. Es handelte sich bereits um die 26. Auflage dieser von der Staatsoper durchgeführten Trachtenmodenschau.

Lohengrin in der Lederhose, Elsa im Dirndl. Aber das äußere Erscheinungsbild dieser Produktion aus dem Jahr 2014 (Regie: Andreas Homoki, Ausstattung: Wolfgang Gussmann) ist ohnehin bekannt. An diesem Nachmittag sorgte vor Vorstellungsbeginn außerdem die Regenbogenparade für allerhand Verkehrswirrwarr – und wer zu Fuß in die Staatsoper eilte, riskierte wegen der sommerlichen Hitze, sein Hemd schon vor der Vorstellung durchzuschwitzen. Die Staatsoper war anlassbezogen beflaggt und von der Terrasse aus konnte man mit anteilnehmender Distanz dem bunten Vorbeitreiben auf der Ring-Straße folgen. Beginn der Vorstellung war um 17 Uhr.

Musikalisch bot die Aufführung einige interessante Debüts: Cornelius Meister stand zum ersten Mal im Haus bei einem „Lohengrin“ am Pult, Tanja Ariane Baumgartner und Johan Reuter feierten Staatsopern-Rollendebüts als Ortrud bzw. Telramund, Sara Jakubiak trat als Elsa zum ersten Mal an der Staatsoper auf.

lohengrin d5a0437 vogt jakubiak
Klaus Florian Vogt, Sara Jakubiak. Foto: Wiener Staatsoper Pöhn

Mit dem Lohengrin des Abends, Klaus Florian Vogt, stand die Premierenbesetzung auf der Bühne. Vogts „ätherischer“ Lohengrin ist in den Jahren zu einer gesanglich und darstellerisch ausdifferenzierten Bühnenfigur gereift. Allein wie er die „Taube“ in der Gralserzählung modelliert oder mit welcher verhaltenen, aber zu gleich erschütternden Traurigkeit er das „Weh, nun ist all unser Glück dahin“ gestaltet. Es sind Nuancen, die sich zu einem plastischen Rollenporträt summieren, zumal er auch die Gralswelt mit keuscher, fast knabenhafter Stimme zeichnet, für die weltliche Seite seiner Existenz aber auch virilere Töne findet. Vogt agiert sehr textbezogen und „mischt“ und je nach Bezugnahme die Stimme passend ab. Sein Tenor ist tragfähig, seine Bühnenpräsenz stark.

lohengrin d5a0384 reuter baumgartner
Johan Reuter, Tanja Ariane Baumgartner. Foto: Wiener Staatsoper Pöhn

Die amerikanischen Sopranistin Sara Jakubiak (Elsa) war mit einem mehr sehnigen als aufblühenden, gut tragenden Sopran bestückt, die fragende Verzweiflung des dritten Aufzugs passte besser zu ihr, als die traumverlorene Sehnsucht nach einem rettenden und liebenden Ritter. Sie fügte sich gewandt in die Inszenierung ein und war darstellerisch präsent. Tanja Ariane Baumgartner lieh der Ortrud eine starke Persönlichkeit und einen fülligen Mezzo mit kräftigen, markanten Spitzentönen. Die „Entweihten Götter“ fegten energiegeladen durchs Auditorium, im Streit mit Elsa schien das „Pulver“ dann ein wenig verschossen. Ihren Telramund hatte Ortrud fest im Griff: Johan Reuter sang keinen geifernden Bösewicht, sondern mit seiner noch etwas weicher konturierten Stimme wurden die menschlichen Schwächen dieser Figur greifbar: seine Hörigkeit gegenüber Ortrud, aber auch sein von vornherein zum Scheitern verurteiltes, trotziges Aufbegehren gegenüber dem Gralsgesandten.

Der Heerrufer, der hier als Aktentaschenträger von König Heinrich fungiert – Kwangchul Youn mit bewährtem, leicht graumeliertem Bass – wurde von Adrian Eröd zu einem beinahe „advokatenhaften“ Rollenporträt geformt, passend zum Rahmen dieser Inszenierung. Sich wuchtig ins Zeug legende Chormannen und sensiblere Chorfrauen, nicht ganz so edel gestimmte brabantische Edle (Oleg Zalytskiy, Martin Müller, Hiro Ijichi, Herrmann Thyringer) und vier Edelknaben (Irena Krsteska, Maria Isabel Segarra, Anna Charim, Viktoria McConnell) rundeten den Abend ab. Das Orchester unter Cornelius Meister spielte „zünftig“ auf. Die Lautstärke ist nicht nur wegen der COVID-bedingten Besucherbegrenzung eine Herausforderung, aber da offensichtlich ganz besonders. Das Dirigat stellte die Höhepunkte gut heraus, der feinste Gralsglanz hatte sich aber noch nicht über die Streicher gelegt.

lohengrin d5a0609 jakubiak

Sara Jakubiak, Klaus Florian Vogt. Foto: Michael Pöhn

Im Gesamteindruck bot der Abend eine spannende Repertoireaufführung. Es handelte sich um die erste Wagner-Aufführung der Saison vor zahlendem Publikum: Keine Überraschung also, wenn selbiges beim Schlussbeifall sogar mit rhythmischem Klatschen seine Begeisterung ausdrückte.

Dominik Troger / www.operinwien.at

 

DRESDEN/ Operettentheater: “SO VERLIEBT IN DIE LIEBE“ – EINE OPERETTEN-REVUE MIT „OHRWÜRMERN“ VON FRANZ LEHÀR UND OSCAR STRAUS. Premiere

$
0
0

Dresden/Operettentheater: “SO VERLIEBT IN DIE LIEBE“ – EINE OPERETTEN-REVUE MIT „OHRWÜRMERN“ VON FRANZ LEHÀR UND OSCAR STRAUS – Premiere – 18.6.2021

Verliebt in die Liebe? In der Operette ist (fast) alles möglich, erst recht in einer gegenwärtigen Lesart. Cornelia Poppe (Staging) und Judith Wiemers.(Dialoge und Dramaturgie) haben zum Thema einschlägige Chansons, Couplets und Duette aus Operetten von Oscar Straus und Franz Lehár sowie lakonische und ironische Gedichte (Kurt Tucholsky, Erich Kästner) mit eigenen Texten mittels Dialogen zwischen einer rational denkenden, reiferen Frau und einem „ewig jungen“ Mann locker zu einer Operetten-Revue zusammengebunden.

Als ungleiches Paar parlieren Silke Richter, die mit ihren guten Gesangsdarbietungen, u. a. „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ aus „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Straus) überzeugen und begeistern konnte, und der jugendlich wirkende Andreas Sauerzapf mit Spieltalent „sehr gegenwärtig“ und etwas trocken über die Liebe, weniger witzig-spritzig, sondern realistisch, lebensnah, sie abweisend aus sehr rationalen Gründen (leider artikulationsbedingt nicht immer gut zu verstehen) und er, seiner Hoffnung Ausdruck verleihend, sie doch noch in Liebesdingen „bekehren“ zu können, bis sie sich schließlich und endlich am Schluss  gemeinsam und heiter „In der kleinen Bar““ (Lehár) „zusammenfinden“ – ganz anders als in Kästners „Schlichter Romanze“ „ins kleinste Café“, wo sich zwei nichts mehr zu sagen haben.

Auf der Bühne war nichts von einer Bar zu sehen. Den Besucher empfängt ein großes, weites Herz aus unzähligen kleinen Lämpchen vor rotem Plüschvorhang (eine Reminiszenz an „plüschige“ Operettenzeiten oder Rotlichtmilieu, in das heutzutage von den Regisseuren so manches umgedeutet wird?), eine weiße Wolke, auf der mehrere Verliebte nacheinander ihren Sehnsüchten nachhängen, und Türen, Türen, Türen (seit wie vielen Jahren schon?) in Form von weißen „Schränken“ ohne Inhalt, d. h. zwischenzeitlich mit einer papierenen Ziegelwand, durch die die Akteure gelegentlich springen wie in einem Action-Film und ansonsten oft rein und raus gehen und die Tür-Objekte hin und her schieben (Ausstattung: Thorsten Fietze).

Die Bühne ist schwarz-weiß (und ein bisschen grau) gehalten, ebenso die modisch-eleganten und extravaganten Kostüme. Als Farbtupfer gibt es rote Luftballons,  das eine oder andere rote („Gängel“-)Band zwischen Mann und Frau, eine rote (nicht rosarote!) Brille, die rote Karte, die man sich gegenseitig zeigt – völlig unbegründet auch dem Orchester – sowie einen großen und einen noch größeren Lippenstift („Schleichwerbung“ für den, wegen der Maskenpflicht eingebrochenen Absatz dieses Artikels?). Ansonsten bestimmen „Leucht“-Herzen in Zentral-Perspektive bis ins Orchester das Bühnenbild und vermitteln Revue-Atmosphäre.

Das Orchester der Staatsoperette, gut sichtbar im Hintergrund der Bühne platziert, bis es im zweiten Teil mal im (Viseo-)Nebel versinkt, hatte unter der Leitung von Chefdirigent Johannes Pell wesentlichen Anteil am Gelingen des Abends, nicht nur mit seiner zuverlässigen Musizierweise, sondern vor allem auch mit seinem Schwung und dem nötigen Operetten-Feeling von der „Ouvertüre“ aus „Rund um die Liebe“ (Straus) mit säuselndem, innigem Violinsolo bis zum „Walzertraum“, bei dem selbst der Dirigent leise mit“tanzte“. So zündend muss Operette sein!

„Spitzen“-Leistungen im wahrsten Sinne des Wortes gab es beim Ballett (Choreografie: Mandy Garbrecht), wo zwei Ballerinen perfekt auf Spitze tanzten und schöne Sprünge zeigten, Izabela Tonevitska mit sehr fließenden, sehr anmutigen, graziösen Bewegungen und Olena Andryeyeva eher kraftvoll. Eliton Da Silva de Barros lockerte das Bild in dezent clownesker Art auf, und Vladislav Vlasov präsentierte sich als Gentleman. Das Ballett belebte die Szenen voller sehnsuchtsvoller Couplets, verliebter Duette und kleiner Ensembleszenen, dargeboten von Solistinnen und Solisten des Operettentheaters. Was zuweilen etwas fehlte, war die Leichtigkeit, die man bei Operetten als entspannte Unterhaltung mit Witz und Sinn nun einmal erwartet, auch wenn es sich nur um Ausschnitte handelt.

Ingeborg Schöpf, die Grand Dame der Operette beherrscht die große Kunst, die so leicht aussieht und doch so schwer zu machen ist. Mit natürlichem Charme, großem sängerischem und darstellerischem Können, glanzvoll und sanft, besinnlich und mit Leidenschaft sang sie „Rosen, die wir nicht erreichten“ aus „Der letzte Walzer“ (Straus) und brachte damit neben dem musikalischen Genuss auch etwas Nachdenklichkeit in den bunten Reigen der Liebebetrachtungen. Für sie gibt es keinen Stillstand auf der Bühne. Sie ist immer in angemessener Bewegung, was den viel gerühmten „zündenden Funken“ mitbestimmt. Selbst wenn sie nicht im Blickpunkt des Geschehens steht, spielt sie ihre Rolle vorher und nachher weiter (im Gegensatz zu manch anderen Kollegen). Bei ihr stimmt jeder Ton und jede auch noch so kleine Geste.

Dass diese Kunst noch nicht erloschen ist, bewies Christina Maria Fercher, die mit jugendlichem Charme, bezauberndem Gesang und natürlicher Anmut gleich mit ihrer ersten Nummer „Wie schön ist dieses Männerbild“ (ein Pendant zur „Zauberflöte“ ?) aus „Der tapfere Soldat“ (Straus), die Herzen des Publikums gewann, so wie auch mit (wie zutreffend) „Wenn ich die Bühne betrete“ aus „Die blaue Mazur“ (Lehár). Die drei Damen, die an diesem Abend die musikalischen Glanzpunkte setzten (Fercher, Richter, Schöpf), vereinten ihre Stimmen in „Das Geheimnis sollst du verraten“ aus „Ein Walzertraum“ (Straus).

Henriette Oswald sang und tanzte, wie es sich für Operette gehört, und Steffi Lehmann brachte mit burschikoser Art eine weitere Farbe ins Bild. Matthias Koziorowski sang „Schön ist die Welt“ (Lehár) und das immer zündende „Wolgalied“ aus „Der Zarewitsch“ mit profundem, baritonal gefärbtem Tenor und viel Enthusiasmus. Elmar Andree, Nikolaus Nitzsche, Tino Schnabel und Gerd Wiemer gestalteten auf ihre Art den, 2 Stunden 15 Minuten währenden, Abend voller Ohrwürmer von Straus (acht Titel) und Lehár (11 Titel) und alter Operettenseligkeit in neuem Gewand, der zum Publikumsmagnet werden könnte.

Ingrid Gerk

 

INNSBRUCK/ Tiroler Landestheater: THE RAPE OF LUCRETIA – beklemmend und stark. Premiere

$
0
0

foto nr. 6299 1 the rape of lucretia
Alec Avedissian (Tarquinius), Irina Maltseva (Lucretia) © Birgit Gufler

Innsbruck: „THE RAPE OF LUCRETIA“ – 19.6.2021 Premiere – beklemmend und stark

Benjamin Brittens Kammeroper „The Rape of Lucretia“ in der Inszenierung des Tiroler Landestheater-Intendanten Johannes Reitmeier bildet den Ausklang einer coronabedingt kurzen Spielzeit in Innsbruck. Der Stoff dieses 1946 entstandenen musikalischen Bühnenwerks – die Vergewaltigung der römischen Generalsehefrau Lucretia durch den etruskischen Tyrannen Tarquinius, ihr Selbstmord und der römische Aufstand gegen die Etrusker – geht auf den römisch-antiken Geschichtsschreiber Titus Livius zurück und wurde von Ronald Duncan, Brittens Librettisten, mit einer katholischen Botschaft versehen: Hoffnung auf die Erlösung durch Jesus Christus angesichts einer schlechten Welt, in der Grausamkeiten, wie Lucretia sie erleiden musste, möglich sind; nicht zu vergessen der zeithistorische Kontext von Brittens Kammeroper unmittelbar nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieges.

foto nr. 2006 the rape of lucretia
Jennifer Maines (Erzählerin) © Birgit Gufler

Johannes Reitmeiers Inszenierung beeindruckt durch ihre kompakte Anlage, Schlüssigkeit und glasklare Linie. Offenbar ließ er sich von Brittens Musik, geschrieben für Streichquintett kombiniert mit Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Harfe und Schlagwerk, inspirieren, denn so bildhaft, reichhaltig, doppelbödig und sparsam zugleich wie diese ist auch Reitmeiers Inszenierung, die das Stück in die Gegenwart verpflanzt. Spielerischer Umgang mit Symbolen (zum Beispiel Blumen verschiedener Art) und eine stringente Personenführung, in der jede Bewegung, jede Geste ihren Sinn hat, zeichnen eine Regie aus, die sich vor dem Hintergrund beeindruckend schlichter und aussagekräftiger Bühnenbilder (von Michael D. Zimmermann) abspielt. Es braucht nicht viel, damit das Setting stets klar ist: den Barraum eines Offizierskasinos, Lucretias Wohnstube, deren wohltuende Ästhetik nahezu unmerklich durch ein Gemälde an der Wand, das das Verbrechen an Lucretia quasi vorwegnimmt, irritiert wird, ihr Schlafgemach und schließlich einen nur angedeuteten sakralen Erinnerungsraum, um die religiöse Schlussbotschaft, die in Wort und Musik ja ohnehin dick aufgetragen wird, dezent abzufedern. Und dazwischen gesellschaftspolitische Visualisierungen durch entsprechende Videoprojektionen, denn im Grund genommen ist das Lucretia-Thema gesellschaftspolitisch: Es geht um verstörende Geschlechterklischees, Machtmissbrauch gegenüber Frauen und was dieser bei den Opfern bewirkt.

foto nr. 6583 the rape of lucretia
Camilla Lehmeier (Bianca), Annina Wachter (Lucia) © Birgit Gufler

Die Stärke der Gesamtproduktion liegt zweifellos aber auch in ihrer Besetzung. Irina Maltseva (Mezzosopran) als Lucretia vermag die ungeheure Tragik ihrer Figur beklemmend und stimmlich überzeugend darzustellen, ebenso wie Alec Avedissian (Bariton), der stark in allen Stimmlagen die blindwütige Machtgier des Prinzen Tarquinius verinnerlicht. Seine zunächst „fratres in vino“ und letztlich Opfer und Gegenspieler, die Bässe Johannes Maria Wimmer (General Collatinus und Lucretias Ehemann) und Unnsteinn Árnason (General Junius), überzeugen durch stimmliche Präsenz und Pointiertheit, ebenso wie ihre weiblichen Gegenbilder, die Mezzosopranistin Camilla Lehmeier (Bianca) und Sopranistin Annina Wachter (Lucia). Auch diese „Gefährtinnen“ Lucretias sind in Brittens sehr „demokratischer“ Musik alles andere als bloße Nebendarstellerinnen, haben viel zu singen und treiben die Handlung mit engagierter Wärme (Lehmeier) und faszinierend aufblitzenden Koloraturen (Wachter) voran. Und dann gibt es noch eine Erzählerin und einen Erzähler, die einerseits die Handlung kommentieren, gelegentlich in die Köpfe der Hauptakteure eintauchen und Teil der Handlung werden: der stimmlich grandiose Dale Albright und die abgeklärte, überzeugend auftretende Jennifer Maines. Sie alle profitieren vom einfühlsamen Kammerorchester, das sich aus Mitgliedern des Tiroler Symphonieorchesters Innsbruck zusammensetzt, und ihrem inspiriert und umsichtig dirigierenden Chef Kerem Hasan.

Thomas Nußbaumer

 

 

BERLIN/ Staatsoper: LA FANCIULLA DEL WEST

$
0
0

kam
Marcelo Alvarez, Anja Kampe.Foto: Martin Sigmund

Berlin, Staatsoper: „LA FANCIULLA DEL WEST“ von Giacomo Puccini, am 19.06.2021

Die Corona-Lockdowns scheinen fast allenthalben bei der Rollen-Besetzung einen Qualitätsschub ausgelöst zu haben. Gut und sehr gut gesungen und gespielt wurde in der Musik-Metropole Berlin fast ständig, doch jetzt wird beispielsweise bei der Staatsoper Unter den Linden der Neustart mit international renommierten Stars angereichert. Insgesamt geben die Häuser der Pandemie Contra und locken die ausgehungerten Kulturfans – trotz Temperaturen über 30 Grad Celsius – in die Theater und Musiktempel. Und die kommen gerne.

Die Staatsoper unter den Linden präsentiert mit Giacomo PuccinisLa Fanciulla del West“ sogar ein bisher noch nie in diesem Haus gespieltes Stück, hat die drei Hauptrollen entsprechend luxuriös besetzt, die Premiere dem Pultstar Antonio Pappano und der Staatskapelle Berlin anvertraut und die Inszenierung der jungen US-Amerikanerin Lydia Steier. Obwohl sie seit 2002 in Berlin lebt, hatten die Berliner Häuser – abgesehen von der Komischen Oper – diese Regisseurin noch nicht so recht auf dem Schirm.

Jetzt aber hat Matthias Schulz, Intendant der Staatsoper,  zugegriffen in der richtigen Vermutung, dass diese Frau den Wilden Westen und Kaliforniens Goldrausch von 1849/50 in ihrer DNA trägt. Tatsächlich scheut sie sich nicht, die dortigen rauen Sitten auch durch Hinzufügung von fünf Stunts Geübten drastisch zu inszenieren.

Männer beim Prügeln, Zocken, Rauchen und Whiskysaufen. Gleich zu Beginn baumelt ein vom Sheriff Jack Rance Abgeurteilter am Galgen, während über dem kleinen POLKA-Saloon die übergroße Leuchtreklame einer Nackttänzerin eine besondere Befriedigung verspricht. (Bühnenbild und Kostüme  David Zinn).

Dass Puccini diesen Stoff wählte, war wohl einer Einladung der Met im Jahr 2004 zu verdanken. Der weltberühmte Komponist sollte die Regie von zwei seiner Opern überprüfen und bei den Premieren anwesend sein. Per Schiff reisten Puccini und seine Frau nach New York, und diese Metropole mit ihrem Tempo faszinierte ihn sofort.

Nach dem Libretto von Guelfo Civinini und Carlo Zangarini, basierend auf David Belascos Stück „The Girl of the Golden West“, komponierte Puccini die Oper „La Fanciulla del West“. Das US-Tempo nahm er in seine Partitur auf und verzichtete – bis auf eine – auf zeitraubende Arien, die ihn und seine Opern „La bohème (1896), Tosca (1900) und Madame Butterfly (1904) berühmt gemacht hatten.

Allerdings geriet dadurch „La Fanciulla des West“, uraufgeführt an der Met im Dezember 2010, dirigiert von Arturo Toscanini und mit Enrico Caruso in der männlichen Hauptrolle, in Europa ins Abseits. Puccini meinte jedoch, damit die beste seiner Opern komponiert zu haben.

Unüberhörbar ist aber Puccinis Bezug auf seine vorherigen Erfolgswerke schon bei der Namenswahl. Aus der Mimi in „La Bohème“ wird die Minnie in „Fanciulla del West“. Ganz ähnlich wie die bezeichnet sie sich gegenüber dem ersten Mann, der ihr Herz gewinnt, bescheiden als einfaches Mädchen ohne richtige Schulbildung. Musikalisch fällt diese Ähnlichkeit ebenfalls auf.

Doch anders als Mimi bestickt diese US-Minnie keine Kissen. Die ist eine Powerfrau, die die Männer im Goldgräberlager im Griff hat, ihnen aus der Bibel vorliest, auf deren Gold – untergebracht in einem riesigen Büffel – aufpasst und schließlich wie eine Löwin erfolgreich um das Leben ihres geliebten Dick Johnson kämpft. Seinen Rivalen, den Sheriff Jack Rance, besiegt sie mit einem Pokertrick.  Dramatisch hat Puccini diese Szenen komponiert. 

Fabelhaft singt und gestaltet Anja Kampe diese Rolle, macht stimmlich und darstellerisch aus der zunächst abweisenden und dann vorsichtig verliebten Minnie schließlich die um Glück und Leben kämpfende Frau zwischen zwei konkurrierenden Männern.

michael volle, marcelo Álvarez und andere, foto martin sigmund
Michael Volle, Marcelo Alvarez. Foto: Martin Sigmund

Vollends überzeugt auch Michael Volle als (an den Kettenraucher Puccini erinnernder) brutaler Sheriff, der Minnie sogar 1.000 Dollar für einen Kuss bietet, was sie aber stolz ablehnt. Doch ein jüngerer, gut gekleideter Besucher, der sich als Johnson aus Sacramento vorstellt und mit ihr vorsichtig auf dem Tisch tanzt, gewinnt schnell ihr Herz und nicht wegen seines feinen Anzugs. Ein Zufallstreffen hat schon vor Jahren stattgefunden, jetzt finden sie sich unerwartet wieder. Er willigt auch ein, sie auf ihrer Hütte in den Bergen zu besuchen. Für ihn macht sich die Bescheidene nun so schön wie möglich.

Was sie nicht weiß ist, dass der angeblich feine Herr der von den Goldgräbern intensiv gesuchte Bandit Ramerrez ist. Trotz des einsetzenden Schneetreibens will er fliehen, wird aber draußen angeschossen. Minnie rettet ihn ins Haus und schließlich, jedenfalls für 14 Tage, mit der schon erwähnten Pokerrunde.

Je dramatischer und gefährlicher sich das Geschehen entwickelt, umso mehr blüht der Tenor von Marcelo Álvarez auf und erreicht ein Qualität, die ihm so nicht alle Tage gelingt. Zum Höhepunkt Der Oper wird so die einzige Arie, die er, schon die Schlinge des Galgens um den Hals, voller Schmelz und Leidenschaft singt. Der einzige Wunsch des Ex-Banditen, der durch Minnie ein anderer Mensch geworden ist, lautet: niemand soll Minnie sein schmachvolles Ende verraten. Auch Pavarotti hat später diese Arie gesungen. Hier der Text:

Ch’ella mi creda libero e lontano
sopra una nuova via di redenzione!…
Aspetterà ch’io torni…
E passeranno i giorni,
E passeranno i giorni,
ed io, ed io non tornerò…
ed io non tornerò…
Minnie, della mia vita mio solo fiore,
Minnie, che m’hai voluto tanto bene!…
Tanto bene!
Ah, ah! tu della mia vita mio solo fior!

In englischer Übersetzung heißt das:

Let her believe I’m free and far away
On a new path of redemption!…
She will wait for my return…
And the days will pass,
And the days will pass,
and I, and I will not return.
and I will not return.
Minnie, the only flower of my life,
Minnie, who loved me so much!…
So much!
Ah, Ah! you’re the only flower of my life!   

Doch wieder ist Minnie gerade noch rechtzeitig zur Stelle und appelliert an die wilde Männer-Meute – ihren Einsatz für sie während all’ der Jahre benennend – diesen Man ihr zu geben und ihn mit ihr fortgehen zu lassen.

Die ihr das nun mit Wehmut erlauben, sind ebenfalls Klasse:

Stephan Rügamer als Trans Nick,  Łukasz Goliński als Sonora, Jan Martiník als Aschby,  Grigory Shkarupa als Jake Wallace, Siyabonga Maqungo als Trin, Jaka Mihelač als Sid, Adam Kutny als Bello, Florian Hoffmann als Harry, Andrés Moreno García als Joe,  Viktor Rud als Happy, David Oštrek als Larkens, Žilvinas Miškinis als Billy Jackrabbit,  Natalia Skrycka als Wowkle, Frederic Jost als José Castro, Spencer Britten als Postillon, Mia Selka de Paiva als Kind sowie Herren des Staatsopernchors, einstudiert von Martin Wright. Das Video mit Sturm und Schneetreiben schuf Video  Momme Hinrichs.

Dieser Schluss ist herzerweichend und viel zu schön um wahr zu sein. Doch das ist halt eine echte Puccini-Oper, die genau so viel Einsatz und Wertschätzung verdient wie seine sattsam bekannten Dauerbrenner.  Hingehen!!    

Ursula Wiegand

ATHENS/Epidaurus Festival/Pereiros 2060: Dyptik: D-Construction / Alexandra Waierstall: ANNNA3. The Worlds of Infinite Shifts 

$
0
0

Athens Epidaurus Festival, Peiraios 260

Dyptik: D-Construction / Alexandra Waierstall: ANNNA3. The Worlds of Infinite Shifts 

Besuchte Vorstellungen am 19. Juni 2021

d construction press 02 photo dyptik scaled
Foto: Epidauros-Festival

Windungen der Körper

Ein Schwerpunkt des Tanzprogramms beim Athens Epidaurus Festival ist betitelt: „Layers of Street“. Der Abend auf dem Festivalgelände an der Peiraios 260 beginnt mit einem etwa 30-minütigen Stück, das inhaltlich und personell seine Wurzeln im Street Dance hat. Die Choreografie „D-Construction“ der französischen Gruppe Dyptik, die unter der künstlerischen Leitung von Souhail Marchiche und Mehdi Meghari steht, arbeitet mit Elementen von Hip-Hop und Breakdance. Hinter und vor einem hohen Metallzaun auf dem Festivalplatz zeigt das sechsköpfige Ensemble die Gemeinschaften und Kämpfe der Strasse. Das hat viel mit dem zu tun, was sich beispielsweise in Pariser Vorstädten abspielt, wo sich Hoffnungslosigkeit und Wut, aber ebenso Lebensfreude junger Immigranten immer wieder Luft verschaffen. Das Stück ist kraftvoll in der Darstellung von Gruppendynamik und es berührt, wo es sich auf Regungen und Körperwindungen einzelner Protagonisten einlässt. Die Frage, die im Raum steht, ist: Was genau meint eigentlich dieser Zaun und wen umschliesst er?

Auf die gesellschaftliche Perspektive, welche „D-Construction“ aufwirft, folgt eine mehr intimere Betrachtung des weiblichen Körpers. Alexandra Waierstall präsentiert ihr Werk „ANNNA3. The Worlds of Infinite Shifts“ in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Pianisten Hauschka und der Lichtdesignerin Caty Olive. Kostüme und Bühnenraum hat die Choreografin zusammen mit ihrem Ehemann Horst Waierstall entworfen. Die einzelnen Komponenten sind sorgfältig gestaltet und fügen sich überzeugend zusammen. Wie erscheint nun der weibliche Körper in diesem Setting? 

Die drei Tänzerinnen Ioanna Paraskevopoulou, Karolina Szymura und Ying Yun Chen treten als Individuen und in Gruppenzusammenhängen vor das Publikum. Sie zeigen in einer knappen Stunde ein Spiel von Enthüllung und Verwandlung. Erscheinen sie zunächst in dunklen, auch den Kopf verhüllenden Gewändern auf der Bühne, legen sie diese später komplett ab. Den Sequenzen mit den nackten Körpern der Performerinnen kommt fraglos entscheidende Bedeutung zu. Die Körper beginnen zu kommunizieren. Dabei wird Intimität erfahrbar, wird der Körper zum Träger von Ausdruck und Identität. Die Tänzerinnen spielen Rollen durch, erinnern einmal in ihrer Bewegungskonfiguration gar an die drei Grazien. Die Choreografie markiert eine Art Suchbewegung und wirft Fragen danach auf, wie Frauen sich selbst darstellen und wie sie von Betrachtern wahrgenommen werden. Gegen Schluss, wenn sich eine der Performerinnen in einen glitzernden Mantel wirft, wird der Aspekt der Rollensuche und -zuweisung besonders anschaulich. Ein Dialog von Innen- und Aussenperspektive zieht sich durch das Stück.

Man hätte sich für „D-Construction“ einen belebteren urbanen Platz, für „ANNNA3“ einen mehr Intimität und Nähe gewährenden Raum vorstellen können. Gleichwohl ist man dankbar für die interessante und kontrastreiche Programmzusammenstellung. Das Publikum spendet nach beiden Performances kräftigen Beifall.

Ingo Starz (Athen)

DRESDEN/ Semperoper: 11. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN UNTER MYUNG-WHUN CHUNG – ALS „VARIATION 11“

$
0
0

 

Dresden / Semperoper: 11. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN UNTER MYUNG-WHUN CHUNG – ALS „VARIATION 11“ – 19.6.2021

0568 chung
Myung Whun Chung. Foto: Sächsische Staatskapelle

Den Auftakt für die, nach dem Lockdown wieder mit Publikum stattfindenden, Konzerte der Sächsischen Staatskapelle Dresden bildete die (dreimalige) Aufführung des 11. Symphoniekonzertes – als „Variation 11“ wegen der wie überall begrenzten Besucheranzahl und kürzeren Aufführungsdauer. Von dem ursprünglich vorgesehenen Programm der „Tanz- und Traumwelten“ mit Kompositionen von Gabriel Fauré, Claude Debussy („La mer“) und Maurice Ravel („Daphnis et Chloé“ und „La valse“) blieb nur die Suite „Pelléas et Mélisande“ (op. 80) von Fauré, ein Hauptwerk des Symbolismus, kombiniert mit der „Symphonie Nr. 9 e‑Moll (op. 95) „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvořák.

In der Suite, in der Fauré seine, für die Londoner Erstaufführung (1898) verfasste, erfolgreiche Bühnenmusik zu dem gleichnamigen Theaterstück des belgischen Autors Maurice Maeterlinck, das später auch Debussy, Schönberg und Sibelius zu ähnlichen Kompositionen anregte, verarbeitete, begab er sich in eine geheimnisvoll-düstere Traumwelt. Von den sieben Musikstücken und vielen kleinen Orchestereinwürfen der Bühnenmusik übernahm er vier Stücke in die Suite, die bis heute in den Konzertsälen beliebt sind, allen voran die „Sicilienne.

Offensichtlich glücklich, wieder mit und für Publikum musizieren zu können, spielten die Musiker unter der Leitung des Ersten Gastdirigenten der Kapelle, Myung-Whun Chung, mit großer Hingabe, Exaktheit und Leidenschaft, nicht nur die eingängige „Sicilienne – die in besonderem Maße -, sondern die gesamte Suite, so klar, so durchsichtig und klangschön, dass die halb reale, halb traumhafte Welt des zugrundeliegenden Dramas, das auch von Debussys Oper „Péleas & Melisande“ bekannt ist, unwillkürlich in der Fantasie entstand.

Bei dieser meisterhaften Wiedergabe wurde die ganze Emotionalität dieses Meisterwerkes deutlich. Von den ersten, mit äußerster Feinheit zelebrierten Tönen des „Prélude“, über die lebhafte „Fileuse“, die bekannte „Siciliennemit ihrer eigenwilligen, von Harfenklängen unterstrichenen, Melodik bis zum düsteren „Mort de Mélisande“ wurde in dynamischer Steigerung eine einzigartige Spannung aufgebaut, die Charakter und Stimmung der Handlung in besonderer Weise traf. So fein zelebriert, wie das Stück begonnen hatte, ließ es Myung-Whun Chung auch ausklingen. Bei dieser äußerst transparenten, klangschönen Wiedergabe wurde die große Emotionalität des Stückes mit all ihren Details und sensiblen Feinheiten ausgelotet, wie es nur sehr selten zu erleben ist – eine exzellente Wiedergabe..

Fast zeitgleich wie sich Fauré in die Traumwelt von „Pelléas et Mélisande“ vertiefte, brach Dvořák in eine ganz andere, reale, die „Neue Welt“ auf, wo er seine berühmte „Neunte“ schuf. Seinem Auftrag gemäß, eine neue nationale amerikanische Musikkultur zu entwickeln, beschäftigte er sich mit indianischer Musik und Negro-Spirituals, blieb im Grunde seines Herzens aber seiner böhmischen Heimat und ihrer Musik eng verbunden, was sich in der Symphonie vielfach wiederspiegelt. So ist es wahrscheinlich auch die Vielseitigkeit und die ineinander verwobenen Themen, die den besonderen Reiz dieser Symphonie ausmachen.

Unter den vielen Möglichkeiten, die Symphonie zu interpretieren wählte Chung eine mitreißende, emotional aufgeladene, bei der weniger die gemütvolle tschechische (böhmische) Seite im Vordergrund stand, sondern eine sensationelle. Er ließ zunächst die langsame, wehmütige Einleitung sehr fein und sensibel beginnen, der in schönstem Unisono bezaubernde Streicherklänge folgten, was dann mit zunehmender Vehemenz mit sauberen Hörnern, sehr schönen Holzbläsern und inniger Flöte mit dem gesamten Orchester, begleitet von sehr harten Paukenschlägen ins Grandiose gesteigert wurde und am Schluss des Satzes mit Urgewalt donnernd endete.

Im zweiten Satz, von Dvořák als ‚Legende‘ bezeichnet und von einer Szene aus dem National-Poem „Hiawatha“ des amerikanischen Dichters Longfellow angeregt, das er durch die Übersetzung seines Landsmannes J. V. Sladek kennengelernt hatte, kamen die besonderen Qualitäten der Kapelle im leidenschaftlichen Trauermarsch, der Totenklage des Helden für seine verstorbene treue Gefährtin, mit sauberen Bläsern, schmerzlich-melancholisch singendem Englischhorn und Vogelgesang imitierender Flöte zum Tragen und ließen den Satz in erhabener Ruhe ausklingen.

Der dritte Satz, das Scherzo, begann rhythmisch punktiert, den Festtanz der Indianer zur Hochzeit Hiawathas vorbereitend, brachte aber dann, nicht zuletzt mit einer typisch tschechischen, sprunghaften Walzermelodie und sauberen Hörnern die Sehnsucht nach der böhmischen Heimat zum Ausdruck. Der vierte und letzte Satz, der mit vollem Orchester, von Dynamik erfüllt, mit fast schrillen Bläsern marschartig energisch, fast pathetisch von der „Neuen Welt“ kündet und mit Klarinetten dagegen die Sehnsucht nach Dvořáks Vaterland ausdrückt, wurde zu einem mitreißenden triumphalen Höhepunkt geführt und klang leise und verhalten aus.

Als große Überraschung begann die Kapelle schon ohne Dirigent als Zugabe mi dem hinreißend gespielten „Ungarischen Tanz Nr. 5“ von Johannes Brahms, schon oft gehört, aber noch nie mit solcher Präzision und gleichzeitig überschäumendem Temperament. Da konnte sich auch Chung nur noch von den „Klangwogen“ mitreißen lassen.

Ingrid Gerk

 

STUTTGART/ Ballett: „NEW / WORKS“ (Premiere) – allgemeine Freude siegt auch über Schwächen

$
0
0

Stuttgarter Ballett: „NEW / WORKS“ 19.6.2021 (Premiere) – allgemeine Freude siegt auch über Schwächen

Was auch immer in choreographischer Hinsicht von diesem Uraufführungsabend vom Einzelnen erwartet wurde – die allgemeine Freude über das Wiedererwachen von Live-Darbietungen vor Publikum nach fast 8monatigem Corona-Verbot herrschte dies- und jenseits der Bühne über alle eventuellen kritischen Einwände zu den Präsentationen hinweg. Alleine die strahlenden Gesichter der TänzerInnen beim anhaltenden und mit rhythmischem Klatschen verstärkten Applaus zu sehen, machte bewusst, wie sehr ihnen diese unmittelbare Energie-Rückgabe durch das Publikum so lange gefehlt hat und sorgte in dieser Emotionalität auch für einen Ausgleich zu den teilweise eher intellektuell geprägten Neuschöpfungen.

Gleich drei Stücke zuzüglich einer Stuttgarter Erstaufführung kamen an diesem Abend unter der schlichten Bezeichnung „Neue/Werke“ zu der für eine klassische Companie in 60 Jahren rekordverdächtigen Zahl von gut 400 Uraufführungen hinzu. Damit kam wenigstens noch eines der für das Jubiläumsjahr des Stuttgarter Balletts geplanten Projekte zur Verwirklichung; in Bezug auf das unter normalen Umständen vorgesehene Programm an Feierlichkeiten sicher nur ein kleiner Trost, aber das Glück, Kunst überhaupt wieder direkt erleben zu können, obsiegte in der allgemeinen Erleichterung. Die Klammer dieser vier neuen Choreographien bilden Tanzschrittmacher, die der Companie seit langem als ständige Gäste oder in häuslich verpflichteter Form verbunden sind.

nachtmerrie 2 brown,erikson
Phantastischer Nachwuchs in phantastischem Stück: Mackenzie Brown und Henrik Erikson in „Nachtmerrie“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Mit Begeisterung wurden sie alle zusammen mit den TänzerInnen bedacht, und dennoch war nicht zu überhören, dass es zwei Favoriten waren, die besondere Funken überspringen ließen. Das betrifft zunächst einmal den nach ungeschickter Entlassung als Hauschoreograph im Frieden zurück gekehrten Marco Goecke, der seinen unverkennbaren nervösen Stil nach einer zwischenzeitlichen Phase des Repetierens zu einer erweiterten Form entwickelt hat, bei der vermehrt auch der ganze Körper zum Einsatz kommt. Jedenfalls hat er seit seinem international erfolgreichen Solo „Äffi“ kein so effektives und komprimiertes Stück geschaffen wie jetzt „NACHTMERRIE“ (zu deutsch „Alptraum“). Ein Pas de deux, in dem ein Paar nächtliche Träume in Erinnerung ruft, die durchaus auch etwas Positives in sich tragen und nur im Moment des Aufwachens für Irritation sorgen. In unglaublich sprechenden, irrsinnig schnell aneinander geketteten Gesten, konzentriert auf Arme und Hände, aber unterstützt vom ganzen Oberkörper, bringt Goecke Vielsagendes präzise zum Ausdruck. Die beiden ideal ausgewählten Interpreten Mackenzie Brown und Henrik Erikson (beide mit deutlich sichtbarem Potential an Persönlichkeit und Technik für künftige solistische Führungs-Positionen) setzen den nervösen Charakter so selbstverständlich zielgerichtet und exakt um, dass es schwerfällt ihnen auf ihrer (Alb-)Traum-Exkursion nicht zu folgen. Ein mehrfach entzündetes Streichholz setzt ebenso einen Akzent wie der durch eine weiße bewegliche Wolke erhellte dunkle Bühnenraum. Die ausgewählte Klaviermusik von Keith Jarrett sowie die angepappte Bad Romance von Lady Gaga geben dem Ganzen einen recht griffigen musikalischen Ausgangspunkt.

blake works i 4 da silva,su,brown
Trio mit Pfiff: Adhonay Soares Da Silva, Agnes Su und Mackenzie Brown in „Blake Works“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Mit William Forsythe, vertreten durch seine einstudierenden Ballettmeisterinnen Stefanie Arndt und Ayman Harper, kehrte der für die Erneuerung des klassischen Balletts Geschichte geschrieben habende einstige Tänzer zurück, den John Cranko noch kurz vor seinem Tod engagiert hatte, und dessen Werke seit seinem choreographischen Erstling „Urlicht“ 1976 bei den von der Noverre-Gesellschaft präsentierten Jungen Choreographen immer wieder Eingang ins Stuttgarter Repertoire gefunden hat. „BLAKE WORKS I“, 2016 für das Pariser Nationalballett geschaffen, sind eine Hommage an den englischen Songwriter James Blake. Dessen aus Jazz- und Blues-Elementen zusammengesetzter Stil boten eine ideale Basis, um zu den von ihm einst so virtuos in seine Einzelteile zerlegten akademischen Ballett zurück zu kehren und das saloppe aus der Form Kippen mit Lässigkeit und Ironie zu konterkarieren, aber auch so raffiniert wie eh und je zu vereinen. In sieben Liedern werden da vom Pas de deux bis zur 20köpfigen Gruppe unterschiedliche Kombinationen angewandt, um neben reiner Ensemble-Dynamik auch solistisch Intimeres zur Geltung kommen zu lassen. In blauen kurzen Tutu-Kleidchen und gleichsam ergänzendem Look für die Männer erinnert dies immer wieder an die kristalline Optik eines George Balanchine. Die Vereinigung von Spitzentanz und sonstigen traditionellen Formen mit dem auch musikalisch ins Coole geschwenkten Lebensgefühl junger Menschen ist von A-Z ein anspruchsvolles Vergnügen und von den schlicht und einfach gesagt Stuttgartern umwerfend gut umgesetzt. Als besonders pfiffig sei hier ein Trio mit Mackenzie Brown, Agnes Su und Adhonay Soares Da Silva hervorgegriffen. Und dass Henrik Erikson auch hier beste Figur inmitten seiner KollegInnen macht, soll bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt bleiben.

source 4 aleman,vogel
Rocio Aleman und Friedemann Vogel in „The Source. Copyright: Stuttgarter Ballett

Edward Clug ist dem Stuttgarter Publikum durch seine aus kleinteiligen Bewegungen flink und phantasiereich zusammen gesetzten und sich fließend ergänzenden Choreographien seit gut 10 Jahren bekannt und international inzwischen einer der gefragtesten Tanzschöpfer, die auch die große Form, das Handlungsballett, nicht scheuen. „THE SOURCE“ könnte eine Anspielung auf Cranko als Ausgangspunkt einer sprudelnden Nachfolge von Choreographen sein, die in Stuttgart ihren Ausgangspunkt hatten oder dort beste Bedingungen für Neues hatten, was ihnen andernorts nicht möglich war oder gar verwehrt wurde. Auf der Bühne ist diese Quelle durch einen weißen Schnürlvorhang markiert, der sich dreht und das Fließen von Wasser suggeriert, aber auch die Tänzer anfangs (etwas zu lange ausgedehnt) nur in Schemen dazwischen sichtbar macht, ehe sie ganz hervor treten und in wechselnden Kombinationen begonnene Bewegungsmuster weiterreichen, verdichten, wieder neu beginnen und auf andere Art zusammen setzen. Animiert von der sich nach anfänglichem Dämmern immer mehr rhythmisch pochend und stoßend steigernden Auftragskomposition von Milko Lazar (Streicher + 2 Klaviere) bekommt das Ganze einen zunehmenden Fluss mit offenem Ende. Zu den in weiße Short- und Top-Kombis über dunklen Hosen und Langärmeln gekleideten 8 zu Paaren kombinierten Mitwirkenden gehört auch Friedemann Vogel, der hier in allem was er tut, gute Figur macht, für Rocio Aleman zum hilfreichen Partner wird, aber sich auch ganz bescheiden in die Gruppe reiht. Miriam Kacerova und Roman Novitzky, Vittoria Girelli und Fabio Adorisio, Jessica Fyfe und Timoor Afshar sowie Mizuki Amemiya und Adhonay Soares Da Silva lassen allesamt spüren wie inspirierend Clug auf sie wirkt, auch wenn dieses Werk nicht ganz die Spannung einiger seiner anderen hier kreierten Stücke aufweist. Mikhail Agrest leitete die MusikerInnen des Staatsorchesters Stuttgart (auch mit begeistertem Applaus empfangen und bedankt) mit Animo durch diese Quelle.

cassiopeia's garden 4 su,fröhlich
Mit Profil: Agnes Su und Clemens Fröhlich in „Cassiopeia’s Garden“. Copyright: Stuttgarter Ballett

Begonnen hatte dieser Novitäten-Abend mit dem ehemaligen Hauschoreographen Christian Spuck, der nun erstmals seit seinem Weggang nach Zürich wieder für eine Choreographie zurück kehrte und wenige Tage vor dieser Premiere zum Ballettdirektor in Berlin ab der Saison 2023/24 bestellt wurde. Der Titel „CASSIOPEIA’S GARDEN“ weckt zunächst einmal Gedanken an eine unliebsame Geschichte in der Antike, aber auch einen Himmelskörper in Verbindung mit einer Supernova, die wesentlich verändernde Spuren zurück liess – vielleicht auch eine Art von Assoziation zur aktuellen Pandemie? Vor dem Prospekt eines in Schwarz und Weißtönen gehaltenen Waldes (Rufus Didwiszus), der auch schon bessere Tage gesehen hat, agieren 3 Tänzerinnen und 6 Tänzer in beliebig verschieden farbigen Hosen und Sweatshirts (Emma Ryott) wie in einem Labor entstehender Reaktionen und erforschender Neuorientierung. Mit dabei sind auch die von Spuck schon hinlänglich bekannten zunächst seitlich umgelegten Tische, an denen sich die Tänzer abrollen, abstoßen, ehe sie sie als Podium für allerlei Kletterfiguren und Abwürfe nutzen. An dem wohl dynamischen, sportlich eleganten Bewegungs-Fluss mit vom Partner in eine bestimmte Position oder Richtung geführten Beinen und Armen, immer wieder durch Verharren oder abrupte Kehrtwendung gebrochen, hat sich nichts verändert, aber leider auch nicht wesentlich weiter entwickelt. Und das ist schade, wo Spuck schon mehrfach gezeigt hat, wie gut er auch aus der Musik heraus gestalten und schildern kann. Seine Vorliebe für Collagen kommt gerade auch hier zum Tragen, stehen doch neben harmonisch elegischen Bach-Kompositionen für Katastrophe und Chaos stehende sirrend flirrende oder einem Einsturz gleichende elektronische Explosionen. Und die erzählen hier fast mehr als die sich in Wiederholungen ergehende und dadurch etwas ermattende Choreographie. Somit ein etwas enttäuschender Beitrag, den Elisa Badenes, Rocio Aleman und Agnes Su sowie Marti Fernandez Paixa, Matteo Miccini, Alessandro Giaquinto, Shaked Heller, Louis Stiens (auch mit einigen unverständlich bleibenden gesprochenen Worten) und der einem abschließenden Pas de deux mit Agnes Su recht gutes persönliches Profil verleihende Clemens Fröhlich dennoch mit ihrer Lust am Tanzen soweit füllen und dadurch auch einige choreographische Durchhänger auffangen.

Nun bedarf es nur noch eines wieder vermehrt strömenden Publikums, denn die im Rahmen eines Modellprojekts erlaubte Belegung von 50 % der Plätze war nicht nur bei dieser Premiere sichtbar nicht ganz ausgefüllt, auch für alle nachfolgenden Vorstellungen gibt es noch Karten, die vor Corona bestimmt nicht mehr zu haben gewesen wären. Aber wie schon eingangs gesagt: die Freude der Wiederbegegnung von Künstlern und Zuschauern überwiegt jetzt erst einmal alles…..

  Udo Klebes

 

 


WIEN / Kammerspiele: THE PARISIAN WOMAN

$
0
0

parisian woman f4c7586275 nühnenbild~1
Fotos: Theater in der Josefstadt

WIEN / Kammerspiele der Josefstadt:
THE PARISIAN WOMAN von Beau Willimon
Deutschsprachige Erstaufführung
Besucht wurde die erste Voraufführung am 21. Juni 2021

Mit „House of Cards“ kann man immer werben. Sex and Crime in Politics, das war eine brisant-giftige Mischung für die Bezahl-Sender. Wenn nun ein Autor, der unter den Ideenträgern dieser Serie fungiert, ein Theaterstück „zum Thema“ schreibt, sollte nichts schiefgehen. Kann aber doch. Und ist passiert.

Die Josefstadt spielt „The Parisian Woman“ (warum der englische Titel? Ein bisschen affektiert) von Beau Willimon als Deutschsprachige Erstaufführung in den Kammerspielen. Das Stück hat nach der Uraufführung 2013 keine sonderliche Karriere gemacht, selbst die Besetzung mit Filmstar Uma Thurman hielt es 2017 weniger als ein halbes Jahr am Broadway. Und das hat gute Gründe.

Denn wenn da in Washington politische Intrigen gesponnen werden, zieht sich das die längste Zeit wie Strudelteig und bietet nur langweiliges Geschwafel. Bei einer Spieldauer von eineinhalb Stunden braucht es mehr als eine Stunde, bis im „dramatischen“ Sinn etwas „passiert“. Die Pointe ist lau, aber man will sie nicht verraten. Dass zu manipulativem Sex auch noch Erpressung dazu kommt, um jemandem ein Amt zu verschaffen, wen wundert’s?

Es fängt scheinbar so unbeschwert boulevardesk an (das alles spielt in einem ebenso eleganten wie praktischen Bühnenbild von Walter Vogelweider, das durch eine Schiebetür in der Mitte geteilt wird und folglich schnell verwandelt werden kann). Man ist bei den Reichen und Schönen, und wenn ein Mann einer attraktiven Frau eine Eifersuchtsszene macht, denkt man an Ehekalamitäten – aber nein, Pointe, da kommt ihr Mann, es ist der Liebhaber, der so lästig ist.

Sie alle leben rund um das Zentrum der Macht, im Mittelpunkt steht Chloe, die einstige „Pariserin“, die in der Jugend dort das Leben genoß, bevor sie zur Gattin eines reichen Mannes und Society-Pflanze wurde. Sie will ihren Teil dazu beitragen, ihren Ehemann (einen hoch bezahlten Steueranwalt) in die Position des Obersten Richters zu hieven, und Liebhaber Peter, ein Berater des Präsidenten, soll dabei helfen. Gleichzeitig – Frauenpower, Gemauschel unter sich – die Dame, die ebenso in Präsidentennähe agiert.

Dieser Präsident ist, es wird auch ausgesprochen, Donald Trump und ein mieser Kerl, für den man eigentlich nicht arbeiten sollte, aber wer lässt sich schon einen Polit-Job entgehen? Und wer tut nicht alles, alles, alles, um ihn zu bekommen?

Und – ist es nicht überall so? Folglich wird man das Gefühl nicht los, das Stück steht auch auf den Spielplan, weil es wieder einmal die Gelegenheit gibt, dem höchsten Mann im Staate entgegen zu schreien, er solle die Politik sauber halten und sich anständig verhalten. Dann ist, wie bei solchen Predigten in der Föttinger-Josefstadt immer, wieder einmal die gegenwärtige Regierung gemeint, denn es ist ja so tapfer, gegen diese los zu gehen, wenn man absolut nichts zu befürchten hat. In anderen Ländern, nicht allzu fern, käme da möglicherweise die Polizei und löste die Vorstellung auf… „Wenn ich der Bei von Tunis wäre,. Schlüg ich bei so zweideut’gem Vorfall, Lärm“, heißt es schon bei Kleist.

csm 04 the parisian woman die zwei~ xxx

Regisseur Michael Gampe bekam die Luxusbesetzung, die „die kenn ich aus dem Fernsehen“ Maria Köstlinger („Gerade hat sie im ‚Tatort’ genau so eine Hexe gespielt!“) und den Chef des Hauses persönlich. Die Köstlinger muss alle Register der hintergründigen, rücksichtslosen Intrigantin ziehen, die verlogen auf der Gefühlsskala spielt. So etwas nennt man eine Bombenrolle, eigentlich ist es nur das Bedienen des Klischees. Gar zu viel hat Herbert Föttinger als ihr ehrgeiziger Gatte Tom nicht zu tun, wenn er plötzlich einen moralischen Koller bekommt, kann man ihm das glauben oder nicht. Eine seltsame Figur ist der masochistische Liebhaber Peter, den Michael Dangl versucht, unter statuarischer Haltung möglichst schillernd zu machen. Als junge Karrierefrau mit dem möglicherweise echtestem Gefühl geht Katharina Klar burschikos über die Bühne, und Susa Meyer liefert die wohl beste Leistung: Sie hat sich die typischen Washington-Politikerinnen gut angeschaut, man kann sich vorstellen, dass sie genau so elegant intrigieren, so vorsichtig bröckchenweise Information fallen lassen – und vielleicht auch mal die Nerven verlieren, wenn’s ans Eingemachte geht.

Dennoch, spannend ist das Ganze, so kurz es ist, keinen Moment, oft tut man sich schwer, bei dem endlosen Herumgelabere bei der Stange zu bleiben. Polit-Boulevard mit Pfeffer und Galle? Schön wär’s,

Renate Wagner

Bachfest Leipzig 2021 – ein weltweites Fest voller Emotionen

$
0
0

bachfest leipzig 2021, gotthold schwarz dirigiert den thomanerchor in der thomaskirche, credits bachfest leipzig gert mothes
Gotthold Schwarz dirigiert die Thomaner. Credits: Bachfest-Leipzig Gert Mothes.

Bachfest Leipzig 2021 – ein weltweites Fest voller Emotionen, 22.06.2021

Die Vorfreude war groß, waren doch nach der Corona bedingten Absage des Bachfestes 2020 alle Vorbereitungen darauf gerichtet, das Bachfest Leipzig 2021 besonders intensiv zu feiern – mit mehr als 100 Veranstaltungen und einem Messias-Zyklus unter dem Motto „Erlösung“ als Hauptereignis.    

Die dritte Corona-Welle machte jedoch diese Planungen zunichte. Schweren Herzens und so spät wie möglich wurde auch dieses Bachfest abgesagt, stattdessen aber ein reduzierter, Stream tauglicher Ersatz präsentiert: „Bachs Messias“ in 12 Konzerten vom 11.-15. Juni live aufzuführen und direkt weltweit zu streamen. Ein ungewöhnlich umfangreiches Unterfangen.

bachfest 21, gerlinde sämann, tobias berndt, messias 2, credits bachfest leipzig gert mothes
Gerlinde Saemann, Tobias Berndt. Messias 2. Credits: Bachfest-Leipzig Gert Mothes.

Chöre, Dirigenten, Instrumentalisten sowie Solisten und Solistinnen reisten  mutig an, um das Leben des „Jesus von Nazareth“ in Leipzigs Thomas- und Nikolaikirche, im dortigen Gewandhaus sowie in Kobe in Japan mit Bachs Hilfe darzulegen.

Schon zur Eröffnung des Bachfestes am 11. Juni zeigten Leipzigs langjähriger Oberbürgermeister Burghard Jung und Bachfest-Intendant Prof. Michael Maul verblüffend fröhliche Gesichter. Nicht die Absage all’ der lange geplanten Veranstaltungen war das Thema, sondern der neue gerettete Messias-Ring.

Für ein weiteres Aufatmen sorgten die unerwartet gesunkenen Corona-Zahlen.  Lockerungen wurden möglich und machten Leipzig wieder lebendig. Vier Tage vor dem Bachfest-Beginn durfte der Ticketverkauf starten. Eine begrenzte Zahl von „maskierten“ Besucherinnen und Besuchern konnte die Konzerte live erleben. Einige Bachfans reisen sogar geschwind aus dem Ausland an.

Es wurde ein außergewöhnliches Bachfest voller Emotionen. Das Minenspiel der Mitwirkenden und ihr Körpereinsatz zeigten das deutlich. Mit noch mehr Engagement als in „normalen“ Jahren wurde 2021 musiziert und gesungen, so der beim Streamen gewonnene Eindruck in vier Konzerten mit unterschiedlichen Dirigenten.

bachfest 21, ton koopman dirigiert messias 1 in der nikolaikirche, credits bachfest leipzig gert mothes
Ton Koopman dirigiert Messias 1 in der Nikolaikirche: Credits: Bachfest-Leipzig Gert Mothes.

Beim Eröffnungskonzert mit Messias 1, genannt Verheißung, in der Nikolaikirche ist Ton Koopman beim Dirigieren seines Amsterdam Baroque Orchestra förmlich explodiert. Chronologisch korrekt war nun Advent im Sommer, angefüllt mit den frühen, kraftvollen Bach-Kantaten, so auch der BWV 1 „Wie schön leuchtet der Morgenstern“.

Die sehr bekannte Kantate „Nun komm, der Heiden Heiland“ durfte auch nicht fehlen, und Klaus Mertens (Bass) ebenfalls nicht. Ein Sonderbob gebührt dem Tenor Tilmann Lichdi. Stimme und Ausdruck sowie der intensive Kontakt mit den Zuhörern – das schaffen so überzeugend nicht alle Sänger. Einige Experten nennen ihn den besten aller Evangelisten.

bachfest 2021,gotthold schwarz dirigiert messias 2, credits bachfest leipzig gert mothes
Gotthold Schwarz dirigiert Messias 2. Credits: Bachfest-Leipzig Gert Mothes.

bachfest leipzig, altistin elvira bill, messias 2, foto ursula wiegand
Messias 2, Altistin-Elvira Bill. Foto: Ursula Wiegand

Messias 2 namens Geburt am 12. Juni hat Thomaskantor Gotthold Schwarz beeindruckend dirigiert, d.h. das Weihnachtsoratorium bei Sommerhitze. Eine Solistenschar der Sonderklasse war zur Stelle, so die blinde Sopranistin Gerlinde Sämann, die ausdrucksstarke Altistin Elvira Bill, der klangreiche Bariton Tobias Berndt und der Tenor Martin Petzold, um nur einige zu nennen. Fürs Volumen sorgten die Akademie für Alte Musik, Berlin, und der in der Kirche verteilte Thomanerchor. Tapfer überwanden die Jungs die ziemlich großen Abstände voneinander.

bachfest 2021, bach collegium japan mit masaaki suzuki, messias 4, © bach collegium japan
Collegium Japan mit-Masaaki Suzuki. Messias 4. Credits: Bachfest-Leipzig Gert Mothes.

Messias 4 mit der Bergpredigt und Jesu ersten Wundern gestalte tadellos wie üblich Masaaki Suzuki mit seinem Bach Collegium Japan. Der Aufnahme-Ort, eine Universitätskirche in Kobe, erwies sich aufgrund ihrer Architektur akustisch als besonders vorteilhaft.

Hans-Christoph Rademann, Leiter der Gaechinger Cantorey, wurde am 14. Juni mit Messias 7 mein terminbedingt letztes Highlight. Auch dort waren die Emotionen greifbar, vor allem beim isländische Tenor Benedikt Kristjánsson. Der ist unvergessen, hatte er doch am Karfreitag 2020 in einer quasi aus dem Boden gestampften Johannespassion den Christus und weitere Rollen in der Thomaskirche gesungen. Seitdem gilt er als einer der besten Bachsänger.

kristjansson benedikt 2021 2
Benedikt Kristjánsson. Copyright: Antle Taiga

Begeistert trampelte hinterher das Publikum, und Rademann lässt ihn die Tenor-Arie aus der Kantate BWV 103 wiederholen. Noch stärker strahlt nun Kristjánssons Stimme und trägt das im Text geäußerte Gottvertrauen erneut in die Thomaskirche. „Das brauchen wir alle“, sagt Rademann.

Und fast alle Musikfans brauchen Johann Sebastian Bach und das Bachfest Leipzig. Aus diesem Grund sind auch Václav Luks, Wolfgang Katschner und Justin Doyle mit ihren Ensembles nach Leipzig gekommen. Gestreamt wurden 33 Kantaten, drei Oratorien und die Matthäus-Passion. Menschen aus mehr als 30 Ländern, darunter aus Afghanistan, Brasilien, Kanada, Kolumbien, Indonesien, Japan und Südafrika sind auf diese Weise dabei gewesen. Streaming-Favorit wurde Gotthold Schwarz. Das Schlusskonzert am 15. Juni war leider sein letzter Auftritt als Thomaskantor im Rahmen des Bachfests Leipzig. Über viele positive Reaktionen konnte sich auch Intendant Michael Maul freuen. Das Bachfest 2021 sei für Bachianer weltweit wirklich eine Erlösung gewesen, so sein Statement.

Auf ein sorgenfreies Bachfest 2022 vom 09. – 19. Juni hoffen nun alle. Es trägt den Titel „BACH – We Are Family“, und wurde Corona bedingt von 2020 sogleich auf 2022 vertagt. Über 40 Bach-Chöre und Bach-Vereinigen aus sechs Kontinenten sowie namhafte Interpretinnen und Interpreten aus aller Welt werden erwartet.     

 Ursula Wiegand

FILM: Freaky

$
0
0

freaky 2020 movie poster~1

FILM: Freaky
Filmstart: 24. Juni 2021
USA / 2020
Drehbuch und Regie: Christopher B. Landon
Mit; Kathryn Newton:, Vince Vaughn: u.a.

Sicher, am Anfang wird nach allen Regeln der Kino-Slasher-Kunst gemordet und gekreischt. So, wie man es ja auch von „Halloween“ her kennt, wo man sich so schön fürchten und trotzdem lachen kann. Regisseur Christopher B. Landon, der auch am Drehbuch beteiligt ist und schon einige Horror-Erfahrung hat, hat die Teenie-Highschool-Welt nicht nur mit dem üblichen Serienkiller verquickt, sondern mit einem anderen alten Motiv des Kinos: Body-Switch, zwei Auserwählte landen jeweils im Körper des anderen.

Das spielte sich meist zwischen Alt und Jung ab (man wundert sich entsprechend, wie es war, jung zu sein – und, ach, so ist es, erwachsen zu sein?), meist dasselbe Geschlecht, manchmal Cop und Killer – aber ein 17jähriges Highschool-Girl und fieser Killer?

Was sich da an Komik ergibt, wird geerntet. Da ist Millie Kessler (Kathryn Newton), die mit ihrer armen Mutter, die sich gar nicht genügend demütig vor den Töchtern ducken kann) unfreundlich umgeht und bei ihrer Schwester (die ist ein Cop!) zur Kopfschütteln hervorruft. Sie geht in die Blissfield Valley Highschool, denn Filme dieser Art spielen gern in Kleinstädten. Und die haben – diesmal mit dem „Blissfield Butcher“ – ebenso gern auch ihren eigenen Serienkiller: Wenn er die Kopfmaske vom Gesicht nimmt, erkennt man unschwer Vince Vaughn.

Nicht fragen, wie es „magisch“ dazu kommt, dass die beiden (als der Butcher sich Millie als Opfer ausersieht) jeweils in den Körper des anderen schlüpfen, da steckt irgendein uralter Fluch und ein bestimmter Dolch dahinter, aber für die Zuschauer heißt es umdenken: Wenn wir Millie sehen, steckt der Killer in ihr und die hübsche Blonde verwandelt sich sozusagen zähneknirschend in den Mörder. Leichter ist es, in dem plötzlich so verschreckten Butcher nun den Teenager zu sehen, der sich gewaltig fürchtet und nicht weiß, was sie tun soll… Und vor allem muss sie ihre Freunde überzeugen, dass sie es ist, die in der Haut des fremden Mannes steckt. Nicht ganz einfach.

Der „Butcher“ hingegen nimmt in Millies Gestalt immer brutalere Züge an (eine bemerkenswerte schauspielerische Leistung der jungen Darstellerin) und merkt, dass er als „Millie“ gänzlich unverdächtigt morden kann. Die echte Mille (im Butcher-Körper) muss allerdings „sich selbst“ erstechen, sonst bekommt sie ihr altes Ich nicht mehr zurück… Das alles dreht sich immer wilder und ohne größeren Anspruch, und eine Pointe jagt die andere, wenn man meint, jetzt müsste es doch bald zu Ende ein, aber es kommt immer noch was. Bis zum Killing-Finale.

Sei’s so dumm, wie es will, es funktioniert. Auch die „Generation Bierdose“, wie man sie plötzlich nennt, also die fortgeschrittenen Teenager, haben ein Recht auf ihre Horror / Blödel-Klamotten, zumal, wenn sie ganz witzig ausgefallen sind so wie hier.

Renate Wagner

Film: KINGS OF HOLLYWOOD

$
0
0

kings pakat~1

Filmstart: 25. Juni 2021  
KINGS OF HOLLYWOOD
USA / 2020
Drehbuch und Regie: George Gallo
Mit Robert De Niro, Tommy Lee Jones, Morgan Freeman, Zach Braff u.a.

Das ist ein Film für Oldies, für Kinobesucher, deren Augen zu leuchten beginnen, wenn sie die Namen Morgan Freeman oder Tommy Lee Jones lesen – und gar: Robert De Niro! Mit denen man jung war (der harte, knochige De Niro als „Taxi Driver“, das war Gänsehaut!) und mit denen man nun alt ist. sie durch ihre großen Filme und Rollen begleitend. Und die man immer noch lieber auf der Leinwand sieht als manches austauschbare, leere junge Gesicht von heute… Also: der angeblich „deutsche“ Titel „Kings of Hollywood“ (im Original heißt der Film „The Comeback Trail“ und ist das kostbar besetzte Remake eines einst unbedeutenden Streifens) trifft es in diesem Fall vollinhaltlich.

Vor allem, wenn er ironisch auf das verweist, was Hollywood so gut kann, nämlich, sich über sich selbst lustig zu machen. Das ist nicht neu, aber im Glücksfall ein Heidenspaß. Wie in diesem Film von George Gallo, der auch am Drehbuch mitschrieb. Subtil geht es da nicht zu, im Gegenteil, alles ist bewusst überdreht (obwohl man Satire ja scheinbar auch ganz „ernsthaft“ abliefern könnte), aber die Deftigkeit von Action und Darstellung hat eindeutig einen Stil für sich. Selbst wenn das manchmal „Schmiere“ ergibt – die ist doch auch ein Kunststück, wenn man sie gekonnt einsetzt.

kings de niro xxx

Und das können sie, die Oldies, wenn Hollywood in den siebziger Jahren beschworen wird. Da sitzt Max Barber Robert De Niro, weißhaarig, weißbärtig, sichtlich abgehalftert, aber mit unerschütterlichem Elan herum und hat Probleme. Finanzielle Probleme. Einst war er ein berühmter Produzent. Jetzt hat er Mist gemacht, den keiner sehen will, und hohe Schulden bei Leuten, mit denen nicht gut Kirschen essen ist (Morgan Freeman als Gangsterboß, ein Genuß). Aber er und sein Neffe Walter (vergleichsweise ein Youngster: Zach Braff) geben nicht auf. Als sie hören, was Versicherungen bei Unfällen zahlen, wird der Plan geboren: Man drehe eine Western und jage den Hauptdarsteller in lebensgefährliche Situationen, um nach dessen zu erwartenden Tod zu kassieren…

Köstlich, wie sie den alten „Duke Montana“ (so heißt ein Westernheld im Kino und Tommy Lee Jones gibt ihm wunderbare Dümmlichkeit und Lebensmüdigkeit) auftreiben und zu dem Projekt überreden. Eine strohdumme Blondine (gut, ja, man weiß es, es ist politisch unkorrekt, sich darüber lustig zu machen, aber es ist – ja, lustig) muss auch dabei sein – Kate Katzman geniert sich wirklich nicht, das auszuspielen.

Und dann geht es zu den Dreharbeiten, wo man alle Klischees über Dreharbeiten abfackeln (auch im vollsten Wortsinn) kann. Mein Gott, die Erschütterung, wenn der Hauptdarsteller tot ist! Um wie viel größer besagte Erschütterung, wenn er es nicht ist!

Dieser Film hat vor nichts Respekt. Und das macht ihn, ganz abgesehen von seinen vielen gekonnten Anspielungen auf Klassiker und seinen best gelaunten, selbst ironischen Hauptdarstellern so sehenswert. Hoffentlich nicht nur für die Oldies unter den Filmfreunden. Denn übersehen wir das Wesentlich nicht, bloß weil wir aus dem Lachen nicht herauskommen: Das ist eine Hymne auf ein Hollywood von einst.

Renate Wagner

WIEN/ Staatsoper: ELEKTRA

$
0
0

eleko
Ausrine Stundyte. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

WIEN/ Staatsoper: 22.6.2021:  ELEKTRA

Mit einiger Erleichterung nahm das Wiener Opernpublikum zu Beginn der ersten Spielzeit der neuen Direktion die Befreiung von der unsäglichen 50er Jahre Tanzstunde im Kohlenkeller und der Leichen-Parade im Pater Noster bzw. die Wiederbegegnung mit der Kupfer’schen Sicht auf die Atriden-Tragödie von Strauss/Hofmannsthal auf. Nun wird am Ende der selben, Corona-bedingt verkürzten Saison die Produktion noch einmal gezeigt, bevor (was es auch lange nicht mehr gab) das Werk im nächsten Jahr gänzlich vom Spielplan verschwindet.

Dabei war Aušriné Stundyté erstmals in Wien in der Titelpartie zu erleben, nachdem sie in dieser Rolle im Vorjahr an der Salzach debütiert hatte. Verglichen mit ihren Vorgängerinnen in der recht martialischen Auslegung (und Ausstattung) Kupfers – man denke etwa an Eva Marton oder Deborah Polaski – wirkt sie in Statur und Gehabe mädchenhafter, verletzlicher und verletzter, nicht so unbedingt in ihrem Rachedurst. Eine geschlagene Kreatur, die mehr Erbarmen weckt als Furcht verbreitet. Im Finale gelingt es ihr, das Spiel mit den Stricken, die von der monumentalen Statue ihres Vaters herabhängen, in packendster Weise auf die Musik auszurichten, wie es der Rezensent bis dato noch nicht erlebt hat, der sich mit dieser Version des „konvulsivischen Tanzes“ nie so ganz hatte anfreunden können. Ob die litauische Sopranistin allerdings auch stimmlich einmal in einem Atem mit den großen Interpretinnen der mörderischen Rolle genannt werden wird, dagegen würde er gewisse Zweifel anmelden. Denn eine Hochdramatische ist Stundyté nicht. Natürlich vermag sie ihr Material so einzuteilen, dass auch für das abschließende „schweigen und tanzen“ noch Substanz übrigbleibt. Doch bis dahin fehlt es, vor allem in der Mittellage, einfach an der Wucht des Ausbruchs, etwa in der Abrechnung mit der verhassten Mutter, wird zu oft Zuflucht in deklamatorischen Sprechgesang genommen. 

Dass die Sache so lag, kam im Zusammenklang (und Vergleich) mit ihren beiden „Geschwistern“ besonders deutlich zum Ausdruck, die beide einen überaus souveränen Eindruck hinterließen. Camilla Nylund, die mit der Chrysothemis zweifellos an ihre Grenzen geht, konnte sich im Vergleich zum September noch steigern und beeindruckte durch schier unbeschränkt strömende Höhen, klare Phrasierung und Wortdeutlichkeit. (Wie schön wäre es, sie in dieser Verfassung auch noch als Ägyptische Helena zu erleben.) Auch Derek Welton gestaltete den Orest beinahe liedhaft präzise und verbreitete mit samtigem Bariton gelassene Ruhe vor der schrecklichen Tat. Michaela Schuster gab ihr Debut als zerrüttete Mutter der drei Atriden-Kinder, entledigte sich ihrer Aufgabe aber eher solide mit den Mitteln, die ihr nach einer langen Karriere im dramatischen Fach zur Verfügung stehen, ohne das Abgründige dieser psychologisch so eindrücklich gezeichneten Figur wirklich auszuloten. Jörg Schneider war ein schönstimmiger, in Timbre und Auftreten weich(lich)er Ägisth, einer, von dem man sich denken kann, warum Elektra ihn verachtet, aber keiner, von dem Angst und Terror ausgehen.

elektra d5a0918 schneider
Jörg Schneider (Aeghist). Foto: Michael Pöhn

Wolfgang Bankl als Pfleger des Orest einzusetzen, zeugt von einem gewissen verschwenderischen Umgang der Direktion mit bewährten Kräften des Ensembles. Auch die Szenen der Mägde, die von der imposanten Monika Bohinec (1.) angeführt wurden, bewegten sich dank Szilvia Vörös (2.), Margareth Plummer (3.), Regine Hangler (4.) und Vera-Lotte Boecker (5.) auf hohem Niveau – wobei sich letztere Partie wieder einmal als ziemliche Herausforderung für eine eigentlich lyrische Stimme erwies. Bei Donna Ellen´s Aufseherin waren die langen Jahre des Dienstes am Hof nicht zu überhören. Unauffällig blieben Patrizia Nolz als Vertraute, Stephanie Maitland als Schleppträgerin, Robert Bartneck als junger und Dan Paul Dimutrescu als alter Diener. Den Chor des Hauses, der ja buchstäblich im Hintergrund agiert, hatte Martin Schebesta einstudiert.

Wie bereits im Herbst (und davor in Salzburg) lag die musikalische Gesamtverantwortung wieder bei Franz Welser-Möst, der mit energischem Zugriff einen beeindruckenden Farbenreichtum aus dem Orchester der Wiener Staatsoper herausholte. So gerieten die symphonisch dominierten, emotional aufpeitschenden Passagen wie der Auftritt der Klythämnestra oder auch der finale Jubel zu wahrhaftigen Höhepunkten des Abends. Die ganz leisen Töne, das Filigrane, das es (z.B. in der Schilderung von Klythämnestras Alpträumen) auch gibt, sind seine Sache nicht unbedingt. So ist er auch den Sängerinnen und Sängern – vor allem jenen, denen nicht per se über uneingeschränktes Volumen verfügen – ein fordernder Begleiter.

Valentino Hribernig-Körber

LUDWIGSBURG/ Schlossfestspiele/ Ordenssaal: ANNA PROHASKA KLAVIERTRIO. Expressiv und ausdrucksstark

$
0
0

Ludwigsburg/ Schlossfestspiele: Anna Prohaska Klaviertrio im Ordenssaal am 23. Juni 2021

Expressiv und ausdrucksstark

prowei
Anna Prohaska-Klaviertrio. Foto: Schlossfestspiele

Geheimnisvolle Zauberkraft beherrschte dieses ganz im Dunkeln beginnende Konzert, das dann allmählich ins Licht kam. Seltene Werke waren mit Anna Prohaska (Sopran), Veronika Eberle (Violine), Alisa Weilerstein (Violoncello) und Iddo Bar-Shai (Klavier) im nur spärlich besetzten Ordenssaal zu hören.

Dieses Schlossfestspiel-Debut begann mit dem expressiven und mit  weitgespannten Intervallen aufwartenden Stück „Dante“ aus den sechs Liedern auf Gedichte von Anna Achmatowa für Gesang und Violoncello von John Taverner. Die Melodiebögen besaßen hier etwas Elektrisierendes, Unmittelbares. Anna Prohaska und Alisa Weilerstein verbanden sich dabei zu einem eindringlichen harmonischen Kosmos. Anschließend erklang „Pohadka“ (Ein Märchen) für Violoncello und Klavier von Leos Janacek. Hier ergänzten sich Alisa Weilerstein und Iddo Bar-Shai in geradezu idealer Weise. Erzählt wird dabei von den Abenteuern des Prinzen Iwan, der um die Prinzessin Marja freit.  Die rhythmische Akzentuierung des Cellos wurde hier sehr facettenreich herausgearbeitet – und auch die Prinzessin wurde durch ein kantables Thema am Klavier dargestellt. Der kanonisch geführte Dialog führte zu einer erstaunlichen formalen Freiheit. Neue Kompositionstechniken triumphierten dann bei der ausdrucksvollen Wiedergabe der fünf Sätze aus den „Kafka-Fragmenten“ für Sopran und Violine op. 24 von György Kurtag, wo die Pizzicato-Passagen glitzernd hervorblitzten. Die „Szene am Bahnhof“, „Der Coitus als Bestrafung“, „Meine Festung Elendes Leben“ und „Szene in der Elektrischen“ zeigten trotzdem einen enormen Klangfarbenreichtum und harmonische Vielfalt. Bei den fünf Sätzen aus Leos Janaceks „Mährischer Volkspoesie in Liedern“ für Gesang und Klavier von Leos Janacek zeigte sich bei der Interpretation durch Anna Prohaska und Iddo Bar-Shai nicht nur der besondere Sprachrhythmus, sondern vor allem auch die fast schon impressionistische Harmonik sowie die rhapsodisch gestalteten Formen bei den Liedern „Ungewissheit“, „Sehnsucht“, „Treue“, „Strahlen vom Liebsten“ und „Die Musikanten“. Folkloristische Momente blitzten immer wieder in reizvoller Weise hervor. Sehr nuancenreich interpretierte das Ensemble zusammen mit Anna Prohaska außerdem „The Return to Ulster“ von Ludwig van Beethoven aus den 25 irischen Volksliedern für Gesang und Klaviertrio WoO 152 von Ludwig van Beethoven. Hier wurden vor allem die  thematischen Zusammenhänge in reizvoller Weise herausgearbeitet. Dynamische Steigerungen kamen effektvoll zur Wirkung. Ein weiterer Höhepunkt dieses bemerkenswerten Konzerts war dann die geradezu hymnisch-ekstatisch inspirierte Wiedergabe der Sonate für Violine und Klavier von Leos Janacek mit Veronika Eberle und Iddo Bar-Shai (Klavier). Anklänge an die Oper „Katja Kabanowa“ sind dabei nicht zu überhören und wurden von den beiden Interpreten auch eindringlich herausgearbeitet. Die klassische Sonatensatzform blitzte hier immer wieder hervor. Die kantable und rhapsodisch frei gestaltete Ballade des zweiten Satzes gewann dabei  einen immer größeren Ausdrucksradius. Folkloristische Themen überzeugten im Scherzo, während die hymnische Steigerung des Finales besonders positiv auffiel. Ganz hervorragend war dann der Abschluss mit den sieben Romanzen nach Gedichten von  Alexander Blok für Sopran und Klaviertrio op. 127 von Dmitri Schostakowitsch, wo vor allem die ungeheure Steigerung der Tremolo-Passagen beim „Sturm“ hervorstach. Aber auch sonst fesselte die Sopranistin Anna Prohaska hier mit geradezu stählerner Klarheit und Leuchtkraft. „Lied der Ophelia“, „Gamajun, der Prophetenvogel“, „Wir waren zusammen“, „Die Stadt schläft“, „Geheimnisvolles Zeichen“ sowie „Musik“ bewiesen einmal mehr die besonderen klanglichen Qualitäten dieses Ensembles, das sich bestens ergänzte.  Die von der Singstimme in weiten Intervallen geführte Melodik, die scharfe Harmonik und die abrupten Modulationen erfuhren eine herausragende Wiedergabe von  ausgezeichneter Wirkungskraft. Dies galt auch für die wunderbare Poesie des „Schottischen Volkslieds“ von Ludwig van Beethoven.

Alexander Walther

Film: ICH BIN DEIN MENSCH

$
0
0

ich bin dein mensch plakat

Filmstart: 25. Juni 2021
ICH BIN DEIN MENSCH
Deutschland / 2021
Drehbuch und Regie: Maria Schrader
Mit: Maren Eggert, Dan Stevens, Sandra Hüller, Wolfgang Hübsch u.a.

Das Erstaunlichste an diesem bemerkenswerten Film von Maria Schrader, der sein Thema jede Minute ernst nimmt, ist seine – Möglichkeit. Natürlich ist es noch „Sci Fi“, dass sich „humanoide Roboter“ (so menschengleich, dass sie nicht zu unterscheiden sind) unter uns bewegen. Aber niemand bezweifelt ernsthaft, dass dies eines Tages der Fall sein wird. Die Frage ist höchstens, wann. Und wenn man bedenkt, wie rasend schnell die Entwicklung von allem derzeit läuft… dann rückt das, was in dem Film noch als Experiment abgewandelt wird, wohl immer näher.

Das Ambiente der Geschichte ist echt und anheimelnd, Berlin, unter Wissenschaftlern, die im (wohl bekannten, „mitspielenden“) Pergamon-Museum arbeiten. Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Maria Schrader hat für ihre Hauptfigur Alma in Maren Eggert (Silberner Bär der diesjährigen Berlinale für die Beste darstellerische Leistung) einen wirklich „ganz normalen“ Typ gewählt, eine intelligente Frau ohne Kino-Glamour-Faktor, von der man überzeugt ist, dass sie kompetent an sumerischen Keilschriften arbeitet und weiß, dass man immer wieder Geld für diese Art von Arbeit braucht. Wenn sie sich an einem Experiment beteiligt…

Jeder würde vor der Idee zurück schrecken, drei Wochen lang mit einem menschengleichen Roboter zu leben, der in dieser Zeit „lernen“ soll, sich an die Bedürfnisse einer „Echt-Frau“ anzupassen. Alma hat die Scheu, ja, die Abneigung, sich da mit einer „intelligenten Maschine“ auseinander zu setzen. Aber sie tut es, weil es eben nicht anders geht…

ich bin dein mensch die zwei~1

Die Leistung, die Schauspieler Dan Stevens als Tom setzt, ist verblüffend. Auf den ersten Blick „echt“, bemerkt man bei genauem Hinsehen die äußere Glätte, scheint man zu spüren, wie die Bits im Kopf verarbeiten, was ihm entgegen kommt, er lernt auch, richtig auf Almas Distanz zu reagieren und sein Verhalten immer wieder anzupassen. Eine seht gut programmierte Maschine eben…

Das Seltsame an diesem Tom: Er ist auf „ideal“ gepolt. Wenn Alma ihn notgedrungen in ihren Alltag mitnimmt und dann auf der Straße vergisst, wird er ihr keine Vorwürfe machen, auch nicht, wenn er vom Regen total durchnässt ist, denn er spürt es ja nicht. Er empfindet auch keine Kränkung über Vernachlässigung. Man muss sich auch nicht um seine Bedürfnisse kümmern, denn eine Maschine hat keine. Aber er ist immer freundlich, liebenswürdig, geht auf sie ein. Er hat keine „emotionalen Menschen-Empfindungen“, die den Verkehr zwischen Echtmenschen so schwierig machen. Eigentlich ist dieser Tom der ideale Partner, und doch… kann es gut gehen? Es ist wunderbar, wie dieser Film von Maria Schrader diese Fragen in unzähligen humorvollen Details entwickelt, ohne je den ernsten Hintergrund der Überlegungen aufzugeben.

In einer grotesken Szene stellt sich heraus, dass die Dame der Agentur, die Tom bringt und anpreist, in Gestalt der köstlichen Sandra Hüller selbst ein Humanoid ist. Und es ist berührend, wie in einer Begegnung der alte Jürgen Tarrach seine reizende blonde Kunstfrau umarmt – endlich glücklich, nachdem keine Menschenfrau ihn offensichtlich wollte.

Ja, die Verlockung ist groß: scheinbar menschliche Gesellschaft ohne die Nachteile, die sich aus der realen Kommunikation immer wieder ergeben. Es muss nur Almas Exfreund auftauchen (Hans Löw), dessen neue Freundin schwanger ist, und schon ist da all der Kummer, den man sich bereiten kann (denn Alma hat einst ein Kind von ihm verloren). Und wenn Almas alter Vater (Wolfgang Hübsch) dement herumirrt, macht der Film die Fragilität des Echtmensch-Seins klar.

Das Thema wird weiter gedacht: Wenn dieser Tom nicht mehr als lernfähige Maschine gesehen wird, sondern durch sein liebenswertes Wesen plötzlich wie ein Mensch Gefühle evoziert, weil er sich so sehr um Alma und ihr Wohl bemüht, was dann? Dann gibt sie ein Gutachten ab, das richtigerweise besagt, dass Menschen sich nicht mehr mit problematischen Mitmenschen abgeben werden, wenn sie sich bequem mit idealen, problemlosen Gefährten befriedigen können. Ein Leben ohne Ecken und Kanten. Und doch? Irgendwann wird jemand die Frage stellen: Warum nicht? Warum nicht das Angebot des „Besseren“ annehmen, auch wenn es künstlich ist?

Was Alma betrifft, so reagiert sie mittlerweile auf Tom wie auf einen Menschen. Was jetzt? Dann gibt es für Regie und Drehbuch keinen Ausweg mehr, dann muss das Ende kitschig sein. Aber ist die Idee, dass man den Roboter einfach abschaltet und in den Müll wirft, wenn er seinen Dienst getan hat, nicht zu traurig? Wir Menschen können uns das Fühlen nicht abgewöhnen. Und so gibt es dann einen echten, fast tränenfeuchten Kinoschluß. Da hätte man dem Film gern mehr gnadenlose Konsequenz gewünscht.

Aber was er an Denkanstößen darüber bietet, was vielleicht für die übernächste (oder schon nächste?) Generation eine echte Frage sein wird – das ist bemerkenswert.

Renate Wagner


DORTMUND/Konzerthaus/ Klangvokal-Festival: IL PIRATA von V. Bellini.

$
0
0

Dortmund  Konzerthaus Klangvokal Musikfestival  –  Bellini  il pirata –

konzertante Aufzeichnung am 13. Juni 2021, im Stream ab 25. Juni 2021

20210613 172259©sandra spitzner 1
Copyright: Sandra Spitzner

 Hart getroffen durch die Pandemie ist das jährlich in Dortmund stattfindende Klangvokal Musikfestival, da hier  im Sommer sehr viel Chormusik aufgeführt wurde. Der  Höhepunkt, das Fest der Chöre, bei dem mehr als hundert Liebhaber-Chöre aus allen Teilen Dortmunds und Umgebung an verschiedenen Orten der Stadt auftraten, mußte nun schon zum zweiten Mal abgesagt werden.

Stattfinden konnte in diesem Jahr die übliche konzertante Aufführung einer weitgehend unbekannten Oper, wieder unter der musikalischen Leitung von Friedrich Haider. Nach den doch häufiger aufgeführten „Perlenfischern“ von Bizet vor zwei Jahren folgte in diesem Jahr das Melodramma in zwei Akten „il pirata“ von Vincenzo Bellini, 1827 an der Mailänder Scala uraufgeführt, also ein frühes Werk Bellinis. Für ihn schrieb zum ersten Mal – fast alle anderen Opern Bellinis sollten folgen – Felice Romani das Libretto, hier nach einem Roman von Charles Robert Maturin.  

Wieder Pandemie-bedingt wurde die  Aufführung  am 13. Juni 2021 in einer etwas gekürzten konzertanten Version im Konzerthaus Dortmund  ohne Zuschauer aufgezeichnet und ist ab 25. Juni 2021 als Video-Stream zu erleben.

Il pirata gilt als stilbildend für die italienische Oper im 19. Jahrhundert, auch betreffend das übliche Dreiecksverhältnis der Protagonisten:

Die Sopranistin namens Imogene  liebt unglücklich den Tenor namens Gualtiero, der sie leidenschaftlich  liebt, aber nach verlorenem Krieg fliehen mußte und nun als Anführer von Piraten  ins heimatliche Sizilien zurückkehrt. Um ihren Vater vor grausamem Tod zu retten, mußte sie aber  Gualtieros  Todfeind heiraten,  den bösen Bariton Fürst Ernesto, von dem sie ein Kind hat. Imogene und Gualtiero gestehen sich erneut ihre Liebe, was Ernesto natürlich herausfindet. In leidenschaftlicher Wut erschlägt Gualtiero den Ernesto und wird dafür zum Tode verurteilt. Dieses Leid treibt Imogene in den Wahnsinn, der hier wohl erstmalig in einer Oper auskomponiert wird.

Typisch für die italienische Oper des 19, Jahrhunderts ist auch der etwas schematische Aufbau der Gesangszenen. Beginnend mit einem Rezitativ folgt ein langsamerer Teil, häufig ein „cantabile“,nach dem manchmal schon zu früher  Applaus  ertönt. Als Zwischenstück kommt ein „tempo di mezzo“ vor dem schnellen Schluß, meist einer „cabaletta“ oder „stretta“ . Das gibt den Sängern Gelegenheit, ihre Gefühle durch Gesangskunst sowohl im erregten Sprechgesang, im Legato als auch in schnellen Koloraturen zu zeigen,

Starke Gefühlsschwankungen zeigt vor allem die weibliche Hauptfigur, sodaß die Oper eigentlich „Imogene“ heissen müßte. So konnte Maria Pia Piscitelli  mit etwas dunkel timbrierten Sopran  stimmlich sehr passend darstellen  ihre Sehnsucht nach dem geliebten Gualtiero, mußte dessen Vorwürfe wegen ihrer Ehe mit dem ungeliebten Ernesto ertragen, warnte letzteren vor Gualtieros Mordabsichten, lehnte dessen Vorschlag einer gemeinsamen Flucht übers Meer hinweg (cerchiam per mari) ab und erlebte dann, dass Ernesto durch Gualtiero umgebracht wurde und dieser zum Tode verurteilt wurde. Hierzu verfügte sie über ergreifendes Legato, perlende Koloraturen, genau getroffene Spitzentöne, ordnete sich passend  in die Duette mit dem Geliebten, dem ungeliebten Ehemann oder beiden ein, überstrahlte im grossen Finale des ersten Aktes alle Solisten, Chor und Orchester. Höhepunkt war die abschliesssende Wahnsinnsszene passend im Rezitativ begonnen mit s´io potessi dissipar le nubi (könnte ich die Wolken vertreiben).  Legato freute sie sich, dass ihr kleiner Sohn gerettet wurde und beklagte nach einem grossen Orchesterschlag (suono ferale)  den Tod des ungeliebten Ernesto und die Hinrichtung des geliebten Gualtiero, dies alles im grossen Stimmumfang von ganz tiefen Tönen, etwa bei tenebre oscure,  bis hin zu verzweifelten Spitzentönen, die aber immer rund und nie spitz klangen.

20210613 171324©sandra spitzner
Copyright: Sandra Spitzner

Ihren geliebten Gualtiero sang ganz großartig  Dmitry Korchak, den man schon in einer ebenfalls konzertanten Aufführung in Moskau bewundern konnte (auch bei Youtube) Er verfügte über phänomenal getroffene Spitzentöne, besonders bei wütenden Racheschwüren, hatte Atem für lange Kantilenen, konnte  die Stimme  dabei  bis ins p zurücknehmen. Seine ergreifendste Szene war  der Abschiedsgesang vor seiner Hinrichtung, wo er beklagte, dass an seinem Grab niemand trauern würde und hoffte, nicht für immer verhaßt zu sein (non fia sempre odiata)  Das wirkte wie eine Vorwegnahme der Edgardo-Szene im letzten Akt von „Lucia di Lammermoor:

Mit  bis in tiefe Töne mächtigem  Bariton und treffsicheren Koloraturen gestaltete Franco Vassallo den Fürsten Ernesto, dessen Siegesfreude, dessen Sarkasmus gegenüber den falschen Beteuerungen Imogenes betreffend Rettung der Piraten und dessen Wut beim Treffen mit Gualtiero. So wurde das Terzett der drei im zweiten Akt mit den ganz konträren Gefühlsdarstellungen zu einem musikalischen Höhepunkt.

Passend besetzt waren die kleineren Partien mit  Baurzhan Anderzhanov als weiser Eremit, Sungho Kim als Gefolgsmann Gualtieros und Liliana de Sousa als Imogenes Begleiterin Adele, die zu Beginn des zweiten Aktes ein kleines Solo zusammen mit dem Damenchor mit gefühlvollem Sopran sang.

Als gesamter Chor – Damen und Herren – war der Opernchor am Theater Dortmund  einstudiert von Fabio Mancini   auch wieder Pandemie-bedingt  im Zuschauer-Parkett und im ersten Rang verteilt und sang trotz des grossen Abstands zwischen den einzelnen Sängern, etwa Dankgesänge der Piraten für die Rettung oder Siegeshymnen für Fürst Ernesto.

Die Orchesterbegleitung hatte die Neue Philharmonie Westfalen übernommen, wieder Pandemie-bedingt mit Masken für die Streicher und Plastikwänden zwischen den Bläsern. Unter der umsichtigen und exakten Leitung von Friedrich Haider gelang trotzdem schon die einleitende „Sinfonia“ rhythmisch sehr genau, farbig klingend,  und mit mitreissendem Schluß. Zu loben sind die  Soli einzelner Instrumente, genannt seien hier Hörner und Flöten und insbesondere im Vorspiel der Wahnsinnsszene wiederum die Hörner und besonders das Zusammenspiel von Harfe und Englisch-Horn.

Wäre Publikum dabei gewesen, wäre viel Applaus für einzelne Gesangsnummern und grosser Schlußapplaus sicher gewesen, obwohl ohne Untertitel trotz so weit  wie möglich guter Textverständlichkeit der Sänger die Verfolgung der Handlung nicht immer einfach war. So schloß die Aufführung ohne erkennbare Reaktionen  – solche gab es vielleicht in den begleitenden Chats. Sie kann aber noch über das Klangvokal Musikfestival auf You Tube über sechs Monate lang erlebt werden.

Sigi Brockmann 26. Juni 2021

 

WIEN/ Staatsoper: ELEKTRA

$
0
0

Wiener Staatsoper, „Elektra“, 25. Juni 2021

elektra d5a0848 nylund stundyte
Camilla Nylund (Chrysothemis), Ausrine Stundyte (Elektra). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Die Staatsopernsaison 2020/21 neigt sich ihrem Ende zu. Die im September letzten Jahres aus dem Depot geholte und revitalisierte „Elektra“-Inszenierung von Harry Kupfer wurde für drei Reprisen noch einmal auf den Spielplan gesetzt. Nachstehende Anmerkungen beziehen sich auf die zweite Vorstellung dieser Aufführungsserie.

Die neue Staatsoperndirektion hat es sich zur Aufgabe gemacht, die zentralen Werke des Repertoires durch „exemplarische Produktionen“ zu erneuern – aber überraschend oft ist das „Alte“ das bessere „Neue“. Dankenswerter Weise konnte unter dieser „Prämisse“, die aus dem Jahr 2015 stammende „Elektra“-Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg durch ihrer Vorgänger-Produktion von Harry Kupfer aus dem Jahr 1989 abgelöst werden (Szenische Einstudierung: Angela Brandt, Bühne: Hans Schavernoch, Kostüme: Reinhard Heinrich).

Bei Harry Kupfer bleibt die mythologische Grundlage der Geschichte erkennbar, die mythische Handlungszeit wird nicht verlassen, die Handlung gerät zu keiner in der Gegenwart verorteten „Familienaufstellung“. Die riesige Statue des Vaters, in deren Schatten Elektra vegetiert, beschreibt anschaulich die Verhältnisse, unter denen sie schmachtet. Elektra ist durch den Mord an ihrem Vater traumatisiert – und dessen übermächtiger Schatten, in den sie sich flüchtet, ist auch ein übermächtiger Aufruf zur Rache. Kupfer hat nicht banalisiert, Hofmannsthals Blankverse müssen sich an keinem Kohlenkeller und keinem „Horrorfilm-Trash“ beweisen, wie ihn Uwe Eric Laufenberg 2015 auf die Staatsopern-Bühne gestellt hat.

Von der riesigen Agamemnonstatue ausgehend ermöglicht Kupfers Regie ein archetypisches Wühlen in menschlichen Seelenabgründen, ohne dabei die Figuren durch eine platte Modernisierung zu beschädigen. Die historische Distanz zum gezeigten Bühnengeschehen belässt auch für die Rezipienten und für die Ausführenden Freiräume des Mitfühlens und Mitdenkens. Um diese Aussagen noch an Beispielen zu erläutern: Laut Szenenanweisung hat sich Klytämnestra bei ihrem Auftritt auf einen Stock und eine Vertraute zu stützen. Bei Laufenberg wurde Klytämnestra in einen Rollstuhl verfrachtet. Der Unterschied ist auf den ersten Blick marginal. Aber die Königin ist nach wie vor Herrscherin, sie hält sich mit allen Mitteln aufrecht, obwohl sie von ihrer Gewissenslast und ihren Albträumen schwer niedergedrückt wird.

elektra d5a0762 schuster
Michaela Schuster (Klytämnestra). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Daraus ergibt sich für die Personenführung ein fruchtbares Spannungsverhältnis, das an diesem Abend Michaela Schuster für ein exzentrisches Rollenporträt zu nutzen wusste. Ihre Klytämnestra schwankte zwischen Gewalttätigkeit und Schwäche, wütete gegen das Gefolge, näherte sich mit amikaler Falschheit vorsichtig ihrer „ungezogenen“ Tochter. Der Rollstuhl hätte ihren Handlungsspielraum über Gebühr eingeschränkt, sie zur Passivität gedrängt, und zugleich die Figur aus der mythischen Zeit zu weit Richtung Gegenwart verschoben. Stimmlich konnte diese Klytämnestra wie vielen Rollenvorgängerinnen die Spuren eine langen Karriere nicht ganz verleugnen, aber die Sängerin hatte hörbaren Gefallen daran, die Motten so richtig nach Lust und Laune an ihrem Seelenkleid fressen zu lassen.

Ein weiters Beispiel: Man fragt sich zuerst, warum von dieser riesigen Statue, deren Kopf bereits zu Boden gestürzt ist, Seile hängen. Offensichtlich hat man versucht, die Statue zu stürzen – und sie hat diesen Bestrebungen widerstanden. Bei Kupfer kramt Elektra in keinem Koffer voller Kindheitserinnerungen, solche „läppischen“ Details braucht er nicht, um die Beziehung zwischen Vater und Tochter auf den Punkt zu bringen. Und für die Darstellerin der Elektra bieten diese Seile eine Möglichkeit, ihrer Beziehung zum Vater eine starke körperliche, „theatralische“ Dimension zu verleihen. Die Seile ermöglichen es ihr, an ihrem Vater zu zerren, sich von ihm fesseln zu lassen, mit ihm zu spielen. Die ganze Ambivalenz ihrer Tochtergefühle lässt sich an diesem Bühnenaufbau abarbeiten.

Aušrinė Stundytė hat von diesen Möglichkeiten reichlich Gebrauch gemacht. Die Schlusschoreographie im Finale, wie sie mit den Seilen „tanzte“, wie sie schließlich am riesigen Fuß der Statue zusammenbrach, ein Stückchen noch nachrutschend, war fulminant. Stundytė jagte diese Elektra voller musikaufgepeitscher Gefühle in die Ohnmacht einer totalen Erschöpfung. Zuvor hatte sie ihre geschmeidige Körperlichkeit mit darstellerischer Kompromisslosigkeit gegen Mutter und Schwester wüten oder sich gegenüber Orest in zärtlicher Hingabe ergehen lassen.

Stimmlich war es für sie nicht so leicht, dieses zupackende Bühnengeschehen zu beglaubigen. Ihr Sopran erschien mir etwas opak, ein wenig rauchig gefärbt, in der Mittellage und Tiefe nicht immer von der gewünschten raumfüllenden Präsenz – jedenfalls nicht „hochdramatisch“ fundiert. Ein guter Gradmesser waren die Szenen mit Chrysothemis: Camilla Nylunds Sopran leuchtete klar und mit Emphase, wo jener Elektras – fahler – sich mehr als „Marathonläuferin“ gerierte, die mit allen Mitteln ins Ziel gezwungen wird. Stundytė schien mir mit ihrer Elektra sehr viel zu riskieren, lieferte eine faszinierende Gratwanderung auf Kosten stimmlicher Solidität. Nylunds Chrysothemis hingegen schien seit den Aufführungen im September noch an Überzeugungskraft und Sicherheit gewonnen zu haben und bot eine sich in der Glückshoffnung verzehrende, auch sinnlich aufjubelnde Schwester.

Derek Welton steuerte einen schönstimmigen Orest bei, der in der Intensität seiner Darbietung den drei genannten Frauenfiguren den Vortritt lassen musste. Er wurde von Wolfgang Bankl als Pfleger begleitet. Jörg Schneider nutzte als Ägisth mit seinem festen lyrischen Tenor die kurze Szene für eine kleines Charakterporträt. Die Mädge (Monika Bohinec, Szilvia Vörös, Margareth Plummer, Regine Hangler, Vera-Lotte Boecker) haben in dieser Saison eine „Blutauffrischung“ erfahren, die den Aufführungen seit September sehr gut getan hat. Auch die weiteren Mitwirkenden fügten sich passend in die Aufführung ein, von der reschen Aufseherin (Donna Ellen) über die Vertraute (Patrizia Nolz) und die Schleppenträgerin (Stephanie Maitland) bis hin zu Dan Paul Dumitrescu als alter und Angelo Pollak als junger Diener (letzter auf rosa Zettel als Einspringer angekündigt). Die sechs Dienerinnen wurden von Jung Won Han, Marie Isabel Segarra, Kaya Maria Last, Jozefina Monarcha, Zsuzsanna Szabo und Sabine Kogler beigestellt.

Die Musiker im Graben unter der Stabführung von Franz Welser-Möst und die Darsteller auf der Bühne – allen voran Aušrinė Stundytė – schienen sich gegenseitig anzuspornen. Da bettete sich die Erkennungsszene auf straussseligen Streicherklang und da peitschten die Orchesterschläge das Finale zu einer gewalttätigen Apokalypse (wobei mein Platz auf der linken Seite diesen phonstarken Eindruck noch verstärkt hat). Dazu gesellten sich das reiche Spiel der Klangfarben und ein bestechend herausgearbeiteter Detailreichtum, der sich nicht selbst genügte, sondern mit schroffen, mit zärtlichen, mit grellen Effekten seine „Akzente“ auf diese gewaltige Orchestermaschine setzte, die wie geschmiert das Publikum zwischen Genuss und Grauen taumeln ließ.

Dominik Troger /www.operinwien.at

 

HAGEN/ Osthaus-Museum: The Second Best – Julian Schnabel und Jiri Georg Dokoupil in Hagen

$
0
0

The Second Best –

Julian Schnabel und Jiri Georg Dokoupil in Hagen

Julian Schnabel (* 26. Oktober 1951 in New York City, New York) ist ein US-amerikanischer Maler und Filmregisseur. Der Sohn jüdischer Eltern – sein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann – wuchs in Brooklyn auf. 1965 übersiedelte seine Familie, der auch noch zwei ältere Geschwister angehören, nach Brownsville, Texas. Nach dem Umzug in die ländliche Umgebung begann Schnabel unter Einsamkeit zu leiden, suchte Trost in der Malerei. Er gilt als einer der Hauptvertreter des Neoexpressionismus/New Image Painting. (Quelle: Wikipedia)

Von Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger

julian schnabel als second best in hagen foto andrea matzker p4930833
Julian Schnabel als Second Best in Hagen.

Augenzwinkernd zeigt Julian Schnabel sein eigenkreiertes und selbstbemaltes T-Shirt mit den Worten „The Second Best“, denn über „Simply The Best“ sprechen sowieso immer alle. Völlig unkonventionell, leger gekleidet, kommt er in Begleitung seines Kollegen Jiri Georg Dokoupil, seines Galeristen Dirk Geuer, des Kurators der Ausstellung, Reiner Opoku, und des Direktors des Osthaus Museums, Tayfun Belgin, zur Pressekonferenz der Ausstellung mit dem Titel „Two Czechoslovanians Walk into a Bar“. Nachdem er seinen Kollegen Dokoupil im Jahren 1982 bei einer Ausstellung in Berlin kennengelernt hatte, kam es vor sechs Jahren zufällig, wiederum in Berlin, zur spontanen Zusammenarbeit mit ihm. Daraus entstanden 13 großformatige Gemälde, die nun im Osthaus Museum von Hagen zu sehen sind.

julian schnabel mit jiri georg dokoupil im osthaus museum von hagen foto andrea matzker p4930844
Julian Schnabel mit Jiri Georg Dokoupil im Osthaus Museum von Hagen. Foto: Andrea Matzker

Julian Schnabel macht keine normale Pressekonferenz. Nein, er nimmt die in der Runde aufgestellten Stühle und fordert alle Anwesenden auf: „Take your chair“ und vergrößert den Kreis, um die großen Werke aus der Entfernung besser auf sich wirken lassen zu können. Einem Herrn, der nicht ganz so gut zu Fuß ist, hilft er kurzerhand mit „Come!“ auf die Beine und führt ihn zu einer neuen Sitzmöglichkeit. Eine Journalistin fragt ihn, ob sie ihn fotografieren könne vor einem seiner Bilder. Er bittet sie, doch Englisch mit ihr zu sprechen, auch wenn er gerne Deutsch sprechen würde: „Später gerne. Jetzt mache ich keine Fotos vor meinen Bildern, ich will sie mir erst einmal ansehen!“ Denn seit ihrem Entstehen vor sechs Jahren hat er sie nie mehr gesehen, vor allem nicht in diesem ausgezeichnet gehängten Zustand.

julian schnabel mit seinem werk untitled cologne cathedral 2016 foto andrea matzker p4930892
Julian Schnabel mit seinem Werk Untitled Cologne Cathedral 2016.

„Wenn ihr wollt, erzähle ich euch vor jedem Bild, wie es dazu kam, wenn ihr das wissen wollt. Ich denke, das ist interessanter als eine langweilige Sitzung.“ Mit diesen Worten geht er, umzingelt von den Journalisten und Fotografen, in den Nebenraum: „Aber nur, wenn einer einen Stuhl für den Herrn holt, der noch nebenan sitzt, damit er es auch hören kann. Als keiner einen Stuhl holt, geht er zurück in den Saal mit dem Herrn und fängt dort an.

Die Journalistin von vorher: „Erinnern Sie sich, wie lange Sie an den Bildern gearbeitet haben?“ Julian Schnabel: „Natürlich! Ich habe doch keinen Alzheimer! So ca. drei Tage lang.“ Und dann erzählt er bildhaft von der Entstehung der „Bubbels“ (Blasen) auf den großen Werken. Befragt nach seiner Motivation für das Malen, antwortete er mit den Worten van Goghs aus dem von ihm produzierten Film: „Wenn ich male, denke ich nicht.“ Und weiterhin: „Für mich ist Malen wie Atmen.“

julian schnabel mit seinem sohn cy in hagen foto andrea matzker p4930945
Julian Schnabel mit seinem Sohn Cy in Hagen

julian schnabel mit seinen kindern lola und cy in hagen foto andrea matzker p4930862
Julian Schnabel mit seinen Kindern Lola und Cy

Begleitet wird er auch von seinem Sohn Cy, dem er zwischendurch den Inhalt seiner Jackentasche reicht, und begrüßt, umarmt und küsst zwischendurch herzlichst eine wunderschöne junge Frau: „Das ist meine Tochter Lola. Sie ist auch Malerin, und zwar eine sehr gute Malerin.“ Von der Ausstellung ist er sehr angetan, alle Bilder sind so gehängt, dass sie großartig – jedes einzelne für sich – wirken. Als sei das Haus für sie geschaffen.

Sein Freund Jiri und er haben beide tschechische Vorfahren, und die Zusammenarbeit mit ihm erwuchs auch aus dem großen Vertrauen heraus, das die Freunde sich gegenseitig entgegenbringen. Selbstverständlich haben sie die drei Tage der Zusammenarbeit nicht nur gemalt, wie er lachend sagt, und Dokoupil führt an „Es waren auch ein paar Whiskys dabei“, daher auch der Titel der Ausstellung.

Zauberhaft, mit sehr viel Geschmack und Geist zusammengestellt, ist auch die riesige Einzelausstellung „Prints 1983-2021“ Schnabels, die in den weiteren, großzügigen und zugleich verschachtelten Räumlichkeiten des Museums zur Geltung kommt, darunter ein entzückendes Kabinett mit seinem Kölner Dom und weiteren Werken oder den vielen durch Italien inspirierten Gemälden, Graphiken und Drucken. Beide Ausstellungen werden am 27. Juni 2021 für das Publikum eröffnet, dauern bis zum 15. August 2021 und sind absolut sehenswert. Parallel dazu ist die von Schnabel eingerichtete Böhm-Kapelle in Köln ein weiteres Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

julian schnabel untitled for anna magnani 1984 foto andrea matzker p4930573 (2)
Julian Schnabel: Untitled For Anna Magnani 1984. Foto: Andrea Matzker

Kurz: Ein überzeugender Mann und Künstler hinter einem eindrucksvollen Werk, wahrhaft, echt und menschlich, wie die von ihm verehrte Anna Magnani, die am 26. März 1956 um 5:30 Uhr morgens im Morgenmantel am Telefon in Rom von ihrer Oscar-Verleihung erfahren hatte, und der er in der Ausstellung ein Werk gewidmet hat.

julian schnabel signiert die poster der ausstellung mit seinen kindern lola und cy foto andrea matzker p4930972
Julian Schnabel signiert Poster der Ausstellung mit seinen Kindern Lola und Cy. Foto: Andrea Matzker

julian schnabel in hagen foto andrea matzker p4930735
Julian Schnabel vor einem seiner Werke. Foto: Andrea Matzker

julian schnabel mit seiner tochter lola foto andrea matzker p4930914
Julian Schnabel mit seiner Tochter Lola. Foto: Andrea Matzker

 

Andrea Matzker und Dr. Egon Schlesinger

 

WIEN / Oberes Belvedere: LOVIS CORINTH

$
0
0

ob corinth presse 19 titel x~1

WIEN / Oberes Belvedere:
LOVIS CORINTH
Das Leben, ein Fest!
Vom 18. Juni 2021 bis zum 3. Oktober 2021

Im Rausch der Farben und Formen

corinth tanzenderderwisch small detail~1
Alle Fotos: © Belvedere, Wien, Johannes Stoll 

Seine Bilder kommen kraftvoll, herausfordernd, „expressiv“ auf den Betrachter zu, ohne dass man ihn einen „Expressionisten“ nennen könnte: Lovis Corinth ((1858 – 1925)). dem das Belvedere nun eine Großausstellung widmet, die – ebenso wie der parallele Waldmüller und der parallele Klimt – hoffentlich Besucherscharen, Einheimische und Touristen, in hoher Zahl anziehen soll. Dazu lädt auch der Titel ein: „Das Leben ein Fest“ heißt es, was sich auch auf das Leben des Künstlers bezieht und nicht in allen Werken nachvollzogen werden kann. Dennoch, betrachtet man etwa den „Tanzender Derwisch“ von 1904, da scheint schon pure Lebenslust aus dem Bild zu hüpfen. Nach Wien wird die Ausstellung in Saarbrücken zu sehen sein, die Häuser haben ihre Bestände zu einer großen Schau zusammen gelegt.

Von Renate Wagner

ob corinth presse 2 raum landschaften ~1

Lovis Corinth     Er hieß eigentlich „Louis“, woher das „Lovis“ kam, kann auch Kurator Alexander Klee nicht zweifelsfrei klären. Wollte Corinth, der sich in einer reichen Künstlerszene perfekt selbst inszenierte, sich damit interessant machen? Oder schloß er sich Franz von Stuck an, der damals begann, das „U“ auf römische Art als „V“ zu schreiben? Wie dem auch sei – als Lovis Corinth wurde er berühmt. Geboren am 21. Juli 1858 in Tapiau in Ostpreußen, kam er aus einer Gerberfamilie, war also früh mit dem Töten und Häuten von Tieren vertraut. Das mag erklären, warum er zu den (wenigen) Künstlern zählt, die immer wieder „Schlachthausbilder“ malten – auch diese, nach Meinung des Kurators, in die Lebenslust einzuordnen, die Sinnlichkeit des Blutes beschwörend. Corinth wuchs in Königsberg auf, begann dort das Studium der Malerei, zog mit 22 Jahren nach München und schloß sich nach Umwegen dort der Secession an. Auch als er nach Berlin kam, bewegte er sich (auch in führenden Funktionen) in diesen Kreisen, ohne dass man ihn künstlerisch je als Secessionisten hätte bezeichnen können. Ebenso verweigert sich sein ganz individuelles Werk den anderen „-ismen“ der Kunstgeschichte. Wichtig ist, dass er sich in technischer Meisterschaft auf alte Meister (Rembrandt oder Hals, von dem er sagte: „Der malt wie ich“) bezog.

Auch mit Gattin Charlotte (sie bekamen zwei Kinder), die Schülerin in seiner Malschule gewesen war, bewegte er sich aktiv und feiernd in Künstlerkreisen. Charlotte spielte im Leben ihres Mannes eine überaus wichtige Rolle, besonders in den Jahren nach seinem Schlaganfall.

Einerseits durchaus anerkannt, andererseits doch immer mit finanziellen Problemen kämpfend, verdiente er am ehesten mit seinen Porträts Geld, obwohl sie keinesfalls von der Art waren, die dem Dargestellten geschmeichelt hätte. Vielmehr suchte Corinth nach einer Art von tiefenpsychologischem Ansatz.

Im Dezember 1911 erlitt er einen schweren Schlaganfall und war lange Zeit halbseitig gelähmt. Die danach entstandenen Bilder erklärten die Nazis, die er nicht mehr erlebte (er starb am 17. Juli 1925,´in Zandvoort in den Niederlanden) für „entartet“ – tatsächlich kann man in den Werken, die Corinth weiter wie fieberhaft malte, auch eine faszinierende Krankengeschichte sehen. In der Pressekonferenz wurde mehrfach der Begriff „Sprung in die Moderne“ zitiert. Ohne sich als Expressionist zu gerieren, galt sein Werk als Beispiel einer kontinuierlichen Fortentwicklung, im Kampf gegen Körper und Geist (er litt unter schweren Depressionen).

loviscorinth 1b~1 x

Rausch der Farbe, Rausch der Bewegung  Die Wiener Ausstellung bietet nun von allem etwas – zu den schönsten Bildern zählt wohl die „Dame am Goldfischbassin“ von 1911, die seine Gattin Charlotte in einem gestreiften Kleid in ihrer Berliner Wohnung zeigt. Ungeachtet der vielen Einzelheiten, die er sorglich ausführte, brauchte er für das Bild nur vier Tage. Die Besitztümer des Belvederes und die Leihgaben geben einen Überblick über die thematische Vielfalt des Künstlers – er malte ebenso rücksichtslos geschlachtete Tiere wie elegante Frauenporträts, sein meisterlicher „liegender Akt“ spottet jeder Konvention der Schönheit und althergebrachter Positionen, Antikisierendes und fast schon abstrakte, geradezu bedrohliche Landschaften schließen einander nicht aus. Vielfach spricht ganz einfach Gewalt aus diesen Bildern.

ob corinth presse 6 antikisierend~1  ob corinth presse 17 akt~1

Corinth und Wien   Einmal war Lovis Corinth verbürgt in Wien, 1909. als drei seiner Gemälde in der großen Kunstschau gezeigt wurden. Damals ging er übrigens auch in das berühmte Atelier von Madame d’Ora und ließ sich fotografieren. Über Beziehungen zu Wiener Künstlern ist nichts bekannt, aber wenn Klaus Albrecht Schröder meinte, starken Einfluß von Corinth etwa auf Richard Gerstl festzustellen, kann man das gut nachvollziehen.
Bedeutend ist, dass man in Wien schon zu Lebzeiten von Corinth begann, seine Werke oft noch aus dem Atelier heraus zu kaufen (wodurch sich keine Provenienz-Probleme ergeben).

loviscorinth 2b~1

Als das Belvedere 2009 seine Corinth-Bestände zeigte, würdigte die damalige Direktorin Agnes Husslein ihre Vorgänger, die einen unerschütterlichen Blick für die Qualitäten der Moderne hatten. Franz Martin, bis 1938 tätig, und Bruno Grimschitz, während der Kriegsjahre im Amt, haben Corinth – damals ein moderner Zeitgenosse – nicht nur erworben /darunter das alles andere als „schöne“ Porträt von Herbert Eulenberg aus dem Jahre 1924), sondern seine Werke auch gegen alle Auflagen des Regimes geschützt, als er künstlerisch nicht mehr genehm war. Das ist als große Leistung anzusehen – abgesehen davon, dass diese Direktoren noch über Mittel zu Ankäufen verfügten, von denen das Belvedere heute wohl nicht einmal träumen könnte.

Oberes Belvedere
Lovis Corinth Das Leben, ein Fest!
18.
Juni 2021 – 3. Oktober 2021
Täglich außer Montag 10 bis 18 Uhr

 

ZÜRICH/ Opernhaus: LUCIA DI LAMMERMOOR. Neuinszenierung

$
0
0

Gaëtano Donizetti: Lucia di Lammermoor, Opernhaus Zürich, Vorstellung: 24.06.2021

 (2. Vorstellung • Premiere am 20.06.2021)

 «Regietheater» allererster Güteklasse

Ganz am Anfang seiner Karriere im Bereich der Kunst lernte der junge Kritiker, jede Äusserung über eine künstlerische Darbietung habe positiv zu beginnen. Daran will er sich auch in diesem Fall halten. Mit der Inszenierung von Donizettis Meisterwerk «Lucia di Lammermoor» durch Tatjana Gürbaca bietet das Opernhaus Zürich seinem Publikum «Regietheater» allererster Güteklasse.

Lucia di Lammermoor - Oper - Opernhaus Zürich
6. Bild; Foto © Herwig Prammer

Ausgangspunkt der Inszenierung von Tatjana Gürbaca ist die Vermutung eines Traumas in Lucias Kindheit, auf das Lucia und Edgardo immer wieder zurückkämen, also eine Psychologisierung, die in der endlich wieder einmal inszenierten Ouvertüre schon lang und breit dargelegt wird.  Die italienische romantische Oper Bellinis und Donizettis hatte sehr wohl Interesse an psychischen Ausnahmezuständen und deren Erscheinung, nicht aber an der tieferen Begründung, und so deutet Gürbaca meisterhaft, wo es, das verrät die gängige und ohne Aufwand verfügbare Literatur, nichts zu deuten gibt. Ob Lucia, wenn sie auf Raimondos Bitte in die Heirat einzuwilligen, dies als Opfer, und ihre Antwort, die Familie retten zu wollen, als Auflehnung sieht, ist doch sehr zu hinterfragen. Genau so zu hinterfragen ist die These, Lucia sei keine Privatheit zugestanden worden, denn dazu müsste es im 19. Jahrhundert bzw. Ende des 16. Jahrhunderts einerseits eine mit der Gegenwart vergleichbare Privatheit gegeben haben und andererseits war es in einer Zeit, in der, wie es die Literatur verrät, Anstandsdamen für adlige Mädchen selbstverständlich waren, eine Verbindung längere Zeit geheim zu halten. Lucias Hochzeitsfeier interpretiert Gürbaca als Orgie, an der heftigst kopuliert wird. Die Aktualität ihrer Sicht stellt sie dadurch unter Beweis, dass dies nur gleichgeschlechtlich geschieht. Die ganze Inszenierung ist von einem energiegeladenen Bewegungsdrang (Einsatz der Drehbühne mit sechs identischen Szenen) geprägt, der seinen genialen Höhepunkt erreicht, wenn Edgardo im 7. Bild an den Gräbern seiner Ahnen ein Häuflein Erde aus dem leeren Bettgestell nach aussen schaufelt. Die Elemente des Bühnenbilds von Klaus Grünberg sind, so wie sie an die Fluggastbrücken des stillgelegten Flughafens Berlin-Tegel erinnern, vom Charme der Nachhaltigkeit geprägt. Nachhaltigkeit scheint auch bei den Kostümen von Silke Willrett (Kostümmitarbeit: Kerstin Griesshaber) das Gebot der Stunde gewesen zu sein: Einzelstücke aus der Kleidersammlung in ihrer Zusammenstellung inspiriert von den Bildern schottischer Fussballfans der laufenden Europa-Meisterschaft.

Coronabedingt muss die Philharmonia Zürich weiterhin im Probenraum am Kreuzplatz spielen und per Glasfaserkabel ins Haus übertragen werden. Der Klang, der ankommt und von der Tontechnik ohne einzelne Instrumentengruppen zu stärken oder schwächen ans Haus angepasst werden sollte, ist reichlich unausgewogen, scheppernd und vor allem zu laut. Über den Klang der Philharmonia Zürich, die die Partitur bestens kennt, kann so nur eingeschränkt geurteilt werden. Das Grundproblem des Abend sind die von Speranza Scappucci gewählten Tempi, die, viel zu langsam oder viel zu schnell, es den Sängern und dem von Janko Kastelic vorbereiteten Chor der Oper Zürich verunmöglichen mitzuhalten. Da auch der Chor am Kreuzplatz singt, wird er wie gewohnt vom ausserordentlich spielfreudigen Statistenverein am Opernhaus Zürich auf der Bühne vertreten.

Massimo Cavalletti gibt einen hervorragenden Enrico Ashton und brilliert mit seinem virilen Bariton und grossem Stilbewusstsein. Irina Lungu, die Lucia, seine Schwester singt, erfüllt die technischen Anforderungen der Rolle weitgehend. Fehlendes Legato und vor allem völlig fehlende Emotionen trüben den Eindruck. Der enden wollende Applaus ohne «Brava»-Rufe nach ihren grossen Arien spricht für sich. Star des Abends, auch wenn er durch die Tonübertragung zu übermässigem Forcieren gezwungen ist, ist Piotr Beczała als Edgardo di Ravenswood. Stilistisch unpassend ist allerdings die Träne in der Stimme, die deutlich schwerer geworden ist und die Entscheidung, die Partie in Zukunft nicht mehr zu singen, unterstützt. Mit Andrew Owens als Lord Arturo Bucklaw und Iain Milne als Normanno sind diese beiden Partien luxuriös besetzt. Oleg Tsibulko als Raimondo Bidebent bleibt stimmlich wie darstellerisch erschreckend blass. Roswitha Christina Müller als Alisa, Lucias Kammerdame, Sava Baumgartner (Lucia als Kind), Jack Csajka (Edgardo als Kind), Ludwig Hoefs (Enrico als Kind) und Samuel Maurer (Normanno als Kind) ergänzen das Ensemble.

«Regietheater» allererster Güteklasse!

Weitere Aufführungen: SA 26.06.2021, 19.00 und MI 30.06.2021, 19.00.

Video-on-Demand auf Arte Concert vom 26.06.2021 bis 27.09.2021

25.06.2021, Jan Krobot/Zürich

Viewing all 11208 articles
Browse latest View live


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>