Quantcast
Channel: KRITIKEN – Online Merker
Viewing all 11208 articles
Browse latest View live

ST. GALLEN/ Festspiele: NOTRE DAME von Franz Schmidt. Premiere

$
0
0

Franz Schmidt: Notre Dame, 16. St.Galler Festspiele, Premiere: 25.06.2021

 «Ich liebe Deinen Heldenmut, mein Ritter»

«Ich liebe Deinen Heldenmut, mein Ritter», gesteht die Zigeunerin Esmeralda dem Offizier Phoebus beim vermeintlich geheimen Stelldichein. Phoebus, der rasend in Esmeralda verliebt ist, sieht im Karneval die Gelegenheit näheren Kontakt mit ihr zu knüpfen. Esmeralda ist allerdings mit Gringoire verheiratet, der sich ins Lager des fahrenden Volks verirrt hatte und den sie durch die spontane Heirat vor dem Tode rettete. Der Dritte, der ihrem Reiz nicht widerstehen kann («Eh ich Dich kannte, war ich rein und glücklich und meine Seele voll Klarheit»), ist der Archidiaconus von Notre Dame. Als Gringoire das Rendezvous von Esmeralda und Phoebus heimlich beobachtet und mitanhören muss, wie seine Frau dem Offizier die Liebe gesteht, erdolcht er sie und stürzt sich in die Seine. Esmeralda wird für die Mörderin gehalten und soll hingerichtet werden. Im letzten Moment zieht der Glöckner sie in die Kathedrale und rettet sie. Um ihrer habhaft werden zu können, hat der Archidiaconus kurzerhand das Kirchenasyl aufheben lassen. Bei der letzten Beichte erfährt Esmeralda, die der Archidiaconus für eine Zauberin hält, dass Phoebus den Angriff überlebt hat und bittet um ihre Freilassung. Der Archidiaconus aber, der hofft durch ihren Tod seine innere Ruhe wiederzufinden, lässt sie hinrichten und muss dann während der Hinrichtung erkennen, dass er seinen Seelenfrieden nicht wiederfinden wird und eine Unschuldige geopfert hat. Quasimodo emanzipiert sich von seinem Ziehvater und stürzt diesen vom Turm in die Tiefe. Jetzt sind die beiden Menschen, die er liebte, tot.

Dies die Geschehnisse der Oper «Notre-Dame» des österreichischen Komponisten, so wie sie die 16. St.Galler Festspiele coronakonform um ein Stunde gekürzt und pausenlos zur Aufführung bringen.

St.Galler Festspiele: Das sagen Prominente nach der Premiere
Copyright: Toni Suter Fotographie

Franz Schmidts Opernerstling entstand von August 1904 bis August 1906, wurde dann aber, weder Hofoperndirektor Gustav Mahler noch sein Nachfolger Felix Weingartner, erst am 1. April 1914 unter dem Direktor Hans Gregor in der Wiener Hofoper uraufgeführt. Schmids Herkommen von der Orchestermusik ist dem Werk mehr als deutlich anzuhören: die instrumentalen Passagen in spätromantisch, impressionistisch-pastosem Stil, so schön sie auch sind, verursachen in einer Oper immer wieder Längen.

Um den Corona-Bestimmungen zu genügen, spielt das Sinfonieorchester St.Gallen unter Leitung von Michael Balke in der Tonhalle und wird von dort in den Klosterhof übertragen. Die musikalische Umsetzung gelingt hervorragend, so dass Schmidts Musik bestens zu Geltung kommen kann. Beim Ton besteht noch Verbesserungspotential: weniger laut und weniger Bass-lastig wäre hier mehr. Die Chöre (Chor des Theaters St. Gallen, Opernchor St. Gallen und Prager Philharmonischer Chor) vorbereitet hat Michael Vogel.

Regie geführt hat Carlos Wagner, der im Klosterhof bereits «La damnation de Faust» und «I due Foscari» inszenierte. Bestimmendes Element seiner Inszenierung (Bühnenbild: Rifail Ajdarpasic) ist eine heruntergestürzte gotische Rosette, vor der er dann die einzelnen Szenen spielen lässt. So imposant das Bühnenbild in den verschiedenen Beleuchtungen (Guido Petzold) auch ist: auf der riesigen Bühnen verliert sich das intime Drama fast zwingend, insbesondere wenn die Regie einem Aktionismus mit Parallelhandlungen erliegt. Die gleichermassen geschmackvoll wie opulenten Kostüme verantwortet Christophe Ouvrard, die Choreografie der Chöre und der Tanzkompanie (Bérénice Durozey, Dustin Eliot, Charlott Fischer-Wachsmann, Lorian Mader, Lena Obluska, Florent Operto, Emily Pak und Alessio Russo) Alberto Franceschini.

Einmal mehr ist es dem Theater St.Gallen gelungen ein hervorragendes Ensemble zu versammeln. Anna Gablers leidenschaftliche Interpretation der Esmeralda erinnert an «Carmen» und es ist sofort zu verstehen, warum ihr die Männer erliegen. Simon Neal gibt den Archidiaconus mit wunderbar kräftigem Bariton. In seinem schwarz-silbernen Habit, der ohne weiteres von einem Modeschöpfer stammen könnte, ist er eine imposante Erscheinung. Der Quasimodo von David Steffens ist der Höhepunkt des Abends: mit grosser Bühnenpräsenz macht er die Gespaltenheit seiner Figur jederzeit nachvollziehbar. Clay Hilley leiht dem Phoebus seinen hellen, bestens geführten Heldentenor.  Cameron Becker als Gringoire und Shea Owens als Ein Offizier ergänzen das Ensemble.

Eine interessante Entdeckung!

Weitere Aufführungen:

Samstag, 26. Juni 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

Dienstag, 29. Juni 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

Freitag, 2. Juli 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

Samstag, 3. Juli 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

Mittwoch, 7. Juli 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

Freitag, 9. Juli 2021, 21:00-22:50, Klosterhof

 

26.06.2021, Jan Krobot/Zürich


NÖ / Nestroy Spiele Schwechat: CHARIVARI

$
0
0

01 charivari plakat img 7584~1

NÖ / 49. Nestroy Spiele Schwechat:
CHARIVARI von Johann Nestroy
Premiere: 26. Juni 2021
Besucht wurde die Generalprobe

Wenn jemand wie Johann Nestroy über 70 Theaterstücke hinterlassen hat, dann finden sich auch nach einem halben Jahrhundert noch „Novitäten“: Tatsächlich werden die von Peter Gruber unerschütterlich verantworteten Nestroy Spiele Schwechat nächstes Jahr 50 (!!!), was möglicherweise dann auch ihr Ende bedeutet. In all den Jahren hat man neben dem Bekannten immer wieder sehr viel Unbekanntes hervorgezaubert. Vor dem Abschied gibt es nun eine komplette Rarität, denn mit einiger Sicherheit ist „Charivari“ seit der Uraufführung am 1. April 1850 nie wieder gespielt worden.

Damit steht dieses Stück unter Nestroys Misserfolgen (und er hatte viele) an der Spitze – es kam über die Premiere nicht hinaus. Die Kritiken waren vernichtend, als wollte man den Autor zu Tode knüppeln. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieses „Karrikaturen-Charivari mit Heurathszweck“, wie es im Original heißt, für uns nicht ganz amüsant sein kann. Sicher, die karikierten Figuren aus den satirischen Zeitschriften der damaligen Zeit, die Nestroy hier seinerseits satirisch auf die Bühne brachte, können wir nicht mehr in ihrem einstigen Zusammenhang erkennen. Aber Peter Gruber erweist einmal mehr, wie viel in Nestroys Stücken thematisch und in den Figuren zu finden ist.

In diesem Nach-Revolutionsstück gibt es griffige Gestalten und Situationen, vor allem den versatilen Helden Finkl, von Nestroy mit keinem Beruf versehen, sondern als „Pfiffikus“ charakterisiert. Der Proletarier, dem die Revolution nichts gebracht hat, der aber auf hohem Niveau zu räsonieren versteht. Beruflich bekommt er mit innovativen wirtschaftlichen „Ideen“ keinen Boden unter den Füßen, seine Frau muss sich als Köchin verdingen, darf aber nicht zugeben, verheiratet zu sein, denn natürlich muss sie ein Objekt der Begierde für die Herren des Haushalts darstellen – und das sind die Kapitalisten, die sich (einst wie heute) nicht verändert haben, immer noch glauben, alles stünde ihnen zu und alles sei mit Geld zu kaufen. Logisch, dass Nestroy Lust hat, ihnen den „Prozeß“ zu machen (er tut’s im letzten Akt), eine Lust, die Regisseur Peter Gruber mit Nestroy’schem Groll im Bauch offensichtlich teilt und mit aller Schärfe zugreift.

Neben den Armen, die keine Chance haben, den Reichen, denen doch nichts passiert, neben der absoluten Selbstverständlichkeit der sexuellen Belästigung (eigentlich Ausbeutung), geht es natürlich wie immer und ewig ums Geld. Wenn der Kapitalist ein reiches Mündel hat, wird er gegen den Willen beider versuchen, seinen Sohn mit ihr zu verheiraten, um die Verfügung über ihr Vermögen zu behalten – das sind Zwangsehen, die es auch in Europa immer gab. Das Motiv der Flucht, das bei Nestroy hier humoristisch eine Rolle spielt, muss man in Bezug auf heute nicht überbewerten, der Rest der Motive gibt genügend her.

charivari caier hüpft foto haider~1
Foto: Herta Haider

Und doch ist das Stück die übliche turbulente Verwechslungs-Posse mit Gesang, nur toller als meist, weil der Held Finkl gleich in sechs Verkleidungen auftritt, davon zweimal in Frauenkleidern. Das erfordert einen souveränen Komödianten, und die Aufführung in Schwechat hat diesen in Gestalt von Oliver Baier gefunden, der nach eigener Aussage zwischen Moderation und Kabarett immer zu wenig zum Theaterspielen gekommen ist. Das kann er hier nun reichlich nachholen – als der mit der Welt, den Menschen und den Zuständen hadernde Zeitgenosse, der außerdem noch Eifersuchtsanfälle bezüglich seiner herzigen (und treuen) Köchin-Gattin zu bewältigen hat. Die drolligsten Verkleidungen sind natürlich jene, wenn er als Linzer Köchin auftaucht und wenn er eine verfolgte Schöne spielt, bei Nestroy „Romanheldin“ genannt und hier eine zusätzliche Parodie auf die wohl schon halb vergessene Dagmar Koller. Als angeblich aufgeregter Vater (seinen originalen Glatzkopf zeigend, der sonst unter der Proletarier-Mütze des Finkl steckt), als Waldbauer, der hier zum wahren Wurzelsepp übersteigert ist, und als „Actuarius“, der Alptraum eines selbstgerechten Beamten, liefert er präzise verblödelte Studien. Es ist ein Vergnügen, einem körperlich und geistig so gelenkigen Schauspieler zuzusehen.

charivari baier als blondine 2 img 7662~1 carhivari baier als linzer küchin kopf img 7620~1

charivari baier als glatzköofiger vater gross 2 img 7672~1  baier als wurzelsepp mg 7684~1

charivari baier als actuarius kopf img 7733~1  charivari baier als terrorist i gross mg 7644~1

Nur bei einer Figur hat sich Peter Gruber verfahren. Gewiß, wenn Finkl als „Wühlhuber“ Radau macht, hat man es mit dem Prototyp des damaligen Bürgerschrecks zu tun, der rücksichtslos an Revolution denkt. Und ein ähnlicher Schreck ist für ein braves Theaterpublikum von heute sicher der islamische Terrorist, den Gruber auf die Bühne bringt. Trotzdem kann man die Parallele einfach nicht ziehen, weil eine solche Figur zu ernst und bedrohlich ist, um lustig zu sein – da wird das Stück für einige Zeit regelrecht gesprengt, bevor es wieder in die komödiantische Schiene einbiegt. Baier meistert auch das, er ist großartig in den Verwandlungen, den Differenzierungen, in der sprachlichen Ausleuchtung der Figuren.

charivari herr und diener img 7680~1

Auch der Rest der Besetzung ist nicht nur glänzend, sie alle agieren, als stünden sie unter Strom, und das ist nötig, um das Stück weiter zu treiben. Brillant ist Rainer Doppler als der Kapitalist Muffinger in seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, komisch zappelt Marc Illich seinen Sohn Isidor, der auch zu wissen meint, dass ein Reicher Anspruch auf alles hat. Eine prachtvolle Studie liefert Robert Herret als Hausknecht / Faktotum, der sich genau ausrechnet, wie er sich zu verhalten hat, um bestmöglich über die Runden zu kommen.

charivari zwei mädeln img 7635~1

Der Rest sind die armen Leut’, die bei Nestroy ganz selten bemitleidenswert sind, weil er ihnen meist die Kraft gibt, sich selbst zu helfen. Das gilt für die Frauen – Michelle Haydn als geplagte Köchin Kathi und Ines Cihal als keinesfalls dumme reiche Erbin, die in ihrer Abhängigkeit von gierigen Männern auch arm ist.  Lukas Aschenreiter ist ein Liebhaber ohne Geld, und die haben es immer schwer. Unter dem flankierenden „Personal“ ragt Erwin Leder als Wirt hervor. Auch die Nebenrollen fügen sich in ein prächtiges Ensemble.

Der Musikanteil (Otmar Binder) ist gering gehalten, die Ausstattung (gestrige Räume, heutige Kostüme: Andrea Költringer) gibt dem Abend Atmosphäre, und Gruber und Baier haben die aktuellen Zusatzstrophen verfasst – Mangel an Themen gibt es in der österreichischen Innenpolitik ja wahrlich nicht. Genau so hätte Nestroy nach allen Seiten ausgeteilt, aber der hatte ja die Zensur im Nacken…

Welch traurige Idee, dass dies das vorletzte Nestroy-Jahr in Schwechat sein soll. Aber jede vorzeitige Melancholie wird durch den absolut nicht oberflächlichen Spaß vertrieben, den man hier vorgesetzt bekommt.

Renate Wagner

WIEN/ Staatsoper/ Staatsballett: „Symphony in Three Movements“/ Pictures at an Exhibition“/ Symphonie Nr. 15. Ballett ganz ohne Ballettmusik. Premiere

$
0
0

Premiere des Wiener Staatsballetts, 26.6.2021: BALLETT GANZ OHNE BALLETTMUSIK

bal1
Symphony in Three Movements“, Choreographie: George Balanchine. Foto: Ashley Taylor

Kinder des Glücks sind auch sie nicht gewesen, die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts in dieser von der Corona-Pandemie geprägten und zersplitterten Saison 2020/21. Interessant hätte diese gewesen sein können: Mit Martin Schläpfer ist ein neuer, hier völlig unbekannter Ballettdirektor älteren Semesters engagiert worden, der mit seinen choreographischen Schöpfungen in erster Linie nach einer Anerkennung durch Publikum und Presse sucht. Und die Frage, wie sich die zuvor von Tanzstar Manuel Legris exzellent gedrillte Kompanie unter den Anleitungen des neuen Chefs weiterentwickeln wird. Oder stagniert, abrutscht? Alles ist zuerst einmal offen geblieben – und somit ist ab September anzunehmen, dass es dem Wiener Staatsballett nicht an interessanten Aspekten fehlen wird.

In dieser zu Ende gehenden Saison durften die Tänzer bloß dreieinhalb Monate auf der Bühne stehen – und dann ist schnell noch vier Tage vor der Sommerpause doch noch eine Premiere, eine einzige Vorstellung, angesetzt worden. Und diese zeigt an, wie es auch im nächsten Jahr weitergehen wird: Ballett ganz ohne Ballettmusik. Nun, die Musik ist diesmal schon sehr anspruchsvoll. Und die einstudierten Stücke haben auch ihre Qualitäten. Routiniers sind an der Arbeit. Kurz eine Charakterisierung dieses Programms (und auch der künftigen neuen Ballettabende): Musik für den Konzertsaal wird vom Orchester unter Robert Reimer (schon wieder ein herbei geholter anderer unbekannter Neuling am Pult) in folgender Reihenfolge aufgespielt – „Symphony in Three Movements“ (Igor Strawinski, 1945 vollendet) / „Pictures at an Exhibition“ (Modest Mussorgskis berühmter Klavierzyklus, 1874) / „Symphonie Nr. 15“ (der symphonische Abgesang von Dmitri Schostakowitsch). Und in der kommenden Saison werden die neuen Ballettabende ausschließlich ohne originaler Ballettmusik vorexerziert: Auf symphonische Partituren oder Klaviermusik von Haydn, Beethoven, Brahms,  Schumann, Chopin, Bizet, Mahler – und doch noch auch ein Mini-Johann-Strauß-Bouquet dazu – werden die Ballerinen mit ihren auf zeitgemäß zurechtgestutzten virtuosen Pirouetten und Attitüden brillieren. Einzig nur, vielleicht sehr positiv: Von Choreograph Andrey Kaydanovsky wurde vom Innsbrucker Christof Dienz (Jahrgang 1968, Fagottist und Zitherspieler, früher auch im Bühnenorchester des Hauses engagiert, 1992 Gründer von den echt guten „Die Knödel“) eine eigene Auftragskomposition für die Volksoper bestellt. Wiederaufnahmen von „Giselle“ und „Schwanensee“ bleiben in der kommenden Saison die einzigen romantischen Lichtblicke.

“ Tänze  Bilder  Sinfonien“ steht über diesem Premierenabend. Seriös gemacht. Das Hauptwerk des Abends ist gleich an den Beginn gestellt. George Balanchine hatte 1972 für das Erinnerungs-Festival seines New York City Ballet für den ein Jahr zuvor verstorbenen Igor Strawinski eine phanatsievolle Choreographie auf dessen Symphonie in drei Sätzen geschaffen. Eines seiner vielschichtigen Meisterwerke neoklassizistischer Prägung: Ein Ballett ohne Handlung, in seinem Stil einigermaßen schwarz auf weiß gehalten; mehrere Paare und ein starker Andante-Pas de deux; in Gruppen dominierende Damen, welche ihren femininen Charme ausspielen dürfen; den musikalischen Intentionen folgend und entlang der kontrastierenden Farbigkeit der doch sehr heiklen Partitur mit dem Bewegungsspiel der Körper fantasierend.

Balanchine steht hier als Wegweiser für Alexei Ratmansky und Martin Schläpfer. Solch eine Ballettästhetik, welche vor einem halben Jahrhundert oder früher modern gewesen ist, wäre nun in der heutigen Folge an ähnlichen choreographischen Bemühungen als ein gut aufbereitetes zeitgenössisches Tanzpanorama einzuschätzen. Die beiden Choreographen folgen ebenfalls den Intentionen der Musik, nun wohl um eine Spur mehr um kleine Erzählungen bemüht. Der St. Petersburger Ratmansky, Jahrgang 1968, ist zuerst für seine Rekonstruktionen klassischer Ballette  bekannt geworden, hat sich in Folge von Russland bis in die USA auch als kraftvoller Tanzschöpfer in quickem neoklassischen Stil beweisen können. Seine „Bilder einer Ausstellung“, 2014 für das New York City Ballet geschaffen, lassen sich von russischer Klangphantasie wie von abstrakten Farbkreationen des Wassily Kandinsky inspirieren. Jedenfalls: Mussorgskis kleinen Klaviermärchen wird hier ein impulsives Bühnenleben verpasst.

d schlä
Sinfonie Nr, 15/ Schläpfer. Foto: Ashley Taylor

Ratmansky und Schläpfer begeben sich in ihrer Manier auf Suche nach neuen Schrittfolgen und Arrangements – etwa der Linie der Intentionen der derzeitigen Choreographen-Riege entsprechend. Wiens Schweizer Ballettchef Schläpfer versenkt sich auf etwas grüblerischere Art. Im Auf und Ab in seiner uraufgeführten Schostakowitsch-Nachdichtung „Sinfonie Nr. 15“ sucht er nach expressiven Situationen und Ausdrucksstudien. Die exzellenten Solisten wie das sehr groß besetzte Ensemble sind voll gefordert, bemüht wird um neue Kombinationen und originelle Positionen gerungen. Massiver Gruppentanz wechselt mit der feinen Artistik in den Episoden der Solisten. Wer dominiert, die Kraft der symphonischen Musik oder die Reize und Figurationen der menschlichen Körper? Nicht als Dornröschen oder Romeo und Julia dürfen sich die TänzerInnen dem Publikum vorstellen, sondern sie wirken wohl eher als edle doch namenlose Virtuosen in den Händen der jeweiligen Choreographen. Eben wie an diesem Abend: Qualitätsvolles Ballett ganz ohne Ballettmusik.

Meinhard Rüdenauer

 

DRESDEN/ Frauenkirche: VON BAROCK BIS KLASSIK – SOLOKONZERTE FÜR VIOLINE, TROMPETEN UND CORNI DA CACCIA

$
0
0

Dresden / Frauenkirche: VON BAROCK BIS KLASSIK – SOLOKONZERTE FÜR VIOLINE, TROMPETEN UND CORNI DA CACCIA – 26.6.2021

Ein entspanntes, festlich-sommerliches Programm hatte Ludwig Güttler, der unermüdliche Virtuose auf Trompete und Corno da caccia, Dirigent, Organisator und Initiator mit dem, von ihm 1985 gegründeten, Kammerorchester aus führenden Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden, den Virtuosi Saxoniae, für ein zwar nur einstündiges (immer noch wegen Corona), aber sehr gehaltvolles Konzert zusammengestellt. Es sollte „den Wiedereintritt der Virtuosi Saxoniae in die zivilisierte und kultivierte Welt …“ symbolisieren, wie Güttler im Programmheft scheibt.

Freude über diesen Wiedereintritt kam bereits im ersten (Solo‑)Konzert des Abends zum Ausdruck, dem „Balletti pro tabula C‑Dur für zwei Trompeten, Streicher und Basso continuo (B. c.) von Pavel Josef Vejvanovský (um 1633-1693), ein mährischer Komponist, Barocktrompeter und Chorleiter in Kremsir, dem Sommersitz des böhmischen Bischofs mit seinem für damalige Verhältnisse „riesigen“ Orchester, das nicht nur in der musikalischen Welt Aufsehen erregte (während in Paris damals 24 Musiker und in Dresden 19 Musiker das Orchester bildeten, waren es in Kemsir 42!). Die beiden Solotrompeter Ludwig Güttler und Volker Stegmann verliehen mit ihrem meisterhaften Spiel und in kongenialer Gemeinsamkeit mit dem Orchester dem Werk in sieben abwechslungsreichen, kurzweiligen Sätzen Glanz und Festlichkeit.

Die Musiker spielen auf modernen Instrumenten, orientieren sich aber bei solchen Konzerten an historischer Aufführungspraxis (wenn sie in Semperoper oder Symphoniekonzerten Wagner oder Strauss spielen, ist das natürlich anders). Vor allem ließen sie sich hier vom Stilgefühl für die Musik dieser Zeit leiten und musizierten nicht etwa  akademisch (trocken) wie so manches, für Alte Musik spezialisierte, Orchester, sondern mit Herz und Seele, ehrlich empfunden und mit Leben erfüllt.

Roland Straumer, Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle und der Virtuosi Saxoniae widmete sich anschließend dem immer wieder begeisternden „Konzert a‑Moll für Violine, Streicher und B. c. (BWV 1041) von Johann Sebastian Bach, eines der beiden Violinkonzerte, die von mehreren noch erhalten sind. Straumers Violinspiel zeichnet neben unbestechlicher Genauigkeit eine ungewöhnliche Klangschönheit aus, ein Klang, der in einer Balance aus Geschmeidigkeit, Virtuosität, Frische und an italienische Streicherkunst erinnernde Leichtigkeit entsteht. Er musizierte den ersten und zweiten Satz als Primus inter pares, aus dem Orchester heraus sich entwickelnd, und ließ den dritten und letzten Satz in virtuoser und klanglicher Opulenz gipfeln.

In einem dritten Solokonzert, dem fünfsätzigen „Konzert für zwei Corni da caccia, Streicher und B. c. von Georg Philipp Telemann, frönten Ludwig Güttler und Volker Stegmann mit berauschendem Klang der musikalischen „Jagdleidenshaft“, die in der Barockzeit bei fast allen Komponisten eine Rolle spielte. Mit dem schönen, vollen Klang der Soloinstrumente, aber auch des Orchesters, beide miteinander völlig konform musizierend, entstand eine lebensfrohe Wiedergabe.

 Als „Abschluss“ und Ergänzung des an Solokonzerten reichen Programmes folgte die „Symphonie B‑Dur für zwei Oboen, zwei Fagotte, zwei Hörner und Streicher“ (KV 319), die Wolfgang Amadeus Mozart in Salzburg komponierte. Über dieses Konzert „zu schreiben, macht die nur bedingte Zuständigkeit von Worten gegenüber der Musik uns besonders deutlich. Was sich hier – und besonders im 2. Satz – ereignet, kann allenfalls durch Hingabe im bedingungslosen Hören erfasst werden“, so Ludwig Güttler. Mozart ist eben mehr als nur angenehme Unterhaltung auf hohem Niveau, selbst bei einem ungezwungenen, fröhlich-sommerlichen Konzert, besonders wenn die Musiker so hingebungsvoll (Exaktheit ist für alle selbstverständlich) mit Wohlklang und Freude musizieren.

Mit Musik Freude zu bringen ist auch und vor allem Güttlers Anliegen. Nach der langen, Lock-down bedingten, Abstinenz von Live-Musik in der Frauenkirche dürfte dieses Konzert allen Anwesenden Freude und Entspannung im wahrsten Sinne des Wortes gebracht haben.

Ingrid Gerk

 

BERN/ Konzert Theater: VIVA VERDI. Ausschnitte aus Otello, Rigoletto, La Traviata & Co.

$
0
0

VIVA VERDI! Ausschnitte aus Otello, Rigoletto, La Traviata & Co., Konzert Theater Bern, Vorstellung: 26.06.2021, 19.00

 (3. Vorstellung • Premiere am 17.06.2021)

 Viva Verdi!

Konzert Theater Bern beendet die laufende Saison mit einer Verdi-Gala, da die italienische Oper auf Grund von Corona doch etwas zu kurz gekommen ist. Von «Otello» konnten nur wenige Vorstellungen gespielt werden, « Norma» musste ganz abgesagt werden.

Das Berner Symphonieorchester unter musikalischer Leitung von Matthew Toogood beginnt den Abend mit der Ouvertüre aus «La forza del destino». Unter dem 1. Kapellmeister und Musikalischer Leiter des Musiktheaters ad interim bei Konzert Theater Bern zeigt das Orchester mit einer mustergültigen Interpretation welch hohes Niveau es in den letzten Jahren erreicht hat und der Dirigent lässt sein tiefes Verständnis für Verdis Musik erkennen. Der im Herbst in Graz als Don Alvaro («La forza del destino») besetzte australische Tenor Aldo di Toro, der im Herbst in Bern in der Premiere des Otello eingesprungen war, begeistert mit einem wunderbaren «La donna e mobile» aus Rigoletto mit gepflegten Spitzentönen und ganz ohne den schmierigen Kitsch aus Pizza-Werbungen. Mit «E strano! … Sempre libera» aus La Traviata stellt sich die kroatische Sopranistin Lan Kos dem Publikum des Abends vor. Sie war für die Titelrolle der «Norma» besetzt und ihre leidenschaftliche Interpretation der Violetta Valery lässt erahnen, was das Publikum verpasst hat. Der junge italienische Tenor Oresto Cosimo zeigt sich in «Lunge da lei … De’ miei bollenti spiriti» aus «La Traviata» stimmlich wie optische als der perfekte Liebhaber. Die von Operndirektor Xavier Zuber sympathisch und kompetent moderierte Reise durch das Schaffen Verdis setzt sich mit dem von Sarah Mehnert interpretierten «Re dell’ abisso, affrettati» aus «Un ballo in maschera» fort. Mehnert eine Ulrica, deren Reiz auf Riccardo sofort nachvollziehbar wird. Der Höhepunkt des Abends werden «Piangea cantando nell’erma landa» und «Ave Maria» aus Otello. Evgenia Grekovas Interpretation berührt, wie schon in den Aufführungen im Herbst, im besten Sinn des Wortes. Mit «Dio! Mi poteva scagliar tutti i mali» aus «Otello» stellt Aldo di Toro seine eindrückliche Vielseitigkeit unter Beweis. Das «Credo in uno Dio crudel» aus «Otello», beängstigend eindrücklich von Sangmin Lee vorgetragen, beschliesst die Reihe der Beiträge aus «Otello». Letzte Beitrag ist das prächtig vorgetragene Quartett aus «Rigoletto». Mit der Zugabe aller Zugaben, dem Brindisi aus «La traviata», klingt ein grossartiger Abend aus.

Keine weiteren Aufführungen.

27.06.2021, Jan Krobot/Zürich

BERLIN/ Waldbühne – gesehen via 3Sat: KONZERT DER BERLINER PHILHARMONIKER/ Wayne Marshall, Martin Grubinger

$
0
0

Konzert der Berliner Philharmoniker auf der Waldbühne via 3sat am 26.6.2021/BERLIN

Feurige Stimmen und explosive Rhythmen

Musik von Leonard Bernstein bildete einen Schwerpunkt beim diesjährigen Konzert auf der legendären Berliner Waldbühne nach der schwierigen Corona-Zeit. Die glänzend disponierten Berliner Philharmoniker unter der inspirierenden Leitung von Wayne Marshall spielten zunächst mit feurigen und explosiven Rhythmen „On the Town: 3 Dance Episodes“ von Leonard Bernstein, wo die thematischen Zusammenhänge hervorragend herausgearbeitet wurden. Es handelt sich dabei um eine originelle Seemannskomödie aus dem Zweiten Weltkrieg mit bissigen Texten von Betty Comden und Adolph Green. Das Werk war Bernsteins erstes Musical. Frei im Tonalen entwickelten sich hier die Motive mit wahrhaft erregender Expressivität. Manche rhythmischen Exzesse erinnerten an die „West Side Story“. Auch die veristischen Momente kamen nicht zu kurz.

Der österreichische Schlagzeuger Martin Grubinger, der als der größte Meister seines Fachs gilt, stand anschließend im Mittelpunkt des ausgezeichneten Arrangements eines mitreissenden Potpourris von John Williams mit dem fulminanten Ensemble „Percussive Planet“. Hier erreichten berühmte Melodien aus „Star Wars“ und „Schindlers Liste“ wahre Siedegrade und ergreifende Berührungspunkte. Martin Grubinger feuerte am Schlagzeug die Staccato-Attacken immer mehr an – und die Berliner Philharmoniker unter Wayne Marshall folgten seinen Intentionen mit spürbarer Emphase und unglaublicher harmonischer Kraftentfaltung. Insbesondere die zahlreichen Motive fügten sich wie ein äusserst raffiniertes Mosaik zusammen. Der Dirigent Wayne Marshall stand auch als Pianist im Mittelpunkt der berühmten „Rhapsody in Blue“ von George Gershwin, wo neben den ausgeprägten Glissando-Bögen der Klarinette vor allem die von John Williams geprägten Improvisationen ganz besonders eindringlich auffielen, die man so noch nie gehört hatte. Hier fesselte dann auch der Einfluss der Lisztschen Rhapsodien, wobei es Wayne Marshall in exzellenter Weise gelang, diese Passagen mit swingenden Rhythmen zu verbinden. Leonard Bernstein schrieb seine bewegende Filmmusik zu „On the Waterfront“ von Elia Kazan, wo insbesondere die ausdrucksstarken Streicherpassagen auffielen. Dynamische Steigerungen folgten dabei in riesigen Bögen. Dieses Drama um den Kampf gegen eine korrupte Gewerkschaft erfuhr unter der Leitung von Wayne Marshall einen großen dynamischen Spannungsbogen, dessen wilde Errregtheit sich zuletzt in harmonischen Konvulsionen entlud. Als Zugabe folgte zunächst die Ouvertüre zu Leonard Bernsteins Musical „Candide“ nach Voltaire. Die Berliner Philharmoniker ließen unter der Leitung von Wayne Marshall daraus eine atemlose Stretta entstehen, deren Themen sich immer ungezügelter entfalteten. So konnte man die turbulenten amourösen Abenteuer des jungen Edelmannes Candide gut nachvollziehen. Zuletzt folgte noch Paul Linckes „Berliner Luft“. Ovationen des Publikums in der recht gut besetzten Waldbühne.

Alexander Walther

BOCHUM/ Jahrhunderthalle: GUSTAV MAHLERS „ZWEITE SINFONIE“ (Jerusalem Symphonie; Sloane; Baggio, Kulman)

$
0
0

Stream: Gustav Mahlers zweite Sinfonie in der Jahrhunderthalle am 27.6.2021/BOCHUM

In lichten Sphären

Gustav Mahlers 1894 entstandene zweite Sinfonie in c-Moll, die so genannte „Auferstehungs-Sinfonie“, fand beim Publikum sogleich Zustimmung. Gewisse Ähnlichkeiten zur noch monumentaleren achten Sinfonie sind nicht zu überhören. Der langjährige Generalmusikdirektor der Bochumer Symphoniker, der amerikanische Dirigent Steven Sloane, feierte nach 27 Jahren nun mit diesem Werk seinen Abschied in der mit Publikum besetzten Jahrhunderthalle. Zusammen mit den Bochumer Symphonikern musizierte das Jerusalem Symphony Orchestra und es sang der fabelhafte Rundfunkchor Berlin. Die erregten Figuren aus den Bässen erreichten gleich zu Beginn im ersten Satz eine ungewöhnliche Intensität – und auch die klaren Themen und zarten Kantilenen erfuhren eine gebührende Würdigung. Steven Sloane gelang es als Dirigent, den Zauber der lichten Sphären in dieser Komposition mit Magie einzufangen. Mancher Wackler in den Bläsern fiel so gar nicht ins Gewicht. Vor allem die Kraft und Gewalt des Hauptgedankens überwältigte die Zuhörer – ebenso erreichten die hämmernden Rhythmen und choralartigen Themen eine ungewöhnliche dynamische Spannungskraft und Steigerung. Im zweiten Satz herrschte eine eher idyllische Atmosphäre, obwohl Gemütlichkeit nicht aufkommen wollte. Das dahinhuschende Triolenmotiv wirkte durchaus reizvoll. Auch die kontrapunktischen Cello-Bewegungen waren von facettenreicher Wirkungskraft. Die Gesangsmelodie setzte sich schließlich auch in den Bläsern durch. Spannend war, wie die ungeheuren Energien hier langsam nachließen. Robuste Themen wechselten sich dann im Scherzo reizvoll mit skurrilen Themen ab. Die Motive schienen sich immer wieder zu verändern, leuchteten teilweise in den glühendsten Farben. Beim vierten „Urlicht“-Satz überzeugte vor allem Elisabeth Kulman (Mezzosopran), die die Worte aus „Des Knaben Wunderhorn“ mit nie nachlassender Leuchtkraft interpretierte: „O Röslein rot! der Mensch liegt in größter Not!“ Die leidenschaftlichen gesanglichen Steigerungen wirkten hier sehr intensiv. Und die elektrisierende Spannungskraft des gewaltigen Finales ging bei dieser interessanten Interpretation ebenfalls nicht unter. Vor allem der in den weiten Räumen der Jahrhunderthalle machtvoll ertönende „Rufer in der Wüste“ meldete sich mahnend. Der Zauber der Choralmelodie wurde von Steven Sloane und dem Orchester voll erfasst. Schauerlich erklang das Marschthema des „Dies irae“, wirkte aber nirgends übertrieben oder aufgesetzt. Die Klänge des Fernorchesters waren geheimnisvoll, aber durchaus transparent. Mit feinen  klanglichen Abstufungen agierte der Rundfunkchor Berlin beim Choral „Auferstehn, ja auferstehn“ – und mit lyrischer Zartheit sang Hila Baggio (Sopran) das Solo „Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!“, während sich Elisabeth Kulmans Altsolo „O Glaube“ mit großem Einfühlungsvermögen anpasste. Ausgezeichnet war dann die Wiedergabe des „Verklärungsthemas“,  das in nebelhaftem Erinnern plötzlich erschien und einem fast überirdischen Orgel- und Glockenton Platz machte. Die Melodie schwankte in bewegender Weise zwischen Choral und Volkslied. Und auch die Appellrufe der Trompeten schienen voll heiliger Geheimnisse zu sein. Die Verklärungsklänge erfüllten sphärenhaft den riesigen Raum.    

Alexander Walther

BERLIN/ Staatsoper: DER FREISCHÜTZ – konzertant

$
0
0

DER FREISCHÜTZeine konzertante Aufführung der Berliner Staatsoper, 26.06.2021

Der bundesdeutschen Hauptstadt blieb es im Jubiläumsjahr vorbehalten, ausschließlich und gleich doppelt ihr Geburtstagskind zu zelebrieren, nämlich den 200. Jahrestag der Uraufführung von Carl Maria von Webers Märchenoper „Der Freischütz“, der wohl deutschesten aller deutschsprachigen Opern. Am 18. Juni, dem Geburtstag selbst, hatte das Konzerthaus als Uraufführungsbühne das Vorrecht, ihre Neudeutung des Stückes durch das Regieteam La Fura dels Baus zur Aufführung zu bringen, die ohne Livepublikum im Saal sowohl auf den Berliner Gendarmenmarkt als auch in die heimischen Wohnzimmer gestreamt wurde. Doch auch die nur wenige hundert Meter entfernte Staatsoper unter den Linden ließ es sich nicht nehmen, das Werk mit zwei kurzfristig angesetzten konzertanten Vorstellungen am 20. und 26. Juni zu würdigen, nachdem eine szenische Serie aufgrund der vormaligen Bestimmungen abgesagt wurde.

Man konnte mit fast kompletter Hausbesetzung auftrumpfen und auch der einzige Gastsänger des Abends, Christof Fischesser, ist als ehemaliges Ensemblemitglied der Lindenoper dem Haus nachhaltig verbunden.

Der Abend wurde ohne Pause gegeben und alle Dialoge, die nicht unmittelbar innerhalb musikalischer Szenen eingebunden sind, wurden gestrichen und durch Texte von Schauspieler Klaus Christian Schreiber vortragend ersetzt, der sowohl den Samiel gab und unterhaltsam zwischen den Nummern durch die Handlung führte.

Die Staatskapelle Berlin hatte mit Alexander Soddy einen kongenialen musikalischen Partner, der das Orchester zu Höchstleistungen animierte. Ebenso verstand er es, jeden Sänger feinfühlig zu unterstützen und der Partitur viele Akzente zu entlocken, die den Abend zu einem musikalischen Genuss werden ließen, wie man ihn an der Spree in den letzten Jahren nur selten zu hören bekam.

Die Riege der Sänger wurde von Evelin Novak angeführt, die neben einer strahlend schönen Erscheinung vor allem mit ihrem leuchtenden Sopran das Publikum begeistern konnte und eine Agathe präsentierte, wie man sie derzeit schöner wohl kaum zu hören bekommt. Ihre beiden Szenen wurden zu innigen Gebeten, die das Leid der Protagonistin nahbar machten und das Publikum bereits nach ihrer großen Arie zur Begeisterung hinriss. Im 2. Akt waren es abermals die himmlischen piani, die andächtig lauschend machten. Novak steht ein wunderbar lyrischer Sopran zur Verfügung, der in allen Lagen zu überzeugen weiß und durch seine ungetrübte Reinheit für die Frauengestalten der deutschen romantischen Oper prädestiniert ist. Ihr zur Seite erlebte man Stephan Rügamer als den unglücklichen Schützen, den man im Haus unter den Linden bisher vor allem in lyrischen Partien kennt und der mit dem Max erstmals bis an seine Fachgrenzen geht. Als erfahrener Interpret weiß er sich diese allerdings klug einzuteilen und präsentiert eine Palette an Farben, die ihre Wurzeln hörbar im Liedgesang haben und das Bild eines hin- und hergerissenen, von Selbstzweifeln geplagten Bräutigams zeichnen. Als gottverlassener Bösewicht Kaspar konnte kurzfristig Christof Fischesser gewonnen werden, der bereits im „Freischütz“ am Gendarmenmarkt zu erleben war. Er beeindruckte mit kernig-sonorem Bass und blitzscharfen Koloraturen, die er dem Publikum in seinem Trinklied und der anschließenden Arie entgegen schleuderte. Eine gewisse Steifheit im Ausdruck lässt sich nicht leugnen, tat dem gesanglichen Genuss allerdings kaum Abbruch. Als Agathes junge Verwandte Ännchen kam Victoria Randem aus dem hauseigenen Opernstudio zum Zug. War man anfangs noch von einer schön timbrierten, satten Stimme beeindruckt, überwogen allmählich doch die gesangstechnischen Mängel die Höhe betreffend. Auch überzog sie als Einzige der SängerInnen die Grenzen der szenischen Darstellung einer solchen konzertanten Darbietung, welche in diesem Rahmen etwas fehl platziert und aufgesetzt wirkte. Manchmal ist weniger eben doch mehr. Ebenfalls aus dem Opernstudio bekam der deutsche Bass Frederic Jost die Möglichkeit, sich in der kurzen, aber wichtigen Partie des altehrwürdigen Eremiten zu präsentieren. Jost ließ einen angenehmen Bass hören, der neugierig auf zukünftige Entwicklungen des jungen Sängers macht. Als Fürst Ottokar vermittelte Roman Trekel die von ihm gewohnte Autorität mit edlem Bariton und prägnanter Akzentuierung im Ausdruck. Das Ensemble vervollständigten Reinhard Hagen als unauffälliger, Ruhe ausstrahlender Kuno sowie Jaka Mihelac als Bauernbursche Kilian.

Der Staatsopernchor konnte als Ensemble überzeugen und präsentierte einen hervorragenden Jägerchor, wohingegen die ebenfalls aus dem Chor besetzten Brautjungfern den berühmten „Jungfernkranz“ zu einer wahren Ohrenpein geraten ließen. Nein, so möchte man dieses Kabinettstück wahrlich nicht hören, vor allem nicht an einem Haus dieses Formates.

Dennoch verließ die Staatsoper an diesem Abend mehr als glücklich und war dankbar für ein musikalisches Erlebnis dieser Art.

Sigrid E. Werner


Film: GODZILLA VS. KONG

$
0
0

filmplakat godzilla

Filmstart: 1. Juli 2021  
GODZILLA VS. KONG
USA / 2021
Regie: Adam Wingard
Mit: Alexander Skarsgård, Rebecca Hall, Demián Bichir u.a.

Es gab Zeiten, da reichte ein Godzilla, da reichte auch ein King Kong für sich allein, um einen Blockbuster zu kreieren. Wenn es ein bisserl mehr sein darf, dann kombiniert man die beiden Monster nun in einem Film und lässt sie auf einander los. Das bringt ja noch mehr, als wenn sie nur isoliert Städte und Menschen zerstören… Wo soll sich allerdings das Publikum hier positionieren? Es ist schon so, dass einem im Zweifelsfall das Säugetier, sprich, der Riesenaffe, lieber ist als die Riesenechse, weil dem Menschen bekanntlich schon seit der Schlange in der Bibel eine instinktive Scheu davor mitgegeben ist…

Natürlich ist die finale Schlacht der Titanen das, worauf ein Popcorn-Publikum wartet und ein Anrecht hat, aber bevor die digitalen Künste explodieren, gibt es noch ein paar Menschen. Ein Team befasst sich mit Kong – Rebecca Hall als Ilene Andrews betreut ihn auf Skull Islan , und, als besonders „rührendes“ (oder wenn man will: kitschiges) Element, ist da ihre Adoptivtochter, ein taubes kleines Mädchen mit den asiatischen Gesichtszügen (Kaylee Hottle), das mit dem Affen in der Taubstummensprache kommuniziert.

Parallel wütet Godzilla tödlich in den USA herum und erinnert sich daran, dass die Japaner ihn erfunden haben, weshalb er sich in Richtung Tokio aufmacht: Das sorgt schon dafür, die Lust an der Zerstörungswut teilweise zu befriedigen. Die ganze „Menschen-Handlung“, in der noch Dr. Nathan Lind (Alexander Skarsgård) und Walter Simmons (Demián Bichir) wichtige Rollen spielen, ist eigentlich eher retardierend, weil das Publikum natürlich auf die Action wartet.

Aber da müssen erst einmal die (Kino-)Vorgeschichte der Monster erzählt, seltsame Theorien aufgebaut und Intrigen und Geheimorganisationen wie „Monarch“ oder der Konzern Apex eingeführt werden. Außerdem muss man wissen, dass eigentlich eine Reise zum Mittelpunkt der Erde geplant ist… Das nimmt doch einen großen Teil der fast zwei Stunden Spieldauer ein, die allerdings in den Schauplätzen opulent inszeniert sind und Terror und Entsetzen der Menschen ausreizt, die dann begreifen, dass sie Monster Kong brauchen, um Monster Godzilla auszuschalten.

godzilla vs kong 1

Die beiden geraten mehrfach unter verschiedenen Bedingungen mit Geheule und Gewalt an einander. Wie gut, dass so ein Riesenaffe auch ein paar Kinnhaken zur Verfügung hat… Das Finale bietet angeblich (man hat nicht auf die Uhr geschaut, aber man glaubt der Information) 18 Minuten ununterbrochenen Kampfes. Mehr kann man nicht verlangen.

Alles in allem bietet der Film, der ja nun keinerlei intellektuellen Anspruch hat, sondern nur laut und spannend sein soll, in der Regie von Adam Wingard das, was das dafür spezifische Publikum an Krach und Krawall erwartet. Im übrigen ist filmgeschichtlich interessant (ja, auch so etwas ist Filmgeschichte!), wie gewisse Fixpunkte des unterhaltsamen Gewalt- und Horror-Genres immer neu (und dabei letztendlich immer alt) kombiniert werden.

Renate Wagner

Film: DER SPION

$
0
0

tel derspion main aw a1 v2 pfade.indd

Filmstart: 2. Juli 2021
DER SPION
Ironbank / GB / 2020
Regie: Dominic Cooke
Mit: Benedict Cumberbatch, Merab Ninidze u.a.

Dieser Film erzählt eine wahre Begebenheit, die dramatisch genug ist – wie ein Drehbuch. Man fragt sich, wie naiv Menschen sein können, die in Spionagetätigkeit gleichsam „hineingleiten“? Lesen die keine Thriller, gehen die nie ins Kino? Ahnt der freundliche britische Geschäftsmann, Mr. Greville Wynne, wirklich nicht, in was er hinein gerät, wenn er mit dem freundlichen Russen Oleg Penkowski scheinbar harmlosen Kontakt aufnimmt (ohne zu ahnen, wie MI 6 und CIA ihn da missbrauchen)? Oder war man in den frühen sechziger Jahren – in dieser Epoche des eiskalten Krieges zwischen Ost und West spielt die Geschichte – wirklich unschuldiger?

Tatsache ist, dass zwei Männer hier Marionetten ihrer Geheimdienste werden, so dass fast undurchschaubar ist, mit wie viel Tücke zumindest der unschuldsvolle englische Geschäftsmann hier manipuliert wird: Benedict Cumberbatch spielt ihn an als grundanständigen Mann, der den russischen Bekannten und Geschäftspartner (undurchsichtig, aber nicht unsympathisch: Merab Ninidze) nach und nach regelrecht gerne mag. Es ist, und das ist das menschlich Schöne daran, auch die Geschichte einer ehrlichen Freundschaft auf beiden Seiten. Cumberbatch lässt aber auch den zunehmenden schweren Druck spüren, unter dem er steht.

Während der Brite dabei aber vor allem um seine Familie und seine finanzielle Situation besorgt ist, hat der Russe tiefere Einblicke in die sowjetischen Verhältnisse. Er ahnt, dass ein unberechenbarer Nikita Chruschtschow zu mancherlei imstande wäre und lässt folglich aus Patriotismus, weil er eine Atomkatastrophe verhindern will, den Engländern Inforationen zukommen (obwohl er doch eigentlich für die Heimat spioniert)…

Was Regisseur Dominic Cooke hier sehr überzeugend entwickelt, ist (im Gegensatz zu all den herrlichen, abenteuerlichen Spionage-Thrillern, die wir auf der Leinwand so gerne sehen) die absolute Glanzlosigkeit des Alltags der Männer, die unter dem Deckmantel irgendwelcher beruflicher Tätigkeiten die brisanten Informationen hin und her transportieren. Eine Stimmung der Düsternis (wie sie die Sowjetunion damals tatsächlich ausgezeichnet hat) liegt schwer über dem Geschehen.

Man spürt in der Realität (was ja auch die Krimis nicht verschweigen), wie gewissenlos die Geheimdienstleute ihre Agenten herum schieben und auch opfern. Und wie achselzuckend man einer Ehefrau erklärt, dass ihr Mann von den Russen geschnappt wurde und man ihm dort den Prozeß macht – das sind dann große Szene für einen kahl geschorenen, verzweifelt herumbrüllenden Cumberbatch.

Man verrät nichts, was nicht bekannt ist, Greville Wynne kam davon, wurde nach ein paar Jahren in einem russischen Gefängnis ausgetauscht, als die Briten den Russen für ihn endlich jemand Gleichwertigen anbieten konnten. Penkowski wurde sang- und klanglos hingerichtet. In einer letzten Begegnung bat er den Freund um Verzeihung – und bekam sie. Wynne hat sich immer zur wahren Freundschaft mit dem Russen bekannt.

Die Briten haben den Heimkehrer triumphal empfangen. Am Ende des Films ist der echte Greville Wynne zu sehen. Auf die Frage, ob er je wieder in den Osten reisen werde, kann er nur sagen, dass er es nicht weiß… Er wird sich hüten, möchte man annehmen.

Renate Wagner

Film: CATWEAZLE

$
0
0

otto catweeuöe~1

Filmstart: 1. Juli 2021
CATWEAZLE
Deutschland / 2020
Regie: Sven Unterwaldt
Darsteller: Otto Waalkes, Julius Weckauf, Katja Reimann, Henning Baum u.a.

Wenn das BBC-Catweazle- Original, das es nur Anfang der siebziger Jahre gab, an einem vorbei gegangen ist, mag man nicht berufen zu sein, zwischen der einstigen Legende und der deutschen Umformung zu befinden. Man kann also nur über den derzeitigen „Catweazle“-Film befinden – der erste „Otto“-Film, seit er 2014 seine „7 Zwerge“-Trilogie beendet hat. Dass er mittlerweile aus dem Gedächtnis des Publikums gefallen sei, war nicht zu befürchten, dazu war und ist „Otto“ eine zu starke Marke. Allerdings auch eine unverwechselbare – und wenn man diese in dem neuen Film vermisst, wird man ihn nicht unbedingt für gelungen halten können…

„Catweazle“ ist eine Zauberei- und Zeitreise-Geschichte, in der ein kleiner Magier aus dem Jahre 1020 in die Gegenwart plumpst. (2020 hätte der Film starten sollen, das fiktive „1000 Jahre Wiederkehr“-Jubiläum ist von der Pandemie gekippt worden und jetzt in der Werbung nicht mehr zu verwenden.) Aus dem britischen Original wurde nun ein ganz, ganz deutscher Film, der ziemlich holprig und plump mit dem Thema umgeht, das entschieden mehr Esprit vertragen würde.

Im Zentrum des Geschehens steht – nein, eigentlich nicht der in eine fremde Welt katapultierte Catweazle, sondern der 12jährige Benny, allseits als „Förstersohn“ bezeichnet, obwohl sein Vater (Fernseh-Krimi-Gesicht Henning Baum) immer wieder von seinem „Tierpark“ spricht. Benny, von Catweazle „Mondgesicht“ genannt, wird von Julius Weckauf gespielt, dessen Filmroutine schon auf die Verkörperung des jungen Hape Kerkeling zurück geht. Nachdem man zu Beginn wirre Kriegsereignisse im Mittelalter erlebt hat, findet Benny nun den zerrupften Zauberer in seiner Scheune und ist, er ist schließlich ein Kind, schnell bereit, ihm zu glauben und ihm zu helfen.

Catweazles Aufgabe besteht nun darin, sich über die Welt, die er hier vorfindet, entsprechend zu wundern – über „Licht an, Licht aus“, was er begeistert als „Elektrik-Trick“ wahrnimmt. Ebenso staunt man über Smartphones (ein Zauberspiegel) oder Verkehrsampeln (welch unheilverkündende Rune – ein roter Kobold!).

otto 2 x xxx

Erstaunlich, negativ erstaunlich, wie wenig Otto darstellerisch aus der Möglichkeit macht, fröhlich alles in seinen Erfahrungshorizont einzuordnen. Tatsächlich wirkt er müde – und leider alt. Was man einem Mann von über 70 nicht vorrechnen kann und will, und der Zauberer muss ja nicht jung sein. Nur etwas von der alten Otto-Spritzigkeit müsste er ausstrahlen, wenn man aus einer englischen Fernsehlegendeschon einen deutschen Otto-Film machen will.

Nun geht es ja eigentlich um Catweazles Zauberstab „Anawandur“ (was nichts mit „Wanduhr“ zu tun hat, auch wenn es ähnlich klingt), denn ohne diesen kann er nicht in seine Welt zurück. Benny hilft, und dann auch seine jugendliche Angebetete Lisa (Gloria Terzic), die anfangs so schnippisch und unfreundlich ist, dann aber Entscheidendes zur Rettung beiträgt.

Denn Bennys Vater hat den Zauberstab als Feuerholz weggeben, Lisas Mutter erkannte, dass das ein „antikes“ Stück sei und gab es dem Museum – und dort bekommt es die gierige Kunsthändlerin Dr. Metzler in die Hände. Wenn man sich fragt, was Katja Riemann in einem solchen Film, dessen Niveau peinlich tief ist, zu suchen hat, kann man nur antworten: Sie erkennt, was eine Rolle hergibt. Hier darf sie mit attraktivem Blondhaar und echtem Karriere-Lady-Look eine wahre Hexe sein, die sie bis zum Tobsuchtsfall ausspielen kann. Sie holt sich ihr Stück des Films.

Das Problem besteht nur darin: Als Catweazle heimkehren darf, ist er halt wieder im Mittelalter und dann weg – und man fragt sich gar nicht groß, was aus ihm wohl wird, so wenig hat er einen interessiert. Da hat Regisseur Sven Unterwaldt keine gute Arbeit für den ihm vertrauten Star geleistet. Vielleicht wollte man – das können nur Kenner des Originals beurteilen – aus britischem Kult keinen wirklichen Otto-Film (mit all dessen Mätzchen und Scherzen machen), aber das wäre wohl die grundfalsche Entscheidung gewesen.

Abgesehen davon, dass es ohnedies nichts genützt hat: Das Wort „Ikonenschändung“ geistert schon durch das Internet. Dabei hat in diesem Fall nur die Ikone Otto sich selbst – na, nicht geschändet, aber zumindest geschadet.

Renate Wagner

Film: DER MAURETANIER

$
0
0

filmplakat mauretanier~1

Filmstart: 2. Juli 2021
DER MAURETANIER
The Mauritanian / USA / 2021
Regie: Kevin Macdonald
Mit: Tahar Rahim, Jodie Foster, Benedict Cumberbatch u.a.

Die Geschichte des „Mauretaniers“ ist ein rundum heikler Film. In erster Linie ist er eine Selbstanklage der USA, die wahrlich Berechtigung hat. Denn als Präsident Bush nach dem Elften September das US-Gefangenenlager für Islamische Terroristen nach Cuba „auslagerte“, wurde Guantanamo Bay zum „rechtsfreien“ Raum, wo man Menschen einfach verschwinden lassen und den gnadenlosesten Foltern aussetzen konnte. Schließlich war man ja nicht in Amerika. ..Tatsache ist, dass auch die deklarierten besten Absichten von Präsident Obama einst und Präsident Biden heute noch nichts geändert haben – das Lager existiert weiter, es befinden sich darin Häftlinge, und wie mit ihnen nach wie vor umgegangen wird, möchte man sich lieber nicht vorstellen…

Es ist also die Darstellung dessen, wie eine angebliche Demokratie sich nachweislich verbrecherisch verhält, die am Beispiel von Mohamedou Ould Slahi erzählt wird. Er wurde von 2002 bis 2017 unter der Begründung, er sei ein Al-Qaida-Drahtzieher von 9/11 gewesen, nach Guantanamo gebracht, unvorstellbaren Qualen unterzogen, aber nie vor Gericht gestellt.

Es ist wichtig, nicht zuletzt für den Kinobesucher, dass man es hier wirklich mit einem „unschuldigen“ Mann zu tun hat, obwohl der Mauretanier früher Beziehungen zur Al-Qaida unterhielt, sonst wäre man ja nicht auf ihn gekommen. Aber mit 9/11 hatte er nichts zu tun, was die Amerikaner bald merken mussten – doch ihr Bedürfnis, schnell „Drahtzieher“ und „Schuldige“ zu liefern, ließen sie Slahi festhalten, als auch schon der Ankläger (keine große, aber differenzierte Rolle für Benedict Cumberbatch) nicht nur erkannte, dass er keine Beweise erbringen konnte – sondern auch, welches Unrecht hier im Namen einer amerikanischen Gerechtigkeit begangen wurde…

mauretanier jodie foster x~1

Nun hat man also auf der einen Seite die ungemein tragische, schmerzliche Geschichte des ungerecht Verfolgten (so ergreifend gespielt, wie es die Figur her gibt, von dem algerischen Schauspieler Tahar Rahim). Auf der anderen Seite gibt es eine Art „Krimi“-Element, das nicht besser wird, wenn es das Leben geschrieben hat. Denn die Anwältin Nancy Hollander, die Slahi schließlich doch die Freiheit verschaffte, gibt es, sie sieht „in echt“ (am Ende erblickt man wie üblich die Echtmenschen, die da etwas attraktiver auf die Leinwand gebracht wurden) fast ein bisschen Jodie Foster ähnlich.

Diese macht allerdings, auch wenn sie die Rolle in stiller Verbissenheit spielt und nicht wirklich zeigt, was sie antreibt außer das hohe „Gerechtigkeitsgefühl“ (da hätte das Drehbuch ein bisschen Psychologie mitliefern können), dann doch das Starvehikel einerseits, den Gerichtssaal-Film andererseits aus der Geschichte, also gewissermaßen das Übliche. Und man merkt, dass all die widersprüchlichen Elemente des Films auch von einem so geschickten Regisseur wie Kevin Macdonald (der Brutalität, Kitsch, Verzweiflung, Spannung auszubalancieren hatte) nicht völlig auf einen Nenner zu bringen waren.

Als die Amerikaner Slahi nach 15 Jahren Qual und Hoffnungslosigkeit gehen ließen, hat niemand sich auch nur mit einem Wort bei ihm entschuldigt. Er fand eine Art „Entschädigung“, wenn das überhaupt möglich ist, als sein „Guantanamo Tagebuch“ zum Bestseller und nun auch zum Film wurde. Heimgekehrt nach Mauretanien, sieht man auch ihn am Ende „in echt“. Das Leben schreibt tatsächlich auch die hässlichsten Geschichten – mit „Happyend“. Und Joe Biden mag viel zu tun haben, aber er sollte auf den aktuellen Schandfleck seines Landes in Cuba nicht vergessen…

Renate Wagner

WIEN/ Staatsoper/Staatsballett: TÄNZE BILDER SINFONIEN. Begeistert aufgenommene Ballettpremiere zum Saisonende

$
0
0

26.06.2021: „TÄNZE BILDER SINFONIEN“. Begeistert aufgenommene Ballettpremiere zum Saisonende

Nach „Mahler, live“ Anfang Dezember – der  Premiere, die nur für das Fernsehen aufgezeichnet und ausgestrahlt wurde, gab es nun endlich knapp vor Ende der Spielzeit noch eine Ballettpremiere vor Publikum. Mit George Balanchine, Alexei Ratmansky und Martin Schläpfer sind drei bedeutende Choreografen des zeitgenössischen Ballets mit Piecen vertreten in sehr unterschiedlicher stilistischer tänzerischer Umsetzung der gemeinsamen klassischen Basis. Die drei Komponisten sind durch ihre russischen bzw. sowjetischen Wurzeln miteinander verbunden.

bal1
„Symphony in three Movements“. Foto: Ashley Taylor

Den Beginn des Abends macht als österreichische Erstaufführung „Symphony in three Movements“ in der Choreografie von George Balanchine zur gleichnamigen Komposition von Igor Strawinski. Balanchine, der als Georgi Melitonowitsch Balantschiwadse 1904 im zaristischen Russland geboren wurde und seine Ballettausbildung in St. Petersburg erhielt, lernte er bei einem Auslandsgastspiel 1924 Serge Diaghilev kennen und wurde an dessen Ballett Russe engagiert – zunächst als Tänzer, später als Choreograf. Balanchine arbeitete mit dieser Compagnie bis zu deren Auflösung 1929 und gründete schließlich gemeinsam mit Lincoln Kirstein das New York City Ballet. Als Choreograf wurde Balanchine berühmt durch seinen ästhetischen, klaren Stil, in dem er das klassische Ballett zur Neoklassik formte. Auch Igor Strawinski stammte aus dem zaristischen Russland und auch ihn führte sein Lebensweg in den Westen – über Frankreich schließlich in die USA, wo er 1971 starb. Als Balanchine ein Jahr nach Strawinskis Tod eine Vorstellung zu seinen Ehren organisierte, schuf er dafür die  Choreografie zur „Symphony in three Movements“.  Vor dem für viele Balanchine-Werke typischen blauen Hintergrund  wird auch hier in schlichten Trikots getanzt, die durch ihre Puristik den Fokus auf den Tanz lenken sollen; allerdings im Scheinwerferlicht nichts figürlich verzeihen. Hier tanzen drei Hauptpaare, fünf weitere Paare sowie ein Corps de ballet mit 16 Mädchen (Einstudierung: Ben Huys). Präzise Formationen, klare Linien, komplexe Schrittkombinationen und temporeiche Umsetzung charakterisieren dieses Stück und fordern damit die Tänzer intensiv. Kiyoka Hashimoto und Davide Dato, Liudmila Konovalova und Masayu Kimoto sowie Maria Yakovleva und Géraud Wielick setzen hier souverän ihre Akzente im Neoklassik-Stil. 

alexeiratmansky picturesatanexhibition claudineschoch marcosmenha 03 foto ashleytaylor
Alexei Ratmansky: Pictures At An Exhibition: Claudine Schoch, Marcos Menha. Foto: Ashley Taylor

„Pictures at an Exhibition“ ist das erste Werk, das vom Wiener Staatsballett aus dem Œuvre von Alexei Ratmansky getanzt wird. In Leningrad geboren, an der Ballettakademie in Moskau ausgebildet, leitete er einige Jahre das Bolshoi-Ballett, bis ihn sein Weg später ebenfalls nach New York führte. Ratmansky ist sowohl für seine Rekonstruktionen klassischer Ballette bekannt als auch für seinen eigene Kreationen.  Für seine „Pictures at an Exhibition“ setzt er den1874 entstandenen  Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky tänzerisch um, den der Komponist als Erinnerung an den Maler Viktor Hartmann geschaffen hat.  

Die Einstudierung erfolgte durch Amar Ramasar: fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer wandern gleichsam durch die Bilderausstellung. Wenn auch keine eigentliche Handlung erzählt wird, so setzt der Choreograf doch den Tanz in Bezug zu den Themen der Bilder, wie u.a. in „Gnomus“ die dunkle Seite aus einer Tänzerin herausgeholt wird oder vice versa, in „Baba Jaga“ das Böse sich in einem Tänzer ausdrücken soll. Eine interessante Bühnenbildlösung ist die Umformung der Farbstudie „Quadrate mit konzentrischen Kreisen“ von Wassily Kandinsky als Projection Design von Wendall K. Harrington. Die geometrischen Formen setzen sich in den Kostümen von Adeline André für das Ensemble fort: während die Damen kurze Hängekleidchen mit Tüllüberkleid anhaben, tragen die Herren ebensolche Oberteile zu hellen Hosen. Exquisit und frisch präsentieren sich Ketevan Papava und Francesco Costa, Claudine Schoch und Marcos Menha, Ioanna Avraam und Arne Vandervelde, Nina Poláková und Lourenço Ferreira sowie Maria Yakovleva und Roman Lazik.  Am Flügel brillierte die junge rumänische Pianistin Alina Bercu

martinschlaepfer sinfonienr15 romanlazik ketevanpapava foto ashleytaylor
Martin Schlaepfer – Sinfonie Nr 15. Roman Lazik, Ketevan Papava- Foto: Ashley Taylor

Den Abschluss dieses Ballettabends bildet die Uraufführung von Martin Schläpfers „Sinfonie Nr.15“ zur Symphonie Nr 15 in A-Dur von Dmitri Schostakowitsch. 1906 in St. Petersburg geboren und 1975 in Moskau gestorben, ist das Leben von Schostakowitsch und vor allem sein künstlerisches Schaffen in der Stalinzeit geprägt von Furcht vor dem Regime. Seine letzte Symphonie kann man gleichsam als sein Requiem verstehen, wenn er es auch drei Jahre vor seinem Tod komponiert hat. Der erste Satz verführt zum trügerischen Schein einer Unbeschwertheit, die sich jedoch in der Folge als musikalische Aufarbeitung eines Lebens voller Höhen und Tiefen manifestiert. Zitate eigener wie auch Werke anderer Komponisten  sind ebenso enthalten – so u.a.  aus Rossinis „WilhelmTell“ oder aus Wagners „Walküre“ sowie „Tristan und Isolde“.  Martin Schläpfer hat sich in seinem Zugang zur Sinfonie viel mit dem Komponisten beschäftigt und seine persönliche Quintessenz – auch unter dem Eindruck der Pandemie stehend – hier verarbeitet. Wie auch in anderen Choreografien von Schläpfer sind hier ebenfalls viele kleine Details enthalten, die manchen vielleicht in ihrer Fülle erst beim mehrfachen Erleben auffallen werden, da auch die großen, sich durch das Werk ziehenden Linien gefangen nehmen. So treten z.B. zum Zitat aus „Wilhelm Tell“ Männer für einen kurzen Augenblick mit einem roten Apfel auf dem Kopf auf; an anderer Stelle mag ein auf der Bühne abgestellter Koffer versinnbildlichen, was man als Mensch in seinem Leben alles mit sich mittträgt, auf unerwartete Flucht vorbereitet ist oder es kann auch ein Anklingen an die letzte Reise sein, die man letztlich ohne Gepäck antritt. Der Mensch mit all seinem Empfinden steht hier im Mittelpunkt einer sich aus dem klassischen Ballett entwickelten Tanzsprache, die durch ungewöhnliche Hebungen auffällt; benutzt werden bei den Mädchen sowohl Spitzenschuhe als auch Schläppchen. Martin Schläpfer bezieht wie zuvor bei Mahlers 4. Sinfonie das gesamte Ensemble seines Wiener Staatsballetts ein, alle sind gleichrangig eingesetzt, Tänzerinnen und Tänzer in gleichem Maße. Bühne und Kostüme stammen von Thomas Ziegler, für das Licht zeichnet Robert Eisenstein verantwortlich. 

Robert Reimer gab mit dieser Ballettpremiere sein Debut als Dirigent an der Wiener Staatsoper. Er leitete das Orchester mit viel Verve und Umsicht und schuf so zum feinen tänzerischen Erleben auch die entsprechende edle musikalische Interpretation.

Das Publikum zeigte sich begeistert vom Gesehenen – es gab viel Applaus für alle Künstler dieses Abends.

Ira Werbowsky

PS: Schade, dass es keine Gelegenheit gab, die scheidenden Tänzerinnen und Tänzer beim letzten Auftritt auf der Bühne noch einmal zu würdigen. So seien sie auf diesem Weg genannt: Nina Poláková verlässt das Wr. Staatsballett und wird in der kommenden Spielzeit Ballettchefin am Slowakischen Nationaltheater in Bratislava. Sie tanzte in Wien ein reiches vielfältiges Repertoire und tanzte jetzt mit ihrem Mitwirken in „Pictures at an exhibition“ und „Sinfonie Nr. 15“ hier zum letzten Mal: 2005 wurde sie ins Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper engagiert, drei Jahre später avancierte sie zur Halbsolistin, 2010 zur Solotänzeirn und im darauffolgenden Jahr zur Ersten Solistin. Auch der Erste Solotänzer Robert Gabdullin verlässt die Wiener Compagnie – er ist u.a. noch als heldenhaft-strahlender Conrad aus „Le Corsaire“ in bester Erinnerung. Halbsolistin Maria Tolstunova und die Coprs de ballet-Tänzerinnen Erika Kováčová und Anna Shepelyeva sind ab Herbst ebenso nicht mehr dabei wie aus der Volksoper Suzanne Kertész und Marie-Sarah Drugowitsch.   

 

 

 

dancearts Sommeraufführung 2021 im MuTh: „Ballettgala und Schwanensee-Suite“

$
0
0

dancearts Sommeraufführung 2021 im MuTh: „Ballettgala und Schwanensee-Suite“

Wie private Ballettinstitutionen die Pandemie überstanden haben, davon konnte man sich in der  „Ballettgala und Schwanensee-Suite“ im MuTh mit zwei Vorstellungen am 26.6. überzeugen, brachte doch dancearts ein beachtliches Programm (künstlerische Leitung: Boris Nebyla und Simona Noja-Nebyla) mit seinen Schülerinnen und Schülern auf die Bühne – eine Woche zuvor gab es bereits zwei Vorstellungen mit diesem ambitionierten Programm im Kultur Kongress Zentrum in Eisenstadt. In den vergangenen  herausfordernden Monaten haben sich  im Noja-Nebyla Stage Education Pilot Project Ballettstudierende aus 8 Ländern beteiligt – und das Ergebnis der Leistungen dieser jungen Tänzerinnen wurden an diesem Abend vorgestellt. 

Nach einer Präsentation des Könnens von den Kleinsten bis zu den Großen folgte dann als „Schwanensee-Suite“ eine durch Shoko Nejime angepasste Version des berühmten Klassikers, ausgerichtet auf die vielen Mädchen der Ballettschule – gezeigt wurden der 2. und der 3. Akt.  In der 14.00 Uhr-Matinee gefiel Elsa Prinz als Odette; sehr beachtlich Miyu Kitabatake als Odile. Als sorgsamer Partner für die beiden jungen Tänzerinnen gastierte Mihail Sosnovschi als edler Prinz Siegfried. 

Ira Werbowsky

WIEN / Theater an der Wien: ARMIDA

$
0
0

armida plakat 2 x~1

WIEN / Theater an der Wien:
ARMIDA von Antonio Salieri
Konzertante Aufführung 
29.
Juli 2021

„Amadeus“ von Peter Shaffer ist ein so gutes Stück, weil es Wolfgang Amadeus Mozart nicht als Götterjüngling, sondern als schrägen Wildfang darstellt (der er vielleicht gewesen ist). Aber eigentlich befasst sich der britische Autor mit Antonio Salieri (1750-1825), der als italienischer Waisenjunge nach Wien kam und hier eine außerordentliche Karriere machte. Er war so umfassend ausgebildet und so begabt, dass er im „Musikmanagement“ der Stadt eine ebenso große Rolle spielte wie als Komponist in vielen Sparten und als Lehrer einer Unzahl berühmt gewordener Schüler. Wahrscheinlich war er Kaiser Joseph II. sogar lieber als der lästige junge Mozart, und doch… vielleicht war dieser Mozart wirklich, wie Peter Shaffer annimmt, der Stachel im Fleisch des Antonio Salieri. Denn gerade, weil er am allerbesten wusste, was Qualität ist, musste er auch erkennen, dass dem Rivalen aus Salzburg jener Götterfunken zuteil geworden war, der ihm fehlte. Und tatsächlich – was ist von Mozart geblieben? Fast alles. Was ist von Salieri geblieben? Fast nichts. Hielte sich nicht das Gerücht, er habe Mozart ermorden lassen, seit 220 Jahren, was wüsste man von Salieri?

Gelegentlich, ausnahmsweise wird er aufgeführt. Im Theater an der Wien nun konzertant mit seinem Frühwerk „Armida“, das 1771 (sein Schöpfer war 21 Jahre alt) im Burgtheater erstmals gespielt wurde. Noch einmal die berühmte Zauberin aus Tassos „Befreitem Jerusalem“, aber der Schritt aus der Opera Seria der Barockzeit heraus war schon getan. Man meint geradezu zu hören, wie Salieri die Erkenntnisse seines Lehrers und Kollegen Gluck (der sechs Jahre später auch eine „Armide“ schrieb) verinnerlicht hatte. Das ist Musik, die zwar noch von Zeit zu Zeit (aber nicht mehr überbordend) die Virtuosität der vergangenen Epoche bedient, aber quasi romantischer ist, weniger schematisch, stimmungsstark (wobei Salieri in Orchesterpassagen, wenn er die düstere Welt der Zauberin malt, in unseren Ohren besonders reüssiert).

Auch das Libretto von Marco Coltellini hat die „große Oper“, wie man sie von den Vorlagen des Metastasio gewöhnt war, abgeschüttelt. Fast ein Kammerspiel, vier Personen unter sich, allerdings mit einem wichtigen Chor, der wie Nymphen säuseln und wie Dämonen auftrumpfen muss.

aemida schlussapplaus die zwei~1

Christophe Rousset, der das Orchester Les Talens Lyriques, vor dem er nach wie vor steht, vor 20 Jahren gegründet hat, bringt dazu den 20köpfigen Le Chœur de Chambre de Namur mit nach Wien. Er selbst dirigiert mit Schwung, mit Begeisterung und als begnadeter Sängerbegleiter. Wenn trotz der relativ geringen Aufführungsdauer (zwei Stunden, 10 Minuten) das Werk gelegentlich durchhängt – dann lag es am Komponisten. Es ist (Vergleiche zu Rossini etwa darf man wirklich nicht ziehen) kein Meisterstück. Aber sehr interessant zum Kennenlernen.

Man würde es dramaturgisch verfahren nennen, wenn der erste Akt (über eine halbe Stunde) neben dem Chor nur zwei Nebenfiguren bringt, aber sie sind für die Handlung nötig. Der Kreuzritter Ubaldo sucht seinen verschwundenen, von der Zauberin Armida auf ihre Insel gebrachten Gefährten Rinaldo. Ismene, Armidas Vertraute, will Ubaldo zurück halten – aber der hat schon von seinem Komponisten viel Kraft mitbekommen.

Ab dem zweiten Akt dominieren Armida und Rinaldo – als Liebespaar. Dass er sich in sie verliebt hat, ist klar. Aber sie wollte ihn ja eigentlich nur aus dem Verkehr ziehen (Kreuzritter sind für ihr Reich gefährlich) – und jetzt liebt sie ihn leidenschaftlich. Das wird lange und schön besungen. Aber sie fürchtet auch zu Recht, dass er sie verlassen wird, wenn ihr Bann gebrochen wird. Davon handelt der Rest der Oper, wenn Rinaldo immer wieder zwischen Liebe (Armida) und Pflicht (Ubaldo) hin und her gerissen wird – und sich natürlich (Kreuzritter müssen das) für die Pflicht entscheidet. Das ergibt für Armida eine Schlußszene, in der sie Wut und Fluch überdimensional entfalten darf.

Zuerst also Ismene, die Israelin Hagar Sharvit mit ausdrucksvollem Mezzo, und Ubaldo, der britische Baßbariton Ashley Riches mit etwas dürrem Organ, aber bemerkenswerter Ausdruckskraft, die fehlendes „Unterfutter“ der Stimme kompensiert.

armida lenneke ruite xx~1Dann erscheinen zwei wunderhübsche junge Frauen auf der Bühne, sie sind einander sogar ähnlich, und manchmal klingen sie auch ähnlich… Aber immerhin, diejenige, die den langen rosa Rock trägt, ist Lenneke Ruiten als Armida, eine Partie mit mörderisch hoher Tessitura. Und sie klettert immer noch höher, und wenn sie es gemeinsam mit der Kollegin tut, schrillen die beiden gelegentlich schon gewaltig. Aber sie müssen sich ja mit Ausnahme weniger lyrischer Passagen dramatisch wirklich voll ins Zeug legen. Die Kanadierin Florie Valiquette als Rinaldo kann das auch, und es wundert nicht, wenn man im Programmheft ihr Repertoire liest, von Carmen bis Pamina, sie schwingt sich tatsächlich nur so durch die Oktaven. Der reich bedachte Chor schmiegt sich immer wieder bereichernd durch die Arien, Duette, Ensembles.

Am Ende gab es freundlichen Beifall, man war froh, das Werk kennen gelernt zu haben, wenn auch klar ist, dass es – wie der restliche Salieri – immer nur Raritätenprogramm sein wird und nie Repertoire. Wahrscheinlich hat Salieri selbst es gewusst, und Peter Shaffer hat in „Amadeus“ nur seine Gedanken gelesen…

Renate Wagner


STUTTGART/ Opernhaus: LIEDERABEND DIANA HALLER – mit stilistischem Gespür

$
0
0

Stuttgart

„Liederabend DIANA HALLER“ 28.6.2021 (Opernhaus) – mit stilistischem Gespür

STUTTGART/ Staatsoper/ Foyer: ERSTES LIEDKONZERT MIT DIANA HALLER UND  JOHANNES KAMMLEROnline Merker
Diana Haller. Foto: Matthias Baus

Bislang hat die vor rund 10 Jahren aus dem Opernstudio des Hauses hervorgegangene kroatische Mezzosopranistin Diana Haller als Vollblutsängerin – und schauspielerin jede ihrer Rollen vom Barock bis zur Spätromantik zu einem markanten Erlebnis gemacht. Die Verbindung ihres einprägsamen Chiaroscuro-Timbres mit einem enormen Registerumfang und spielerischer Einfühlsamkeit und Hingabe machte nun auch diesen Liederabend vor dem Eisernen Vorhang zur Bühne eines reichhaltigen Gestaltungsvokabulars.

In den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ von Mahler spannt sie die schmerzlichen Momente mit ihrer pastosen Ausdruckstiefe in feinen Bögen zu den glücklichen Abschnitten ineinander, lässt Freud und Leid wie z.B. zwischen „Ach wie ist die Welt so schön“ und „Weine um meinen Schatz“ innerhalb des Lieds „Wenn mein Schatz Hochzeit macht“ auf engstem Raum auch mimisch lebendig werden.

Für „5 ausgewählte Lieder op. 40“ von Schumann wählt sie einen passend schlichten Vortrag, indes im Gehalt der Aussage nicht weniger auf den Punkt gebracht, was sich da an Naturbetrachtung, rhythmisch bewegender Beobachtung der Erschießung eines Soldaten und Liebesverrat in wenigen komprimierten Minuten abspielt.

Eine ganz andere Welt dann im zweiten, zum Glück ohne Pause angeschlossenen zweiten Teil (aufgrund eines gewaltigen Gewittersturms mit Dach- und Wasserschäden hätte das Konzert abgebrochen werden müssen). Zuerst „3 Canciones clasicas espanolas“ des nur mit dieser Kunstform hervor getretenen Fernando Jaumandreu Obradors  (Barcelona 1897-1945). Von anfänglicher Wehmut, fast düsterem Charakter wandeln sich diese bis zur überschäumenden Lebensfreude. Diana Haller zeigt darin ihre gute Nuancierungsfähigkeit, unterstützt von ihren sauberen Tonansätzen in allen Lagen.

In noch gesteigerter, etwas gelockerter Weise taucht sie auch in „Poema en forma de 5 canciones“ (Ein Gedicht in Form von 5 Liedern) des bekannteren Joaquin Turina ein, lässt die spanische Sprache auf der Zunge zergehen und mischt raffiniert pathetischen Opernton mit fast volkstümlicher Leichtigkeit.

Noch eine Stufe höher kommt in der abschließenden „La regatta veneziana“ ihr Temperament zum Zuge. Als versierte Rossini-Interpretin sind die 3 Gondellieder, in denen Angelina ihrem Liebsten während eines Wettbewerbs Mut zuspricht, ihn anspornt, gar etwas drohend zum Sieg beschwört und ihn schließlich triumphierend feiert, ein Fest an technischer Bravour, auch wenn in einigen schnellen Läufen die Gesangslinie etwas verwischt. Viel wichtiger ist ohnehin, wie sie zwischen raschen Tempowechseln und Tonsprüngen bildhaft die Szene vor Augen führt.

Spätestens jetzt ist Solorepetitor Vlad Iftinca als Begleiter am Flügel zu erwähnen. Er hat sich mit flexibler Mitgestaltung, rhythmischer Genauigkeit und Unterstützung der Singstimme mehr als nur als Begleiter behauptet. Die Fähigkeit nicht nur den eigenen Part, die Korrektheit der Takte und Töne, sondern immer das Große Ganze im Blickfeld zu haben, zeugt wohl auch von seiner Erfahrung als Dirigent, die er nicht nur in Stuttgart bei Rossini-Opern bewiesen hat.

Zwei Zugaben waren fällig, zuerst die „Canzoletta espagnola“ von Rossini mit ihrem fast stupiden, drängend engförmigen Rhythmus, und zuletzt ein weiteres Kleinod von Turina brachten durch die hinreißend herzhafte Servierung die beständig gestiegene Stimmung vollends zum begeisterten Überschwall.

Nach diesen spanischen Exkursen wäre es naheliegend und viel versprechend, wenn sich Diana Haller mal dem Metier der Zarzuela widmen würde, zumal es dem Staatsopern-Repertoire gut täte in diese Richtung erweitert zu werden.

Udo Klebes

ZÜRICH/ Opernhaus: GALA-KONZERT DES INTERNATIONALEN OPERNSTUDIOS

$
0
0

Galakonzert Internationales Opernstudio, Opernhaus Zürich, Vorstellung: 27.06.2021

 (2. Vorstellung • Premiere am 25.06.2021)

 Es lebe die Jugend, die Jugend lebe hoch!

Internationales Opernstudio
Foto © Opernhaus Zürich

Dank der unerwartet vom Bundesrat beschlossenen, kurzfristig umgesetzten Lockerungen konnte das Gala-Konzert des Internationalen Opernstudios vor mehr als den 100 angenommenen Zuschauern stattfinden. Das Internationale Opernstudio wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Die Gründung war für ihre Zeit eine künstlerische Grosstat, Zürich war vorn mit dabei. Zu den Absolventen gehören so bekannte Sänger wie Dame Gwyneth Jones, Javier Camarena oder Benjamin Bernheim. Szenisch eingerichtet hat es der Leiter des IOS, Intendant Andreas Homoki. Für die musikalische Begleitung war das Zürcher Kammerorchester besorgt, das unter dem musikalischen Leiter des IOS Adrian Kelly leider zu laut und arg knallig, aber hochkonzentriert aufspielte.

Im ersten Beitrag, «Notte e giorno faticar/Fuggi, crudele, Fuggi» (Erster Akt, erste Szene aus Mozarts «Don Giovanni»), zeigten Andrew Moore als Leporello und Erica Petrocelli als Donna Anna grosse Spielfreude und beeindruckende Bühnenpräsenz. Xiaomeng Zhang war ein diskreter Don Giovanni, Oleg Davydov sang den Commendatore. Savelii Andreev komplettierte die Szene als Don Ottavio. Gutes Material mit Luft nach oben präsentierte Lina Dambrauskaité als Elisa in «Barbaro! oh Dio, mi vedi divisa dal mio ben» (Zweiter Akt, erste Szene aus Mozarts «Il re pastore»). Die Stimme klang noch unfrei und verkrampft und hatte zuviel Vibrato. Yannick Debus als Belcore und vor allem Andrei Skliarenko als Nemorino «La donna è un animale stravagante/Venti scudi» (Zweiter Akt, dritte Szene aus Donizettis «L’elisir d’amore»). Der Tenore di grazia und die enorme Musikalität von Skliarenkos erinnerten an Javier Camarena. Rossini-Gesang vom Allerfeinsten demonstrierten Luis Magallanes als Narciso, Vladyslav Tlushch als Prosdocimo und Ilya Altukhov als Geronio im Terzett «Un marito scimunito» (Erster Akt, No.5 Terzett aus Rossinis «Il turco in Italia»). Luca Bernard als Carlo präsentierte in «Linda! Si ritirò/ Se tanto in ira agl’uomini» (Zweiter Akt, vierte Szene aus Donizettis «Linda di Chamounix») einen herrlichen Tenor von grosser Strahlkraft und Höhensicherheit. «Qui, buon Antonio, qui soli/Quella pietà si provvida», interpretiert von Xiaomeng Zhang als Antonio und Brent Michael Smith als Il prefetto war der zweite Beitrag aus aus Donizettis «Linda di Chamounix» (Erster Akt, fünfte Szene). Mit dem von Ziyi Dai als Frasquita, Siena Licht Miller als Mercédès, Katia Ledoux als Carmen, Andrei Skliarenko Dancaïro und Savelii Andreev als Remendado stimmschön und lebendig dargebotenen Quintett «Nous avons en tête une affaire» aus Bizets «Carmen» (Zweiter Akt) endete der erste Teil des Abends.

Nach der Pause wurde mit «Come un’ ape ne’ giorni d’aprile» (Erster Akt, sechste Szene aus Rossinis «La Cenerentola») von Yuri Hadzetskyy als Dandini, Lina Dambrauskaité als Clorinda, Katia Ledoux als Tisbe, Luis Magallanes als Don Ramiro und Oleg Davydov als Don Magnifico wiederrum mustergültiger Rossini-Gesang dargeboten. In «Passeggiamo anche noi/Il core vi dono» (Zweiter Akt, fünfte Szene aus Mozats «Così fan tutte») präsentierten Siena Licht Miller als Dorabella und Andrew Moore als Guglielmo erneut ihr enormes szenisches und musikalisches Potential. Vladyslav Tlushch als Il Conte bot in «Hai già vinta la causa/Vedrò mentre io sospiro» (Dritter Akt, vierte Szene aus Mozarts Le nozze di Figaro) einen rundum souveränen Vortrag. Der nächste Beitrag, «Come sen va contento/Quanto amore» (Zweiter Akt, siebte Szene aus Donizettis «L’elisir d’amore») von Ziyi Dai als Adina und Ilya Altukhov als Dulcamara fiel auf Grund mangelnder Textverständlichkeit leider etwas ab. Brent Michael Smith als Arkel und Siena Licht Miller als Mélisande bewältigten «Maintenant que le père de Pelléas est sauvé» (Vierter Akt, zweite Szene aus Debussys «Pelléas et Mélisande»). Mit der ihr eigenen enormen Bühnenpräsenz und ihrer wunderbaren Stimme machte Katia Ledoux Saphos grosse Arie «O ma lyre immortelle» (Dritter Akt, fünfte Szene aus Sapho von Charles Gounod) zu einem weiteren Höhepunkt des Abends.

Vor dem Finale «Gente, gente, all’armi all’armi» aus Mozarts «Le nozze di Figaro» (Vierter Akt, letzte Szene), das alle Beteiligten nochmals auf der Bühne versammelte, wurde von Lina Dambrauskaité als Zerbinetta, Luis Magallanes als Brighella, Luca Bernard als Scaramuccio, Yannick Debus Harlekin und Oleg Davydov als Truffaldin «Die Dame gibt mit trübem Sinn sich allzusehr der Trauer hin» aus Richard Strauss «Ariadne auf Naxos». Gerade bei der Textverständlichkeit war hier noch Luft nach oben.

Es lebe die Jugend, die Jugend lebe hoch!

Keine weiteren Aufführungen.

29.06.2021, Jan Krobot/Zürich

MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: TRISTAN UND ISOLDE – Premiere der Neuinszenierung. Erste Eindrücke/Kurzbericht

$
0
0

MÜNCHEN/ Bayerische Staatsper: TRISTAN UND ISOLDE – erster Kurzbericht (29.6.2021)

Tristan und Isolde: Bayerische Staatsoper
Jonas Kaufmann, Anja Harteros. Foto: Wilfried Hösl/ Bayerische Staatsoper

Den meisten Beifall gab es Kirill Petrenko und das Orchester – großartig. Er dreht manchmal auf wie bei einem Konzert seiner Berliner. Unabhängig davon  Wiener und Dresdner besser. Trotzdem berührt es mich nicht so – individuell.

Bühne, Akt 1 und 2 harmlos, 3. Akt Verdoppelung Tristan, merkwürdig. Viele Kinder im 3. Akt sitzen an einem langen Tisch. Was das soll? Von Tristan und Isolde? Tristan und Isolde sitzen im 2. Akt jeder auf einem Sessel, strecken die Hände nacheinander aus, berühren sich aber nicht, da zu weit auseinander, oben läuft Film, Harteros geht viele Treppen hoch, dann einenlangen Gang, rechts und links Türen wie in einem Hotel. Sie geht in ein Zimmer, wirft Mantel über die Couch, legt sich aufs Bett, Kaufmann kommt irgendwann, legt sich daneben, zum Schluß kommt Wasser von unten, steigt an, nur mehr Wasser zu sehen.  Schlußbild Akt 3, beide liegen wieder im Bett und machen die Augen leicht auf und schauen sich an.  Natürlich viele Filme. Neue Marotte, ein kleines altes Männchen (Rosenkavalier Kutscher), hier Butler oder was auch immer. Für den Regisseur und sein Team gab es auch Buh-Rufe

Es ist für  Anja Harteros und Jonas Kaufman die erste Aufführung in der neuen, schweren Partie.  Dafür lief es  sehr gut, wenn etwas Routine dazu kommt, läuft es noch besser. Nur sollten sie nicht zu schnell zu oft das singen.

Anja Harteros: 1. Akt traumhaft, alle Spitzentöne, auch Forte, 2. Akt  klang anfangs etwas angestrengt. Duett beide gut, braucht es auch nicht so viel Kraft.  Berühren dürfen sie sich natürlich auch beim Liebestrank nicht. Gehen etwas auseinander, gehen zu Boden, stehen wieder auf. 2. Akt Strich offen.  Liebestrank ordentlich.

Jonas Kaufmann hält voll durch, nicht Sprechgesang. Merkwürdig die Standortäusche. Wechseln von Liege zum Tisch hin und her. Kaufmann legt sich auch auf den Tisch, bis er sich vor den Souffleurkasten legt, damit er gut alle Texte versteht.

Marke ein Frischling, Mika Kares gut, läßt hoffen auf künftige Partien,  ein Kopf größer als die große Harteros!

Wolfgang Koch gefiel mir am besten, ich bin sonst nicht sein Fan.

Am meisten Beifall bekam Okka von der Damerau – für mich völlig unverständlich. Kratzte am Anfang bei manchen Stellen (schlecht eingesungen?). Wenn bei den Leistungen von Harteros und Kaufmann in den großen Partien die  Brangäne am meisten Beifall bekommt, muß schon die Ludwig wieder auferstehen.

F.F.K

ZÜRICH/ Operhaus: LA SCINTILLA-KONZERT –„Eine kleine Nachtmusik“

$
0
0

La Scintilla-Konzert «Eine kleine Nachtmusik», Opernhaus Zürich, Konzert: 29.06.2021

 

Eine ganz grosse Nachtmusik

La Scintilla Zürich: In Italien gibt es jetzt acht Jahreszeiten
Foto © Opernhaus Zürich

Unter Leitung von Konzertmeisterin Hanna Weinmeister beendet das Orchestra La Scintilla die Saison unter dem Titel «Eine kleine Nachtmusik» mit einem Konzert mit Divertimenti und Serenaden von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und Joseph Haydn (1732-1809). Die Begriffe Cassation, Divertimento, Notturno und Serenade wurden und werden nicht immer trennscharf eingesetzt, beschreiben aber grundsätzlich unbeschwerte, charmante, häufig im Freien aufgeführte, gehobene festliche Unterhaltungsmusik bürgerlicher und höfischer Kreise. Die Stücke umfassen bis zu sieben Einzelsätze für orchestrale Besetzung.

Mozarts «Divertimento D-Dur, KV 136 (1. Allegro – 2. Andante – 3. Presto)» entstand 1772 nach der Italienreise, in deren Rahmen seine Oper «Lucio Silla» (KV 135) uraufgeführt wurde. Mozart brachte hier zu Papier, was er auf der Reise in sich aufgesogen hatte. Haydns «Cassatio (Divertimento) G-Dur, Hob. II: 2 (1. Scherzo – 2. Allegro moderato – 3. Menuett – 4. Adagio – 5. Menuett – 6. Finale)» hat Haydn spätestens im Jahr 1754 komponiert. Der Beginn des ersten Satzes ist möglicherweise von einem slawischen Trinklied abgeleitet. Über die Entstehung des Begriffs Kassation ist sich die Wissenschaft einig. Wird „Kassation“ als Synonym für ein Divertimento oder ein Notturno, das im Freien aufgeführt wurde, betrachtet, ist die Herleitung vom küchenlateinischen «gassatim», «in der Gasse», durchaus plausibel. Mozarts «Serenade D-Dur (Serenata notturna), KV 239 (1. Marcia, Maestoso – 2. Menuetto, Trio – 3. Rondo, Allegretto)» entstand im Januar 1776. Mit dem Einsatz von Pauken ist sie keine klassische Serenade; die Musik ist vom Modell des barocken «Concerto grosso» geprägt und lebt vom Einsatz der Streicherhauptgruppe mit der Pauke und des Kammerorchester (zwei Violinen, Viola und Kontrabass.

Haydns «Violinkonzert G-Dur, Hob. VIIa: 4 (1. Allegro moderato – 2. Adagio – 3. Allegro)» entstand vermutlich Anfang der 1760er-Jahre und erschien 1769 im Druck. Der Solo-Part erinnert stark an die Opernarien jener Zeit. Mozart stellte seine «Serenade für Streicher Nr. 13 (Eine kleine Nachtmusik), KV 525 (1. Allegro – 2. Romance, Andante – 3. Menuetto, Allegretto, Trio – 4. Rondo, Allegro)» am 10. August 1787, als mitten in der Arbeit an «Don Giovanni» (KV 527), fertig. Entstehung, Anlass, Auftraggeber und Uraufführung des Werkes sind nicht belegt, so dass Spekulationen Tür und Tor geöffnet sind.

Das Orchestra La Scintilla hat den Lockdown bestens überstanden und begeisterte durch eine ausserordentlich lebendige Spielfreude und einen wunderbar herben Klang. Hoch konzentriert wurde musiziert und so waren die einzelnen Instrumente immer bestens herauszuhören und das Musizieren immer als Einheit wahrnehmbar. Der Solopart von Haydns Violin-Konzert war bei Hanna Weinmeister in besten Händen.

Mit dem Andante aus Mozarts «Cassation in G-Dur KV 63» als Zugabe endete ein grossartiger Abend.

Eine ganz grosse Nachtmusik!

30.06.2021, Jan Krobot/Zürich

STUTTGART/ Kammertheater: UN/TRUE von Gernot Grünewald und Thomas Taube. Uraufführung

$
0
0

Uraufführung „Un/true“ von Gernot Grünewald und Thomas Taube im Kammertheater am 29.6.2021/STUTTGART

Ein Netz aus Informationen

stz
Elias Krischke. Foto: Björn Klein

 Anhand eines Netzes von verschiedenen Informationen hinterfragen Gernot Grünewald und Thomas Taube hier Thesen und Widersprüche in unserer Wahrnehmung. Die Zuschauer werden aufgefordert, aktiv mitzumachen und sind mit Kopfhörern und Laptops ausgestattet. Ganz zu Beginn muss man im Foyer Fragebögen ausfüllen, bei denen das Thema „Elite“ in facettenreicher Weise angesprochen wird. Inwieweit werden wir von einer abgehobenen oberen Klasse beherrscht und manipuliert? Allerdings muss das Publikum auch genau den Anweisungen der Regie folgen. Michael Köpkes virtuelles Bühnenbild sowie die Kostüme von Barbara Kiss und Natalie Nazemi unterstreichen die konzentrierten Intentionen in Grünewalds Inszenierung, die sich zwischen Block-Kabinen und Schreibtischen sehr stark auf Video-Installationen konzentriert (Videokünstler: Thomas Taube; Kamera: Jochen Gehrung, Daniel Keller). Auch die Musik von Daniel Sapir trägt zu diesem suggestiven Eindruck bei. Die Schauspieler Therese Dörr, Katharina Hauter, Elias Krischke, Christina Schlögl, Peer Oscar Musinowski und Sebastian Röhrle leiten die 16 Zuschauer dabei präzis an, den Handlungsanweisungen des Computers zu folgen, was nicht immer einfach ist. Man kommt dabei zu dem Schluss, dass es durchaus im Wesen der Wissenschaft liegt, zu irren.  Die Erkenntnisse von Forschern über das Weltbild müssen deswegen revidiert werden. Mit Hilfe von Zeitungsartikeln wird unsere gesamte Existenz hinterfragt.

Es geht jedoch bei dieser Inszenierung auch um Verschwörungstheorien im Rahmen der Corona-Pandemie, die den Menschen insgesamt zu schaffen machen. Dabei wird zudem über deren Gefährlichkeit nachgedacht, weil sie sich in den Köpfen der Menschen festsetzen und sie nicht mehr loslassen. Die Zuschauer sind bei dieser Vorstellung also gleich mehrfach gefordert. So kommt es auch zu der ultimativen Frage, inwieweit man ein komplexes Weltbild in dieser permanenten Unsicherheit überhaupt ertragen kann. Wem darf man eigentlich Glauben schenken? Diese Frage steht dabei sehr zentral im Raum und bleibt in vielfacher Weise immer unbeantwortet. Selbst Verschwörungsglauben und ein versteckter Antisemitismus werden angesprochen. Psychologische Motive werden gleichsam hinterfragt – und man erhält zudem stellenweise Anweisungen, wie man auch im digitalen Raum den Verschwörungsmythen vorbeugen kann. Die Frage, wie man die Wirklichkeit denn konstruieren soll, bleibt aber selbst in der anschließenden Diskussion unbeantwortet. Es ist zuweilen ein stark dokumentarisches Kopf-Theater, das den Zuschauer überfällt. Aber die gesamte Konzeption regt natürlich auch zum intensiven Nachdenken an. Aus vielfältigen Materialsammlungen werden einzelne Elemente des Videowalks zusammengesetzt. Figuren, Sprechtexte, Erlebnisräume und kleine „Selbstexperimente“ fügen sich zu einem vielfältigen visuellen Mosaik zusammen, wobei sich die Zuschauer immer wieder in die Kabinen begeben oder an den Tischen Platz nehmen müssen. Dieser virtuelle Abend spürt jedenfalls der Frage nach, was wahr und was unwahr ist. Dies gilt ebenso für die verzweifelte Suche nach dem imaginären Punkt, der sich nicht beherrschen lässt. Man ist der Willkür des Computers hilflos ausgeliefert. Aus dieser Ohnmacht heraus agieren die Zuschauer, die sich in diesem seltsamen Kabinett nicht immer zurechtfinden. Die Unterteilung von „Gut“ und „Böse“ wird dabei gleichsam aufgehoben. Man relativiert den Blick auf die apokalyptische Weltsicht gleich in mehrfacher Hinsicht. Und es kommt auch zu intensiven Begegnungen zwischen Zuschauern und Schauspielern, die sonst im Theater selten möglich sind. 

Alexander Walther

Viewing all 11208 articles
Browse latest View live


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>