Quantcast
Channel: KRITIKEN – Online Merker
Viewing all 11208 articles
Browse latest View live

ZÜRICH/Opernhaus: 3. LA SCINTILLA-KONZERT: A NIGHT AT THE OPERA-PIT

$
0
0
  1. La Scintilla-Konzert: A night at the opera-pit • Opernhaus Zürich • 07.03.2022

«Eine Nacht am Orchestergraben»

Das 3. Konzert des Orchestra La Scintilla versammelt unter dem Titel «Eine Nacht am Orchestergraben» (so die Übersetzung im Programmheft) Gelegenheits-Werke von Komponisten, die durch ihre Opern bekannt sind. Bei Verdi, Wagner und Puccini ist das der Fall. Händel ist im protestantischen Zürich mindestens so sehr durch seine Oratorien bekannt. Hasse kennen wohl nur die Fans und Spezialisten.

scg
Mahan Esfahani: Foto © Petra Hajská

Der Abend beginnt mit der Sinfonia op. 3, Nr. 3 in D-Dur von Johann Adolf Hasse (1699-1783), die der Komponist dann auch als Ouvertüre zu seiner Oper «Cleofide» (1731 in Dresden uraufgeführt) verwendete. Dieses Werk, als Einleitung zu einer Oper, im Italienischen «sinfonia» genannt, steht für den Beginn der Geschichte der Symphonie als eigener Gattung. Die Orchesterfassung von Giuseppe Verdis (1813-1901) Streichquartett in e-Moll führt das Publikum dann in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entstanden ist das Werk 1873 in Neapel. Mit den Satzbezeichnungen «Scherzo» und «Fuga», aber auch stilistisch, nimmt Verdi Bezug auf die Wiener Klassik. Die Aufführung in grosser Besetzung geht auf Arturo Toscanini und das für ihn gegründete NBC Symphony Orchestra, vielleicht sogar auf Verdi selbst zurück. Georg Friedrich Händels (1685-1759) Orgelkonzert op. 4, Nr. 4 in F-Dur mit Mahan Esfahani als Solist (über den Typ der Orgel schweigt sich das Programmheft leider aus) setzt den Schlusspunkt im ersten Teil. Händels Orgelkonzerte haben keine liturgische oder religiöse Bedeutung: sie entstanden ab 1735, nachdem auch Händels zweite Akademie gescheitert war, als Zwischenaktmusiken zu den Oratorien, in denen Händel seine neue (erfolgreiche) Berufung gefunden hat.

Giacomo Puccinis (1858-1924) «Crisantemi» leitet den zweiten Teil des Abends ein. Der kurze Einzelsatz für Streichquartett, der schon zu Lebzeiten des Komponisten auch in orchestrierten Fassungen aufgeführt wurde, entstand 1890 aus Anlass des Todes (daher die titelgebenden Trauerblumen) von Amadeo Ferdinando di Savoia, dem zweiten Sohn des ersten italienischen Königs Vittorio Emanuele II (kein Tippfehler, aber das ist eine andere Geschichte…). Gegen Ende des Satzes sind jene Wendungen zu erahnen, die Puccini in seiner «Manon Lescaut» (1893) wieder aufgreifen sollte. Richard Wagners «Siegfried-Idyll» (uraufgeführt am 25. Dezember 1870) in Orchesterfassung bildet den Abschluss des Abends. Mit diesem sich auf die Liebe von Brünnhilde und Siegfried wie auch seinen ersten Sohn Siegfried beziehenden «Dank in Tönen», hoffte Wagner auf ein eigenes Idyll mit der noch bis 1869 mit Hans von Bülow verheirateten Cosima, die er am 25. August 1870 in Luzern ehelichte.

Während die Werke des ersten Konzert-Teils zweifelsfrei zum Repertoire des Orchestra La Scintilla passen, erschliesst sich die Programmierung des zweiten Teils nur bedingt. Die Stücke passen sicher zum Titel des Abends. Die Wirkung historischer Instrumente aber ist marginal, da die Komponisten bei ihrer Konzeption «moderne» Orchester im Ohr gehabt haben dürften.

Das Orchestra La Scintilla unter seinem künstlerischen Leiter Riccardo Minasi musiziert den Abend mit viel Spielfreude und Leidenschaft. Mahan Esfahani überzeugt im Orgelkonzert mit grosser Virtuosität.

4. La Scintilla-Konzert «Johann Christian Bach» am 4. April 2022

08.03.2022, Jan Krobot/Zürich


WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

$
0
0
salome 1

Jennifer Holloway (Salome). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: SALOME von Richard Strauss

248. Aufführung in dieser Inszenierung

7. März 2022

Von Manfred A. Schmid

Als 1905 die Salome 1905 in Dresden uraufgeführt wurde, entwickelte Sigmund Freud in Wien die Grundzüge seiner Psychoanalyse, in der er die sexuellen Neurosen der gehobenen Wiener Gesellschaft aufdeckte. Gustav Mahler, der bei der Dresdener Uraufführung dabei war, wollte das Werk sofort in Wien auf die Bühne bringen, was aber von der Zensur nicht gestattet wurde. Zu treffsicher war wohl die Analyse einer dekadenten Welt ausgefallen, die Oscar Wilde in seinem Drama auf die Bühne gebracht hatte und die als Grundlage für die Strauss-Oper diente. Die Entscheidung von Boleslaw Barlog seine Wiener Salome-Inszenierung 1972 in einem betörend schönen, überladenen Jugendstilambiente von Jürgen Rose stattfinden zu lassen, ist also durchaus angebracht und unterstreicht die überhitzte, sinnliche, erotisch aufgeladene, schwirrende Atmosphäre, die hier –  vor allem auch in der Musik von Richard Strauss – meisterhaft eingefangen ist. Die Mode, die Handlung einer Oper in der Zeit ihrer Entstehung zu versetzen: Hier ist sie am Platz und eine sinnvolle Möglichkeit und gut umgesetzt.

Thomas Guggeis, der an der Staatsoper eben erst mit Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt erfolgreich debütiert hat, liefert mit seiner musikalischen Leitung einen eindrucksvollen weiteren Beleg dafür, dass von diesem jungen Dirigenten noch viel zu erwarten ist. Guggeis zeigt auf, wie revolutionär die Musik von Richard Strauss ist und lässt erahnen, wie sehr sie damals – als weit geöffentes Tor zur Moderne – das Publikum fasziniert und schockiert haben muss. Guggeis lässt clusterartige Klangballungen und schroffe Dissonanzen in aller Härte knallen und keine Zweifel daran, dass hier neben dem Jugendstil auch schon der Expressonismus eines Egon Schiele mit seinen Verrenkungen eine musikalische Entsprechung gefunden hat. Das wäre allerdings auch ein Argument dafür, dass sich das üppige Bühnenbild letztlich wohl etwas zu lieblich ausnimmt.

Das mit Spannung erwartete Hausdebüt von Jennifer Holloway in der Titelpartie ist überaus positiv zu bewerten. Der amerikanischen Sängerin kommt dabei wohl zugute, dass sie ursprünglich als Mezzo begonnen hatte und sich erst später zur Sopranistin entwickeln sollte. Die fordernde Rolle, ihr enormer Tonumfang, bereiten ihr keinerlei Schwierigkeiten. Auch darstellerisch überzeugt sie mit ihrer in einer unmöglichen Situation eingezwängten Jugendlichkeit. Da ist zum einen der lüsterne Stiefvater, der sie dauernd geil-sabbernd anstarrt, und zum anderen ihre promiskuitive Mutter. Kein Wunder also, das sie in dieser dysfunktionalen Welt zu einer dysfunktionalen Frau wird, die eine erotische Obsession zum asketischen lebenden Jochanan entwickelt. Die lange Szene, in der sie das Haupt des Propheten auf der Silberschale umkreist, sich ihm nähert und dann wieder entfernt, um ihn schließlich innig auf den Mund zu küssen, ist an Intensität kaum zu übertreffen und schwer zu ertragen. Der Schleiertanz gehört dafür nicht zu den Pluspunkten ihrer Performance, und in zwei, drei Passagen, in denen das Orchester wie entfesselt aufspielen muss, wirkt ihre Stimme vielleicht (noch?) eine Spur zu klein für die große Wiener Bühne.

salome 2

John Lundgren (Jochanaan).

Jochanaan kommt in dieser Oper nicht besonders gut weg. Er ist keine biblische Lichtgestalt, sondern – laut Richard Strauss – in dieser Ansammlung perverser Gestalten „der perverseste der ganzen Gesellschaft“. Eine dunkle, düstere Erscheinung also, und in Barlogs Inszenierung bedrohlich schwarz gekleidet. Dazu kommt, dass er aus der Tiefe eines Brunnens, in dem er als Gefangener gehalten wird, zu singen hat. Mit diesen Handikaps kommt der Bayreuth-erprobte dramatische Bariton John Lundgren bei seinem Hausdebüt allerdings gut zurecht und ist ein solider, mit starker Stimme etwas eintönig mahnender, misogyner Prophet, dessen Kritik vor allem der Lebensführung der Herodias gilt. Der schwedische Bariton genießt einen guten Ruf als Sängerdarsteller. Im Mai wird John Lundgren als Wotan im Wiener Ring zu erleben sein.

Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist ein eindrucksvoll lüsterner Herodes. Stets auf der Lauer und dennoch schonungslos offen in seiner Obsession für Salome. Ein wortdeutlich singender, heller Charaktertenor, der den Herodes nicht zur Karikatur verkommen lässt, sondern als völlig unmoralisch Despoten darstellt, der bereit ist, alle Grenzen der Vernunfthinter sich zu lassen und seiner Stieftochter sein halbes Reich verspricht, nur damit sie vor ihm – für ihn – tanzt. Sein Bekenntnis, dass er sie vielleicht zu sehr geliebt habe, ist erschreckend abgründig.

Auch die Mezzosopranistin Claudia Mahnke stellt als Herodias keine Karikatur auf die Bühne, reduziert sie nicht auf ein keifendes, verbittertes Weib, sondern zeigt sie als eine selbstbewusste, stolze Frau, die von ihrem abwechslungsreichen Liebesleben nicht lassen will, sondernes machtbewusst auslebt. Dazu passt ihr warmer, farbige Mezzo ausgezeichnet.

salome 3

Claudia Mahnke (Herodias) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Herodes).

Ensemblemitglied Daniel Jenz gelingt mit seinem hellen Tenor ein vortreffliches Rollendebüt als sterblich in Salome verknallter Narraboth, in den Nebenrollen, durchwegs mit Kräften aus dem Haus besetzt, ragen wie gewohnt Thomas Ebenstein als Erstere Jude, Wolfgang Bankl als Erster Soldat und erstmals Sergey Kaydalov als Erster Nazarener hervor. Margarete Plummer als Page ist eine starke Erscheinung als Page, der von Anfang an Unheil heraufziehen sieht und Narraboth vergeblich warnt.

Viel und heftiger Applaus für einen gesanglich ausgewogenen und von Thomas Guggeis fein dirigierten Opernabend.

8.2.2022

 

FRANKFURT/ Oper: BIANCA E FALLIERO von Gioachino Rossini

$
0
0

FRANKFURT: BIANCA E FALLIERO von GIOACHINO ROSSINI
5.3. 2022 (
Werner Häußner)

bianj
Foto: Oper Frankfurt/ Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen. Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioachino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber zu den vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand daher noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz weist voraus auf die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt seiner Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung der lammermoorischen Lucia, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und um das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet.

Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert. Die Teile lassen sich zu Halbkreisen verbinden, die sich ineinander drehen können und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Werner Häußner

ZÜRICH/ Opernhaus: L’ITALIANA IN ALGERI (Rossini). Produktion Salzburger Festspiele

$
0
0

Gioacchino Rossini: L’italiana in Algeri • Opernhaus Zürich • Premiere: 06.03.2022

Eine Produktion der Salzburger Festspiele

Vollkommener Rossini-Genuss

Nach den Wiederaufnahmen von «Le Comte Ory» und «Il turco in Italia» gehen die Rossini-Festwochen am Opernhaus Zürich mit der Premiere der Salzburger Produktion von «L’italiana in Algeri» weiter. Der angekündigte «vollkommene Rossini-Genuss» ist weitgehend eingetroffen.

ita1
Foto © Monika Rittershaus

Die Premiere von «L’italiana in Algeri» (und die eben abgeschlossene Serie von «Il Turco in Italia») bietet die Möglichkeit die Konzeption der beiden Türken-Opern Rossinis (dazu mehr in einer der folgenden Kritiken) und zwei, soviel sei verraten, höchst gelungene, moderne Inszenierungen zu vergleichen (auch dazu mehr in einer der folgenden Kritiken).

Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier überzeugt, wie von diesen beiden Künstlern gewohnt, durch sorgfältige Arbeit, grosse Musikalität und beeindruckenden Ideenreichtum. Ihnen gelingt, was gerade bei komischen Oper so schwierig ist: sie gleiten nie ins Banale, Schenkelklopfende ab. Leiser und Caurier spielen virtuos mit den Klischees und siedeln die Handlung im Hafen des heutigen Algier an (Bühnenbild: Christian Fenouillat; Kostüme Agostino Cavalca). Es gibt viel zu sehen und zu hören: Die Oper beginnt dem Ruf des Muezzins, so wie Leiser und Cauriers Inszenierung des Grafen Ory mit dem Schrei des gallischen Hahns begann. Mustafà, ein Mafiaboss, der mit Schmuggel reich geworden ist, lebt mit seinen Getreuen im Hafen und geht dort und in den angrenzenden Gassen seinen Geschäften nach. Die Inszenierung zeigt Bilder, die wir alle aus dem Fernsehen kennen und grundsympathische Menschen auf der Bühne. Elvira, an der Mustafà das Interesse verloren hat, und Isabella, die auf einem Kamel auf die Bühne reitet und ihre grosse Kavatine «Per lui che adoro» («Ihn zu beglücken») in einer mit Schaum gefüllten Badewanne singt, sind starke Frauen. Mustafàs Ästhetik steht auf Augenhöhe mit dem Geschmack der bekannten Neureichen Potentaten des Nahen Ostens. Und die reiche Beute an Sklaven, die die Korsaren von Haly gemacht haben, ist eine italienische Fussballmannschaft. Ein Abend, der von der Menschlichkeit der Figuren auf der Bühne geprägt ist!

ita2

Foto © Monika Rittershaus

Cecilia Bartoli ist immer noch eine grossartige Isabella und echte Sing-Schauspielerin. Ihr Vortrag ist von grosse Flexibilität und in der Artikulation geprägt von Sauberkeit und Präzision: die Höhen wie die Koloraturen gelingen perfekt. Ildar Abdrazakov gibt mit kräftigem, sauber geführtem Bass einen höchst sympathischen, manchmal etwas lauten Mustafà. Abdrazakov setzt das Regiekonzept zu zeigen, wie Mustafà Opfer seiner Begierde wird, grossartig um. Nicht minder beeindruckend singt und spielt Nicola Alaimo den Taddeo, der Opfer seines unendlichen Selbstbewusstseins wird. Lawrence Brownlee als Lindoro ist stimmlich in grosser Form (sein Vibrato und seine enge Stimmführung bleiben Geschmacksache): die Höhen gelingen perfekt, die Koloraturen ebenso. Seine Bühnenpräsenz allerdings bleibt blass. Bassbariton Ilya Altukhov singt einen prächtigen Haly. Rebeca Olvera gibt ein stimmlich wie menschlich starke Elvira. Siena Licht Miller ergänzt das Ensemble als Zulma.

ita3
Foto © Monika Rittershaus

Der von Ernst Raffelsberger prächtig vorbereitete Chor der Oper Zürich überzeugt mit grandios differenziertem Wohlklang und überbordender Spielfreude. Ob als Bauchtänzer oder Fussballspieler, die Bühnenpräsenz ist umwerfend.

Das Orchestra La Scintilla unter Gianluca Capuano brilliert in jeder Beziehung. So prächtig hat das Orchester, haben die Bläser schon lange nicht mehr geklungen.

Ein Traum und, wie angekündigt, vollkommener Rossini-Genuss.

Weitere Aufführungen:

Di. 08. März, 19.30; Do. 10. März, 19.00; So. 13. März, 19.00; Di. 15. März, 19.00; Do. 17. März, 19.00; So. 20. März, 20.00; Fr. 25. März, 20.00; Do. 31. März, 20.00; Di. 05. April, 19.00.

08.03.2022, Jan Krobot/Zürich

Film: PARALLELE MÜTTER

$
0
0

film parallele mütter~1

Filmstart: 11. März 2022  
PARALLELE MÜTTER
Madres Paralelas  /  Spanien  /  2021 
Drehbuch und Regie: Pedro Almodóvar
Mit: Penélope Cruz, Milena Smit, Israel Elejalde, Aitana Sánchez-Gijón u.a.
Prädikat: Besonders wertvoll

„Parallele Mütter“ scheint alles andere als ein attraktiver Filmtitel, weil man sich eigentlich nichts darunter vorstellen kann, aber dennoch hat Pedro Almodovar mit diesem Film wieder einmal so richtig (gut und schön) zugeschlagen.

Im Großen betrachtet erzählt er Variationen der Mutterschaft und über Familienbande, über Frau-Frau- und Mann-Frau-Beziehungen, im Detail erlegt er seinen beiden Heldinnen ein herz- und nervenzerreißenes Schicksal mit ihren neu geborenen Babys auf. Hinterfragt Mutterliebe, „Stimme des Blutes“, menschlichen Anstand anstelle von Besitzgier. Alles geht gut aus. Der Frauenkenner.

In erster Linie geht es um Janis (von den Eltern einst nach Janis Joplin genannt, die jüngeren Leuten gar kein Begriff mehr ist). Sie ist eine erfolgreiche Karrierefrau, Fotografin, solo, an die 40 (und wir wollen nicht damit rechten, dass Darstellerin Penelope Cruz in zwei Jahren 50 wird, denn so wie sie aussieht, kann sie jede beliebige Zahl von Jahren abhandeln). Darum nimmt sie die Chance wahr, von ihrem neuen Liebhaber Arturo, der zwar verheiratet, aber ein ehrenwerter Mann ist, ein Kind zu bekommen.

Im Spital begegnet sie dann der dumpf-unglücklichen Ana, schwanger von „sie weiß nicht von wem“, beide kurz vor der Geburt, Janis voll Anteilnahme für die Jüngere. Dann bekommen sie quasi gleichzeitig ihre Töchter (und man erlebt die Geburtsschmerzen mit, für Frauen eine nicht unbedingt wünschenswerte Erinnerung, Männer wollen das wohl gar nicht sehen, aber Almodovar spielt es voll aus). Als sie mit ihren Kindern heimgehen – Janis kann sich Hilfe mit dem Kind kaufen, Ana hat ihre Mutter – tauschen sie Telefonnummern aus. Gemeinsames, paralleles Mutterschicksal verbindet.

parallele muetter die zwei est x

Es ist kein Spoiler, wenn man es verrät, denn genau wie Arturo weiß man beim ersten Blick auf das kleine Mädchen von Janis, dass das einfach nicht das Kind von den beiden sein kann, denn die Gesichtszüge sind total südamerikanisch. Janis will es nicht wahrhaben, aber DNA-Tests kann man heute leicht einschicken und im Internet das Ergebnis zugestellt bekommen. Nein, Janis ist nicht die Mutter – trotzdem hält sie mit Sorge und Liebe an dem Kind fest.

Bis sie einer völlig veränderten Ana wieder begegnet, deren Baby den unerklärlichen plötzlichen Kindstod gestorben ist. Ein von Janis heimlich unternommener Test zeigt – „ihr“ Baby ist Anas Tochter… und ihr eigenes Kind ist tot.

Und nun könnte man sich einen schlechten Krimi vorstellen mit allen möglichen Handlungsvarianten, dabei gibt es für einen anständigen Menschen wie Janis nur einen Weg: die Wahrheit zu sagen und zu verzichten… Dass da nach menschlichen Komplikationen (sie und Ana sind sich auch sexuell nahe gekommen) doch ein Happy End daraus wird, das geradezu trieft – man würde es keinem anderen verziehen als Almodovar, der das ungemein souverän meistert.

Wobei die Verletzlichkeit und stille Tapferkeit, die Milena Smit als Ana zeigt, eine wichtige Säule des Films ist. Zudem führt der Autor / Regisseur –  lassen wir Vater Arturo beiseite, der sich tadellos benimmt – zwei weitere wichtige Handlungsstränge ein:

parallele mÜtter 12

Teresa (Aitana Sánchez Gijón)

Da ist Anas Mutter Teresa, eine Frau entre deux ages, wie man früher gesagt  hätte, Schauspielerin, die die Tochter mit ihren Problemen sitzen lässt, um einer Rolle nachzulaufen, die für ihre Karriere wichtig ist. Wie sie nie für die Mutterrolle getaugt hat, darf die atemberaubende Aitana Sánchez-Gijón in einem geradezu altmodischen Monolog erklären…

Und da ist auch noch Spaniens unbewältigte Vergangenheit, die bis zu tausendfachem Unrecht im Bürgerkrieg zurück reicht. Da leiden alte Frauen und ihre Töchter und Enkelinnen noch immer darunter, dass man den Großvater einst auf einer Wiese erschossen und verscharrt hat und man ihm nicht einmal ein ordentliches Grab geben konnte, für seine und die eigene Seelenruhe. Glücklicherweise ist Arturo (Israel Elejalde könnte die anständige Männerwelt nicht besser  und edler vertreten) forensischer Anthropologe, der imstande ist, mit einem Team Opas Leiche zu finden. Und noch einmal trieft es von der Leinwand – und es macht einem nichts aus…

parallele mÜtter 09

Janis (Penélope Cruz)

Es ist wieder einmal ein Film von Penelope Cruz. Almodovar reizt ihre Schönheit, ihre geradezu atemberaubende Präsenz, die vielfältigen Nuancen ihrer Schauspielkunst aus. Tatsächlich verwirklicht er mit ihrer Hilfe den Traum eines alten Mannes von der idealen Frau. Sie sieht immer und in jeder Situation gut aus. Sie ist freundlich und liebevoll, nicht nur zu Kindern und Frauen, sondern auch zu Männern. Sie ist nie egoistisch, immer ehrlich und hilfsbereit und voll Empathie gegenüber anderen Menschen und hält die Ehre und Zusammengehörigkeit der Familie hoch. Sie ist gut in ihrem Beruf, aber sie kocht auch oft und offenbar gern. Man wird sich schwer tun, ein solch ideales Exemplar im wirklichen Leben zu finden.
Andererseits, man wird doch noch träumen dürfen, zumal als über 70jähriger Regisseur? Darf er nicht eine Frau, die man im Leben nicht so leicht finden wird, als Idealbild wenigstens auf die Leinwand bringen?

Renate Wagner

parallele mütter4 xxxxx

MANNHEIM/ Nationaltheater: DAS NTM FÜR DEN FRIEDEN. Konzert und Lesung mit Spendenaktion Stay with UKRAINE

$
0
0

Mannheim / Nationaltheater: „DAS NTM FÜR DEN FRIEDEN“

Konzert und Lesung mit Spendenaktion
Stay with UKRAINE – 07. März 2022

irak
Irakli Kakhidze, Jänis Liepins, NTM-Orchester. Foto: Christian Kleiner

Weltweite Demonstrationen treiben Millionen von Menschen auf die Straßen um gegen Putins willkürliche Invasion in ein neutrales Land der Ukraine  zu demonstrieren so auch in Mannheim. Eine noch nie in dieser Formation gestartete Spendenaktion sammelte Güter und Geld so auch u.a. startete das Nationaltheater Mannheim eine lobenswerte großartige Sammelaktion auf dem Theatervorplatz mit Hilfsgütern, Medikamenten etc., ein Lastwagen fuhr bereits am Samstag in Richtung Rzeszow im südöstlichen Polen, der Heimatstadt des NTM-Ensemble-Mitglieds und Bassbaritons Bartosz Urbanowicz, welcher zuweilen noch mit den Musikzentren Krakau, Breslau und Posen zusammenarbeitet. Seine Heimatstadt liegt ca. 100 km von der ukrainischen Grenze entfernt, dort wurde ein Sammeldepot für Hilfsgüter eingerichtet und direkt per Transporter in die Ukraine befördert. Am Sonntag startete bereits der zweite 7,5-Tonner mit Fahrern und Helfern des Nationaltheaters in Richtung Polen.

Zu dieser bewundernswert-humanen Spendenaktion engagierte sich das NTM in sehr kurzer Zeit zu einem Benefizkonzert mit freiem Eintritt und der Bitte um Spenden. Ein sehr emotionaler Abend, alle Sparten des NTM übergreifend wurde mit der heroischen ukrainischen „National-Hymne“ vom Orchester des NTM unter der Leitung von Jänis Liepins musiziert, eröffnet.

Julia Faylenbogen, Serhii Moskalchuk sowie der Kinderchor des NTM (A. C. Kober) sangen a cappella jeweils ein „Ukrainisches Volkslied“.

Zur Begrüßung formierten sich alle Intendant*innen des Hauses, äußerten sich betroffen über die katastrophale Kriegs-Situation, brachten jedoch ebenso ihren Dank zum Ausdruck über die Hilfsbereitschaft der Mannheimer, dass die Spendenaktion inzwischen € 80.000 erbrachte und baten um weitere Unterstützung. Lesungen und Zitate des Literaten Serhij Zhadan wurden von Jessica Higgins, Patrick Schnicke, optische Beiträge von Katharina Breier, Uwe Topmann rezitiert und schließlich verschlug des dem Tanz-Intendanten Stephan Thoss plötzlich die Sprache und nach kurzer Stille meinte er Sie sehen – mir fehlen die Worte,  fanden beim Publikum berührt-betroffenen Widerhall.

Im „Konzert für den Frieden“ folgten nach  rezitierten Beiträgen weitere musikalische Glanzpunkte: Mitreißend voll intensiver Elastizität musizierte das NTM-Orchester unter der Stabführung von Jänis Liepins zu den Arien und Ensembles. Vortrefflich in detaillierter Intonation formierte sich der Chor des NTM zur Klage Patria opressa aus „Macbeth“ (Giuseppe Verdi), in tenoralem Höhenglanz ließ Irakli Kakhidze  die tröstliche Arie O figli, o figli miei des Macduff folgen. Mit wohlproportioniertem profundem Bass sang der junge Serhii Moskalchuk ebenso aus Macbeth die ahnungsvolle Arie des Banco. Auf breitem Atem ausschwingend sang Thomas Berau Die zwei blauen Augen von Gustav Mahler. Markant-baritonal bestach Bartosz Urbanowicz mit der tieftraurigen Ballade „Der Kosak“ von Stanislaw Moniuszko.

Großartig in der Höhe, fein im Piani, golden in der Mittellage stellte sich ein neues Ensemble-Mitglied die Sopranistin Viktorija Kaminskaite mit der bewegenden Arie der „Madama Butterfly“ (Puccini) vor. Von Rührung bereits zuvor übermannt sang Julia Faylenbogen das Agnus Die aus „Missa Luminosa“ der hochemotionalen Vertonung von Alexander Rodin aus dem Jahre 2009 und einstigen Studienkollegen der Sängerin aus Odessa, und brach im finalen Applaus in Tränen aus. Das waren Momente welche auch im Publikum nicht spurlos versiegten. Mit seinem Prachtbariton intonierte Evez Abdulla auf vorzügliche Weise die Arie des „Nabucco“ (Verdi) und in glanzvoll transparenter Klangschönheit setzte der Opernchor mit Va, pensiero der Hebräer-Klage den bewegenden Finalpunkt des Abends.

Das Publikum dankte stehend applaudierend allen Mitwirkenden.

Liebe Leser bitte spenden auch Sie: Mannheim hilft ohne Grenzen e.V.

IBAN: DE23 6709 0000 0095 9221 04  VR Bank Rhein Neckar eG

Verwendungszweck: UKRAINE

VIELEN DANK.

Gerhard Hoffmann

STUTTGART/ Staatsoper: BORIS – Wiederaufnahme – es bleibt ein problematisches Projekt

$
0
0

Staatsoper Stuttgart

„BORIS“ 5.3.2022 (Wiederaufnahme) – es bleibt ein problematisches Projekt

18181 stutt boris hpk 0804 c matthias baus
Von der Geschichte verfolgt: Adam Palka als Boris. Copyright: Matthias Baus/ Staatsoper

Es war die letzte Premiere vor Beginn der Corona Pandemie, die mit vier Folgevorstellungen noch planmäßig über die Bühne gehen konnte. Jetzt wurde dieses nach wie vor als problematisch einzuschätzende Projekt einer Verzahnung bzw. Ergänzung von Modest Mussorgkys renommiertestem Bühnenwerk mit einer neuen Komposition namens „SECOND HAND ZEIT“ von Sergej Newskj wieder aufgenommen. Die historische Geschichte des zum Zaren aufgestiegenen und an seiner Schuld durch die Ermordung des rechtmäßigen Thronfolgers zerbrechenden Bojaren Boris Godunow wird in Bezug gesetzt zu sechs ausgewählten Geschichten der weißrussischen Autorin Svetlana Alexijewitsch, die die Erinnerung verschiedener neuzeitlicher Einzelschicksale aus dem Volk nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herauf beschwören. In Form von melodramatischen monologischen Sprechgesängen und gesprochenen Teilen auf Zwölftonmusik-Clustern  dringen diese von Solisten der Mussorgsky-Oper parallel übernommenen Stimmen aus Mittel- und Seitenlogen in den Raum, um sich am Ende nach Boris Tod zu einem simultanen Ensemble zu vereinigen. Je mehr sie nicht nur als Intermezzo, sondern in die Szenen der Oper zwängen und sich nach Boris Tod wie eine Geschichtserweiterung anhängen, um so mehr erweist sich Newskjs Werk als eigenständiges Opus, das den ohnehin starken Mussorgsky unnötig konterkariert und aufbläht.

Der Gesamteindruck ist nichtsdestotrotz erhebend und von enormem Anspruch an Ausführende und Publikum. Die konzentrierte Regie von Paul Georg Dittrich im mittels Drehbühne schnell verwandelbaren Bühnenraum von Joki Tewes und  Jana Findeklee, in dessen Zentrum ein kronenförmiges einem Pavillon ähnliches Riesengehäuse symbolischen Charakter bekommt, verortet das Geschehen mittels der historische Stile aufgreifenden Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmid in einem Konglomerat aus Vergangenheit und Gegenwart. Nur die im oberen Bühnenbereich am Dach des Pavillons eingeblendeten, ständig wechselnden Bilder russischer Geschichte sind zumindest in den intimeren Szenen ein überflüssiger Unruhe- und Störfaktor.

Rollengemäß überragend präsentiert Adam Palka seinen seriösen, in jeder expressiven Nuancierung wohltönend weichen und doch imponierend mächtigen Bass mit auffallend sicher verankertem Höhenregister in Verbindung mit starker szenischer Präsenz und der Fähigkeit zur Verinnerlichung eines gespaltenen Charakters. Von den Gegenspielern gibt David Steffens bei seinem Debut als Chronik schreibender Mönch Pimen Zeugnis seines beständig an Kraft und Interpretation gewinnenden Basses, dem nur für das russische Fach noch etwas dunklere Farben gut anstünden.

Maxim Paster, für den erkrankten Stefan Margita kurzfristig aus Warschau eingeflogen, wo er in eine aus aktuellem Anlass abgesetzten Boris-Produktion eingeplant war, stattet den intriganten Fürsten Schujski mit rollengerecht zwielichtig zwischen Sein- und Schein- Verlautbarungen wechselndem feinem Tenor und damit einher gehender mimisch-gestischer Prägnanz aus. Als falscher Grigorj bringt Elmar Gilbertsson seinen leichten, klangschönen, lyrisch grundierten Tenor ein, als jüdischer Partisan bei Newskj bezeugt er auch bissfesteren Ausdruck. Seine Alter Ego als Kind und alter Mann sind Ramina Abdulla-zadé und Urban Malmberg.

Zu den anhand ihrer Doppelfunktion in beiden Stücken ebenfalls erweitert geforderten Solisten gehören Alexandra Urquiola als Fjodor und Aktivistin mit dunkel glänzendem Mezzo, Kyriaki Sirlantzi als Xenia und Geflüchtete mit bis in die Extreme bei Newski klar ansprechendem beseeltem Sopran, Stine Marie Fischer als Schenkwirtin und Frau des Kollaborateurs mit hier bis in die Tiefen mühelos dringendem Alt sowie Petr Nekoranec, der als Gottesnarr und Obdachloser mit belcantistisch fein intonierendem Tenor herzbewegend zu klagen weiß. Bedauerlich ist der als Ensemblemitglied geführte junge Tscheche derzeit so wenig am Haus eingesetzt, obwohl ihm das aktuelle Repertoire einiges bieten würde.

Ein starkes, aus der Fülle seines Baßbaritons schöpfendes Portrait liefert Friedemann Röhlig als angeheitertet Mönch Warlaam, assistiert von Alberto Robert als Missail. Zu erwähnen sind noch weitere Mitglieder des Opernstudios wie Jorge Ruvalcaba als Schtschelkalow und Gerard Farreras als Mikititsch.

Dass diese Wiederaufnahme-Vorstellung überhaupt stattfinden konnte ist der Ukrainerin Christina Daletska zu verdanken – eine Expertin für die Interpretation Neuer Musik, die nach dem Ausfall von Maria Theresa Ullrich neben der Übernahme der Amme innerhalb von drei Tagen die Rolle der Mutter des Selbstmörders einstudierte und dabei mit ihrem klangvollen Mezzo über die reine Tonwiedergabe hinaus viel Anteilnahme mitschwingen lässt. Den szenischen Part gestaltete Veronika Schäfer. Opernintendant Viktor Schoner hatte also erneut guten Grund eine Ansage zu machen, um auf diese Umstände hinzuweisen, aber auch nach einem kurzen Gespräch mit Sergej Newski vor dem Vorhang um eine Schweigeminute für die Kriegsopfer in der Ukraine zu bitten.

Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Manuel Pujol) erfüllte die großen Volksszenen unterstützt durch eine meist rampennahe Position mit jener inbrünstig durchdringenden Klangfülle und Ausdrucks-Bandbreite zwischen Lobeshymnen und Wehklagen, die mit russischen Volksmassen in Verbindung gebracht werden. Einige Damen ersetzten den Part des Kinderchores, der ohne Masken immer noch nicht wieder für Veranstaltungen zugelassen ist. Premierendirigent Titus Engel führte das diesmal in den Holzbläsern mit einigen Unebenheiten behaftete Staatsorchester Stuttgart  mit beweglichem Ausgleich zwischen expressiven Klangballungen und fast zerbrechlichem Tongewebe.

Mächtiger Applaus!

   Udo Klebes

 

 

WIEN / Staatsoper: Solistenkonzert LISETTE OROPESA

$
0
0
oropesa1

Rubén Fernández Aguirre und LIstte Oropesa. Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Solistenkonzert LISETTE OROPESA

9. März 2022

Von Manfred A. Schmid

An der MET debütierte sie, an der Seite von Erwin Schrott, im Alter von 22 Jahren als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro: Der fulminanter Beginn einer internationalen Karriere. An die Wiener Staatsoper kam Lisette Oropesa relativ spät, als Konstanze in der Premierenbesetzung von Mozarts Die Entführung aus dem Serail im Oktober 2020. Am kommenden Samstag wird die amerikanische Sopranistin in der vieldiskutierten Neuenfels-Inszenierung, eine etwas in die Jahre gekommene Ikone des zeitgenössischen Regietheaters, erneut zu erleben sein. Vier Tage davor stellt sie sich dem Wiener Publikum mit einem Liedprogramm vor, das eine große Spannweite aufweist und von selten zu hörenden Canzone von Saverio Mercadante über das deutsche Lied und das französische Chanson bis zu funkelnden spanischen Canciónes reicht.

Saverio Mercadante war nach dem Rückzug von Rossini, Donizetti und Bellini der maßgebliche Opernkomponist Italiens und gilt als Vorbereiter des Opernstils den jungen Verdi, von dem er allerdings bald in den Schatten gestellt worden war. Aus seinem Liedschaffen gelingt es einigen Stücken gelegentlich in Konzertprogramme aufgenommen zu werden. Mit zwei seiner Canzone, „La stella“ (Der Stern) und „La Primavera“ (Der Frühling) eröffnet Oropesa den Abend. Romantische Lieder, die schon auf Mercadantes berühmtesten Schüler Paolo Tosti verweisen.

Franz Schubert folgt mit „Vedi quanto adopro ancora ingrato!“, eigentlich kein Lied, sondern eine Arie für Sopran und Klavier, die vor allem durch eine exzellente Einspielung durch Cecilia Bartoli bekannt geworden ist. Eine flammende Liebeserklärung, die in Oropesas inniger Gestaltung ebenso zum Erblühen gebracht wird wie die anschließende dargebotene „Suleika“, nach einem Text von Marianne von Willemer. Eine schwärmerische h-Moll-Melodie, bei der Rubén Fernández Aguirre, ihr Begleiter am Klavier, in der fließenden Bewegung seines Parts versonnen zu schwelgen scheint.

Um Weltschmerz, Abschied nehmen und Entsagung geht es in Robert Schumanns Zyklus 12 Gedichte op. 35 nach Texten von Justinus Kerner. Oropesa gelingt es, mit ihrem schlanken, flexiblen Sopran die in den von ihr ausgewählten Liedern beschworenen Stimmungen und Bilder einfühlsam auszuloten. Zudem besticht sie, wie auch schon bei Schubert, mit großer Wortdeutlichkeit. Der Verträumtheit im Lied „Sehnsucht nach der Waldgegend“ Ausdruck zu verleihen, die ruhige Trauer in „Stille Liebe“ und „Stille Tränen“ fassbar zu machen, darin liegen ihre großen Stärken.

oropesa2

Bevor es in die Pause geht, widmet sich Lisette Orpesa dem französischen Chanson, eingeleitet durch ein elegantes Klaviersolo ihres musikalischen Partners Fernández Aguirre mit „XV improvisation: Hommage à Edith Piaf“ von Francis Poulenc. Es folgen je drei Lieder von Gabriel Faure und Georges Bizet. Faures Musik ist gekennzeichnet von Ruhe, Gelassenheit und heitere Eleganz. Gefühlsausbrüche, Weltschmerz, romantische Verzückung sind ihm fremd. „Clair de lune“, nach einem Gedicht von Paul Verlaine, wird demgemäß von Oropesa höchst anmutig und ohne jedwede Effekthascherei interpretiert. Georges Bizet dann einmal nicht mit Arien aus Carmen, sondern als Liedschaffenden kennenzulernen, ist eine willkommene Gelegenheit, für die man der Sängerin dankbar ist. Immerhin sind im Internet gut 30 Lieder aus der Feder Bizets namentlich angeführt. Die drei vorgetragenen Lieder repräsentieren die Eigenschaften des französischen Kunstliedtypus jedenfalls vorzüglich: prägnante Form, melodischer Erfindungsreichtum, exotischer Orientalismus.

Nach der Pause widmet sich die als Tochter kubanischer Einwanderer in Lousiana geborene Sängerin mit spürbarer Leidenschaft und temperamentvoll den Klängen ihrer hispanischen Herkunft. Die im Klavierpart fein gestalteten „Cuatro madirigales amatorios“ von Joaquin Rodrigo, die vertrauten „Siete canciones polulares espanolas“ von Manuel de Falla und je zwei Lieder von Joaquin Nin und Gonzalo Roig bieten in der Interpretation durch Lisette Opresa und Rubén Fernández Aguirre ein Feuerwerk an zündenden Melodien und Rhythmen. Zu einem fesselnden Höhepunkt gerät dabei De Fallas rhapsodisches „Jota“. Ein Ereignis Rubén Fernández Aguirre am Klavier: nuancenreich, farbintensiv, fantasievoll ausdeutend, energetisch.

 

Frenetischer Applaus, begeisterte Brava-Rufe. Und am Schluss der Zugaben gibt es mit „Morgen“ von Richard Strauss noch ein unerwartetes, beglückendes, innig vorgetragenes, von unendlicher Ruhe erfülltes Abschiedsgeschenk.


ZÜRICH/ Opernhaus: MACBETH – Wiederaufnahme. Eine superbe Ensemble-Leistung

$
0
0

Giuseppe Verdi: Macbeth • Opernhaus Zürich • Wiederaufnahme: 09.03.2022

Superbe Ensemble-Leistung

Über Barrie Koskys «Macbeth»-Inszenierung (Bühnenbild und Lichtgestaltung Klaus Grünberg; Kostüme Klaus Bruns), die kürzlich in Wien gezeigt wurde, gibt es nichts zu berichten, was nicht schon mehrfach berichtet worden wäre. Der reduzierte Bühnenraum stellt dem Ensemble höchste Anforderungen, die an diesem Abend bestens erfüllt werden.

mac
Foto © Monika Rittershaus

Als Macbeth feiert George Petean einen grossen Erfolg und wird verdient vom Publikum begeistert gefeiert. Sein Bariton strömt frei mit schier endlosem Atem und es stehen ihm alle Schattierungen zu Verfügung. Musikalisch liegt ihm diese Rolle deutlich mehr als der Simon Boccanegra, Alfio oder Tonio, mit denen er in dieser Saison bisher in Zürich zu hören war. Mit höchster Intensität und Glaubwürdigkeit setzt Petean die seiner Rolle vom Regiekonzept verordneten psychischen Belastungen um. Für die Wiederaufnahme hat Ildar Abdrazakov die Rolle des Banco übernommen. Mit seinem herrlich dunklen Bass harmoniert er perfekt mit dem Macbeth Peteans. Auch seine Stimme strömt frei mit kaum enden wollendem Atem. Eine veritable Sensation ist Veronika Dzhioeva als Lady Macbeth. Ihr farbenreicher, stilsicher geführter Sopran füllt mühelos das Zürcher Haus (und würde das wohl auch bei weit grösseren Häusern tun), hat sonore Tiefen wie ein Mezzo, eine sichere Mittellage und strahlende Höhen. Ihre Bühnenpräsenz ist schlicht überragend. Dzhioeva übernimmt auch die beiden Vorstellungen, für die Anna Netrebko angesetzt war und nun nicht singen wird, und ist damit ein Beispiel für einen differenzierten Umgang mit «russischen» Künstlern. Dzhioeva stammt aus Südossetien das völkerrechtlich ein Teil Georgiens ist, sich aber seit 2008 mit Hilfe russischer Truppen der Kontrolle der Zentralmacht in Tiflis entzieht. Omer Kobiljak liegt der Macduff wesentlich besser in der Kehle als der Tebaldo oder Gabriele Adorno, mit denen er in der laufenden Saison in Zürich zu hören war. Sein Tenor blüht wunderbar jugendliche, sattem Klang auf. Bożena Bujnicka als Kammerfrau der Lady Macbeth, Alejandro Del Angel als Malcolm, Alexander Fritze als Arzt und Andrew Moore als Diener Macbeths und Mörder ergänzen das superbe Ensemble.

Der Chor der Oper Zürich (Choreinstudierung Ernst Raffelsberger) agiert an diesem Abend im Dunkel der Bühne, Mitglieder des Statistenvereins am Opernhaus Zürich begleiten, praktisch unbekleidet, das Geschehen pantomimisch. Einmal mehr begeistert der Chor mit präzisen Abstufungen, sattem Klang und wunderbarem Brio.

Ganz wesentlichen Anteil am Gelingen des Abends hat die Philharmonia Zürich unter der musikalischen Leitung von Nicola Luisotti. Noch vor Beginn der Oper ist zu sehen, wie Orchester und Dirigent sich verstehen und mit Beginn der Oper findet diese Harmonie dann in perfektem Verdi-Klang ihren musikalischen Ausdruck. Luisotti hatten das Geschehen im Graben immer souverän im Griff und erweist sich in Zusammenarbeit mit der Bühne als perfekter Dirigent alter Schule, der die Solisten auf Händen durch den Abend tragt.

Ein superbe Ensemble-Leistung!

Weitere Aufführung: Fr. 18. März, 19.00; So. 20. März, 13.00; Mi. 23. März, 19.00; Sa. 26. März, 20.00; Di. 29. März, 19.00; Fr. 01. April, 19.30.

10.03.2022, Jan Krobot/Zürich

WIEN/ Staatsoper/ Mahler-Saal: „DIE WEISEN EINER LIEBENDEN“– Uraufführung dreier Lieder aus dem Zyklus von Andri Joel Harison, gesungen von Anna Nekhames

$
0
0

Zur Uraufführung von Andri Joël Harison an der Wiener Staatsoper | Sa, 5.3.2022 im Gustav Mahler-Saal

Die Uraufführung der ersten drei Lieder des Liederzyklus „Die Weisen einer Liebenden“ nach eigenen Gedichten für Sopran und Klavier war für den Komponisten und die Sängerin ein außerordentlicher Erfolg und ebenso eine außergewöhnliche Bereicherung für das Opernstudio des Hauses.

and
Andri Joël Harison. Copyright: Harison

Beim Wort „Lied“ könnte vielleicht der eine oder andere Zuhörer etwas Einfacheres erwartet haben, als das, was Andri Joël Harison in seine Komposition gelegt hat.
Jedes Lied ist eine eigene Welt für sich – man wird entführt in eine Welt voller Schönheit und Wohlklang, in einen romantischen und zugleich wahrhaftigen Stil, der womöglich auch einen Einblick in die Persönlichkeit des Komponisten gibt.

„Seligkeit“, so lautet der Titel des ersten Liedes, der spätestens nach der kurzen Introduktion am Klavier eine beseelte Atmosphäre in den Saal brachte, die die Sängerin bis zum Schluss des Liedes übernahm und sich zu eigen machte. Die zunächst einfach erscheinende Melodik der Gesangsstimme ist durchaus komplex gestaltet und spielt sich häufig in den hohen Regionen der Frauenstimme ab, die von der Sopranistin Anna Nekhames jedoch mit Leichtigkeit gesungen wurden, deren strahlendes Kleid die Ausdruckskraft ihres Gesanges auf unverwechselbare Art verstärkte. Trotz ihrer Koloraturfähigkeit, die im späteren Programm im Frühlingsstimmen-Walzer zu hören war – mit hohem f wohlgemerkt  – gab sie den Liedern einen lyrischen Grundcharakter, wodurch sie ihre Gestaltung mit Natürlichkeit bereichern konnte. Überraschenderweise war das Liedhafte an sich in diesem Lied kaum erkennbar, kommt Seligkeit doch eher den stimmlichen Ansprüchen einer Opernarie als einem Lied gleich. Besonders das Ende dieser „Liedarie“ und die signifikante melodische Ausprägung der Sopranstimme erinnern an die Opern von Richard Strauss.

Das zweite Lied „Tagträume“ vermittelt ein verträumtes Gleiten in den Tag, sanft bewegt und beinahe stillstehend wird der Hörer zu Beginn zum Tagträumen angeregt. Vom Komponisten am Klavier wurde äußerst feinfühlig musiziert bis ins leiseste Pianissimo. Es kommt einem vor, als hätte er ein Orchester in seinen Fingern. Es ist wohl ein Vorausgriff auf die sich in Entstehung befindende Orchesterfassung der Lieder. Auch der Klangteppich, der die Sängerin durch die Stücke trug, war von einer selten gehörten Transparenz geprägt. Dass Joël Harison das gesamte Konzertprogramm der Sängerin auswendig begleitet hat, sei dabei nur am Rande erwähnt. Die drei Strophen des Morgens, Mittags und Abends variieren lediglich im Tempo und sind jeweils melodische Kantilenen, die der Sopranistin ein herzvolles Singen ermöglicht haben.

Das dritte und letzte Lied „Liebesglück“ war sehr beschwingt und bildete ein gelungenes Kontrastprogramm zu den ersten beiden Liedern. Bis auf einige unerwartete harmonische Wendungen ist dieses Stück sehr tonal angelegt, dadurch gab es viel dynamische Möglichkeiten zur Interpretation, die beide geschickt für sich in Anspruch nahmen. Erst gegen Ende ließen das Tempo und die Dynamik stark nach, wodurch sich das Finale ankündigte, das von einem strahlenden Spitzenton gekrönt wurde. 

andr1
Andri Joël Harison, Anna Nekhames.Copyright: Alexander Besenböck

Anschließend gab es reichend Anerkennung für das harmonische Duo – die Sängerin Anna Nekhames und den Komponisten Andri Joël Harison am Klavier – durch hörbare Beifallsbekundungen des Publikums, das den Gustav Mahler-Saal zur Gänze gefüllt hatte.

Man darf gespannt sein, wie und wann der Liederzyklus „Die Weisen einer Liebenden“, den man als kleines Gesamtkunstwerk betrachten kann, das durchaus an bedeutende, gleichgesinnte Komponisten aus der Vergangenheit erinnert, fortgesetzt wird. Es wäre interessant zu sehen, ob der Komponist auch ein größeres Werk auf ähnlich detailreiche und klanglich intime Weise gestalten kann.

Insgesamt war diese Uraufführung ein bemerkenswerter, musikalischer Hochgenuss, der dem Publikum lange Zeit in Erinnerung bleiben wird.

Morgen (12.3.) Vormittag wird eines seiner Lieder in der Besetzung der Uraufführung um 10:05 Uhr in OE1 in der Sendung „Klassik-Treffpunkt“ (Der erste Jahrgang der Wiener Staatsoper, Moderation Albert Hosp) aus dem Klangforum des ORF Radiokulturhauses live zu hören sein.

Mag. Isolde Cupak

ZÜRICH/Opernhaus: L’ITALIANA IN ALGERI – ein Vergnügen, von dem man kaum genug bekommen kann

$
0
0

Gioacchino Rossini: L’italiana in Algeri • Opernhaus Zürich • Vorstellung: 10.03.2022

(3. Vorstellung • Premiere am 06.03.2022)

Ein Vergnügen, von dem man kaum genug bekommen kann

Die Inszenierungen von Moshe Leiser und Patrice Caurier gehören zu jenen Arbeiten, denen man sich problemlos mehrfach stellen kann, weil sie so sensibel, musikalisch und reichhaltig gearbeitet sind. Es gibt so viel zu realisieren und zu beobachten, dass ein Vorstellung kaum genügt.

lit
Foto © Monika Rittershaus

Moshe Leiser und Patrice Caurier (Inszenierung) arbeiten bei dieser «L’italiana in Algeri» sensibel mit den Klischees, die der Zuschauer mit Nordafrika verbindet, können diese aber auch brechen. Da wäre einmal der Ruf des Muezzins oder der Klang der lokalen Sprache, wenn sich die Bewohner der gezeigten Gasse durch Lindoros Kavatine „Languir per una bella“ gestört fühlen. Gebrochen wird das Klischee mit der Figur der Isabella, denn diese, die Haly mit den Seinen gefangen hat, wird nicht wie die Männer unter einem Tuch grob durch die Gasse gescheucht, sondern reitet unverschleiert und selbstbewusst auf einem Kamel auf die Bühne. Hier vergessen die Händler das ihnen zugeschriebene Klischee (Benachteiligung der Frauen) und werden, wenn sie die schöne Italienerin begaffen, wie schon Mustafà, Opfer ihrer Begierde. Christian Fenouillat (Bühnenbild) hat dazu die Front eines städtischen Hauses gestaltet, die ganz den Klischees entspricht: Fehlender Putz, kein Vorhang kommt zweimal vor, zahlreiche Satellitenschüsseln und im Erdgeschoss Geschäftslokale. Man beobachte nur einmal, wie liebevoll detailverliebt diese Läden eingerichtet sind. Die herrlichen Kostüme stammen von Agostino Cavalca. Isabella ist in ihrem roten Sommerkleid mit Blumenmuster und Strohhut ganz die «rassige» (Helvetismus für «attraktiv») Italienerin, während Taddeo mit kurzer Hose, offenem Hemd, Tennissocken, Sandalen und Bauchgurt ganz dem Klischee des unsensiblen Touristen entspricht. Das Fehlen eines Foto-Apparats oder einer Videokamera zeigt, dass mit Augenmass gearbeitet und nicht einfach aus dem Vollen geschöpft wurde.

Cecilia Bartolis Leistung als Isabella ist immer noch singulär. Die Stimme sitzt, ist wie eh und je perfekt geführt und bewundernswert gelenkig. Unerreicht ist ihre musikalische Gestaltung der Partie und die damit verbundene, intensive Bühnenpräsenz. Pietro Spagnoli, eben noch im Turco als Prosdocimo auf der Bühne, hat zum ersten Mal die Partie des Mustafà übernommen. Seine Stimme ist nicht ganz so gross und dunkel wie jene von Ildar Abdrazakov, was seiner Rollengestaltung zugutekommt. Spagnoli überzeugt mit der Wärme seiner Stimme, seinem grossen komödiantischen Talent und vor allem der intensiven Gestaltung jeder Phrase. Lawrence Brownlee als Lindoro bleibt Geschmacksache. Die Stimme ist höhensicher, die Tongebung an diesem Abend aber gepresst und gaumig und mit reichlich Vibrato geführt. Nicola Alaimo gibt den Taddeo mit elegant geführtem Bariton und brilliert schauspielerisch als Klischee-Tourist mit Bauchgurt und Ganzkörper-Sonnenbrand (Kompliment an die Maske!). Ilya Altukhov besingt als Haly prächtig die Frauen Italiens. Rebeca Olvera singt die Elvira mit leichtem, kräftigen Sopran. Trotz vollem Einsatz aller weiblichen Reize verliert sie Mustafà, bis er über seine eigene Begierde stolpert. Siena Licht Miller ergänzt das Ensemble als Zulma.

Herrlich anzusehen – und anzuhören – ist, mit welcher Spielfreude, man möchte fast sagen mit welchem Genuss, der Chor der Oper Zürich auf der Bühne agiert. Unterstützt vom Statistenverein am Opernhaus Zürich ist beeindruckend zu sehen, wie flexibel sie von der Bauchtänzerin zum Spieler der Squadra Azzurra werden.

Mit enormer Spritzigkeit, unerhörter Farbigkeit und leidenschaftlichem Spiel verleiht das Orchestra La Scintilla unter Leitung von Gianluca Capuano zahlreiche neue Facetten. Bravissimi!

Ein Vergnügen, von dem man kaum genug bekommen kann!

Weitere Aufführungen:

So. 13. März, 19.00; Di. 15. März, 19.00; Do. 17. März, 19.00; So. 20. März, 20.00; Fr. 25. März, 20.00; Do. 31. März, 20.00; Di. 05. April, 19.00.

11.03.2022, Jan Krobot/Zürich

ZÜRICH/ Opernhaus: Spendenkonzert für die Opfer des Kriegs in der Ukraine. «Wir dürfen uns nicht gegenseitig umbringen»

$
0
0

Spendenkonzert für die Opfer des Kriegs in der Ukraine • Opernhaus Zürich • 11.03.2022

«Wir dürfen uns nicht gegenseitig umbringen»

Nach dem, wie es Kollege Berzins beschreibt, «Netrebko-Wirbel», fand auch am Opernhaus Zürich ein Konzert für die Opfer des Kriegs in der Ukraine. Bei der Besprechung des Abends gilt es zwischen Ursache (Konzeption) und Wirkung (Anklang bei Publikum) zu unterscheiden.

zuio
Foto © Opernhaus Zürich

Bei Publikum war der Abend ein grosser Erfolg, gemessen am Applaus im Haus wie auch an den 180’000 Franken Spenden, die über den Ticketverkauf (50, 100, 200, 500 oder 1‘000 Franken pro Platz) zustande kamen. Das Opernhaus schreibt dazu: «Zum Dank für Ihre Spende beschenken wir Sie mit einem Konzert. Gespielt wird ein exklusiv für diesen Anlass entstandenes Programm: Als Zeichen der Verbundenheit mit der Ukraine werden ukrainische wie auch russische Künstler*innen des Opernhauses gemeinsam mit internationalen Solisten*innen, darunter Benjamin Bernheim, Thomas Hampson, Laurence Brownlee oder Rebeca Olvera, und Mitgliedern des Internationalen Opernstudios Arien und Lieder präsentieren. Alle Mitwirkenden haben spontan zugesagt und verzichten selbstverständlich auf ihre Gage». Es traten beim Konzert neben dem Orchestra La Scintilla und dem Ballett die Künstler auf, die gerade am Haus tätig waren. Die gesammelte Summe wird dem Schweizerischen Roten Kreuz überwiesen, das damit ganz direkt Hilfe in einer humanitären Notlage leistet. Als Beispiel, wie diese Hilfe aussehen könnte, führte Intendant Andreas Homoki aus, dass damit 700 «Erste-Hilfe-Rücksäcke», die jeweils die Versorgung dreier Patienten für 10 Tage ermöglichen, beschafft werden könnten.

Das Orchestra La Scintilla (Leitung und Solovioline Bartek Niziol) beginnt den Abend mit «Wir sind» von Yuri Shevchenko, einer Paraphrase der ukrainischen Nationalhymne für Solovioline und Streichorchester (2014) gefolgt von Sinfonia op. 3 no. 3 in D-Dur von Johann Adolf Hasse, die seit ihrer Komposition sowohl als Konzertstück wie auch als Ouvertüre zu seiner Oper «Cleofide» (1731) gespielt wird. Der Chor der Oper Zürich (Chorleitung: Ernst Raffelsberger; Klavier: Esteban Dominguez Gonzalo) beteiligt sich mit «Patria oppressa» aus Verdis Macbeth und den beiden wunderbar vorgetragenen ukrainischen Volksliedern «Schtschedryk» (Lidiya Filevych, Sopran, und Nazariy Sadivskyy, Tenor) und «Segne, meine Seele, den Herrn». Enrico Cacciari am Klavier begleitet Cheyne Davidson bei «Why do the nations so furiously rage together?» aus Händels «Messiah». Am Klavier von Anna Hauner begleitet tragen Rebeca Olvera, Sopran, Sarah Castle, Mezzosopran und Yannick Debus, Bariton, «Soave sia il vento» aus Mozarts «Cosi fan tutte» vor. Lawrence Brownlee begleitet von Marie-Eve Scarfone Spiritual «All night, all day». Mit zwei ukrainischen Liedern endet der erste Teil: «Die Mondnacht ist so hell und klar» (Valeriy Murga, Bariton und Anna Hauner, Klavier) und «Ich gehe durch den Garten» (Ilya Altukhov, Bass-Bariton, und Alina Shevchenko, Klavier). Altukhov wendet sich als einziger der beteiligten Künstler ans Publikum: «In meinen Adern fliesst russisches, weissrussisches, ukrainische und kasachisches Blut. Wir dürfen uns nicht gegenseitig umbringen!» Das Publikum erhebt sich.

Der zweite Teil beginnt mit grosser Oper: Benjamin Bernheim und George Petean (am Klavier Andrea Del Bianco) reissen mit «Dio, che nell’alma infondere amor» aus Verdis «Don Carlo» das Publikum zu einem Begeisterungssturm hin. Laura Aikin trägt Dmitri Schostakowitschs «Gamajun, der Kündevogel» (aus Sieben Lieder nach Texten von Alexander Blok, am Klavier Anna Hauner) vor, Thomas Hampson (Klavier Esteban Dominguez Gonzalo) Gustav Mahlers «Lied des Verfolgten im Turm». Sandra Hamaoui (Klavier Marie-Eve Scarfone) «Adieu notre petite table» Jules Massenets aus «Manon». Nun folgt, neben den ukrainischen Kompositionen, der wohl passendste Beitrag des Abends: Pietro Spagnoli (am Klavier Enrico Cacciari) singt das italienische Partisanenlied «Bella Ciao» und gestaltetet dieses eindrücklich intensiv. Über «Nebo bezzoryane» (Vladislav Tlushch, am Klavier Alina Shevchenko), den Monolog des Bogdan aus der zum 300jährigen Jubiläum des Vertrags von Perejaslaw (nach ukrainischer Lesart ein Abkommen zweier unabhängiger Staaten, nach russischer Lesart die territoriale Angliederung des Kosakenstaates an das Zarenreich) entstandenen Oper «Bogdan Khmelnytsky» von Kostiantin Dankevych (1904-1985). Mit einem Lied zum Mitsingen, John Lennons «Imagine», endet das Konzert.

Dem Abend ist das Improvisierte deutlich anzumerken, dem Publikum hat er aber gefallen.

12.03.2022, Jan Krobot/Zürich

MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: „PETER GRIMES“ 1944/45. 2. Vorstellung. Einlasssungen von TTT

$
0
0

Bayerische Staatsoper „PETER GRIMES“ 1944/45 
von Benjamin Britten, Text Montagu Slater nach George Crabbe
Neuinszenierung, 2. Vorstellung 10. März 2022

 TTT Einlassungen: Pralle, morbide Wucht: Werkimmanenz in Assoziationsmontagen

Außerordentliches Musiktheater ohne Mätzchen: umsichtig, fundiert, zukunftsträchtig! Programmatik Serge Dornys (der neue Intendant) greift!

gri1
Foto: Wilfried Hösl

Während Nikolaus Bachler  (Intendant bis 2021, s. Buch „Sprache des Musiktheaters“) keine Programmatik verfolgte, lediglich populäre Regisseure holte (wobei einige Karieren auch von ihm „gemacht“ wurden), überwiegend historische Werke ins Repertoire nahm, hat Serge Dorny eklektisch seine Programmatik eingerichtet, beginnt seine Ära 2021/22 mit Schwerpunkt 20. Jhdt., hat nun einen Volltreffer gelandet.

„Die Bayerische Staatsoper gilt heute – national wie international – als „kulturelles Flaggschiff“ des Freistaats. In den letzten Jahren konnte sie ihren Rang unter den  führenden Musiktheatern der Welt weiter festigen und ausbauen.“ (Ministerium Wissenschaft und Kunst)

So spiegelt das bisherige Gesamt-Repertoire Traditionen überwiegend gängiger historischer Repertoire–Wiedergänger, mit derzeit  60 inszenierten Opern im Fundus. Aktuelleres ab 20. Jhrdt., heutige wichtige Klassik, verlangt Ergänzungen. Diesjährige Premieren-Schwerpunkte können das, führen die Bayer. Staatsoper aus historischem Archiv ins 21. Jahrhundert. Das dürfte weltweit  einmalig sein.

Die Gegenwärtigkeit der Kunst von Musiktheater wirkt, berührt aus der befeuernden Gegenwart und nicht aus unsubstantiierten Transformations – Missdeutungen (Dekonstruktionen) von wertvoll Etabliertem. 

Alle Premieren 2021/22

  • „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch
  • „Giuditta“ von Franz Lehár
  • „Das schlaue Füchslein“ von Leos Janácek
  • „Peter Grimes“ von Benjamin Britten
  • „L’infedeltà delusa“ von Joseph Haydn,
  • „Les Troyens“ von Hector Berlioz
  • „Bluthaus – Lamento della Ninfa, Il ballo delle ingrate“ von Georg Friedrich Haas, Händl   Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
  • „Koma – Il combattimento di Tancredi e Clorinda“ von Georg Friedrich Haas, Händl Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
  • „Thomas – Lamento d’Arianna“ von Georg Friedrich Haas, Händl Klaus mit Werken von Claudio Monteverdi
  • „Die Teufel von Loudun“ von Krzysztof Penderecki
  • „Capriccio“ von Richard Strauss

In dieser Strategie erscheinen also aktuellen Premieren sinnvoll, sogar nötig. Damit wird keineswegs der gesamte Spielplan bestritten, aber man hat immer Zugriff auf relevantes zeitorientiertes Musiktheater.

Das große Repertoire stellt sicher, dass in jeder Spielzeit Kompositionen aller Epochen aufgelegt werden können, mit z. T. „unkaputtbaren“ Inszenierungen, die vor  ca. 50 Jahren entstanden (z. B. Zauberflöte, Boheme), ewige Publikumserfolge sind.

Von „Peter Grimes“ gibt es in der laufenden Spielzeit nur noch 3 (von 5)  Aufführungen.

Musiktheater in dieser Qualität ist singulär: „ Leute geht auf die Barrikaden für weitere zeitnahe Aufführungen dieses sensationellen Bühnenereignisses!“

Die Aufführung hat tief beeindruckt – im Gegensatz zum Stream öffnen sich weite Kosmen. Vieles blieb beim Stream verkleistert, jenseits des vitalen Life – Erleben mit Bühnentotale und körperlich direkter Vereinnahme der Klanguniversen, öffnet weder optische noch akustisch unmittelbare Parallelwelten im „Hier und Jetzt“, wie es nur Theater kann.

Die Inszenierung im „Phantastischen Realismus“ (augenscheinlich reale Welten transformieren /  manifestieren sich in assoziativ montierten Phantasien (s. Eisenstein – Assoziationsmontage). Es verändern sich auf offener Szene Proportionen (z. B. das Einheitsbühnenbild als Halle mit Tonnendach lässt das Dach überproportional steigen, multipliziert seine Ausdehnung nach hinten, verändert also fortwährend vertikale und horizontale Dimensionen, wird zur weiten Halle oder „drückend“ niedrigen Hütte).

Zunächst Bühne auf der Bühne, eröffnet ein Raum Projektionsflächen zu  phantastisch realen Meereseindrücken, zum Ozean im Tosen und Wallen der Emotionen – alles in düsterer Anmutung, eins zu eins zur Musik – und noch Vieles mehr.

So schuf diese genial-funktionale Bühne wesentliche dramaturgische Momente, schuf Seelennahrung für den „Geneigten“: Proportionswechsel impliziert bizarr morbides Überhöhen einer zunächst realen Welt, die in phantastischen Realismus gleitet, in dem ständig Tiefmorbides zu optisch sphärischer Mystifizierung assoziiert.

gri2
gri3

Impressionen der Wandlungsfähigkeit des Einheitsbühnenbildes (leider schlechtes Bildschirmfoto) @ Wilfried Hösl

Im Digital-Stream „wehte lediglich ein laues Lüftchen“, erlebte man verzwergte Tragik statt tatsächlich praller morbider Wucht. Statt Verwandlungen großformatig zu zeigen, war vieles in Nahaufnahmen detailiert zu sehen, nur die großen Verwandlungen und assoziativen Manifestierungen fehlten.

Damit  transportierende Seelennahrung blieb für den Streamer unerreicht.

Mit der musikalischen Leitung von Edward Gardner, der Inszenierung durch Stefan Herheim im Bühnenbild von Silke Bauer, den Hauptpartien Stuart Skelton (P. Grimes), Rachel Willis-Sørensen  (Ellen Orford), Iain Paterson (Balstrode) und vielen Anderen eröffneten sich die Philosophien des Regisseurs in Gänze:

„Für mich ist bei jeder Inszenierung das Ziel, das musikalische Drama für die Ohren sichtbar, für die Augen hörbar und für Herz und Geist erlebbar zu machen.“ (Stefan Herheim. 3/2022)

Erstaunlicherweise hatte ich (TTT) einem Tag davor in der Reihe Vinylschätze im Online-Merker dazu von George Szell aus 1960 „Mit dem Herzen denken, mit dem Gehirn fühlen!“ notiert, genauso wie seit Jahren Sinngemäßes in den „Plädoyers für surreale Werkimmanenz“ und „Dramaturgischen Schriften“ im Online Merker. … und es gibt sie also doch, die Synchronizitäten.

So eröffneten sich in theatraler Wirklichkeit, jenseits der Verfremdungen durch digitale Übertragung, ganz andere Welten! Untiefen verkommener kollektiver Moral oder nur die Blicke auf unser aller Zusammenleben?

Der Rezensent aktivierte seinen „Lebensnerv in der Seelenachse“, tauchte mental ab:

https://onlinemerker.com/emotionale-intelligenz-lebensnerv-rueckgrat-zum-opernbesuch-aktivieren/

Kürzlich schon genutzte Qualifizierungen: solche Kraft, ungeheuchelte Fülle, immenses Gefühl der Tragödie.

Peter Grimes:  „Wer sich abseits stellt, der wird vernichtet“!

Schonungslos werden die psychosozial veranlassten schrägen Machenschaften einer bigotten Dorfgemeinschaft zum unangepassten, verarmten Gewaltmenschen seziert. Die Inszenierung folgt dem Libretto werkimmanent, nicht werktreu.

 „Wer sich abseits stellt, der wird vernichtet“ als zentrale Erkenntnis des Titelgebenden (Wesenskern: harte Schale, zarter Kern) ist Menschheits-Thema über Jahrtausende.

„Der Mensch ist des Menschen Wolf  (homo homini lupus)!“ s. Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.).

„Anpassung heißt Gratifikations – Optimierung!“ Soziologietheorem, 19. Jhdt.

 Allgemeine Redewendung: „Wer mit den großen Hunden pinkeln will, muss das Bein heben können!“

 Das alles beleuchtet die Ausgrenzung von Minderheiten, bzw. dass seriöse Inklusion bis heute lediglich frommer Wunsch geblieben ist. (s. auch: TTT Psychosoziales: Blackfacing … Inklusion –    https://onlinemerker.com/ttt-psychosoziales-blackfacing-dummer-august-schadenfreude-inklusion/  )

Üblicherweise käme z. B. bei Komponisten niemand im Feuilleton auf die Idee Heterosexualität zu betonen. Jetzt war Britten schwul, ganz normal schwul! 

Befremdlich Ausgrenzung dieses zufällig schwulen Komponisten findet in Publikationen statt (s. positiven Rassismus, Artikel s..o.), indem man dann sogar immer mal in die Handlung von Peter Grimes den möglichen Päderasten hineingeheimnissen will. Diesem Niveau vergleichbar wären Unterstellungen zu Heteros: Verdi, Wagner usw. könnten ja doch Vergewaltiger gewesen sein. Aber heterosexuelle Lebensorientierung ist halt nicht in der Minderheit. (Allein Homosexualität nur als sexuelle Orientierung  zu bezeichnen …)

Britten hat sicher seine Erfahrungen in einer Minderheit genutzt, Thema in „Peter Grimes“ ist aber s.o.,  nicht die dramaturgische Ausgrenzung eines homosexuellen Kinderschänders. Dazu eignet sich gegenwärtig ohnehin eher eine Betrachtung des Klerus als Päderasten im Mummenschanz.

Hier ist auch die einzige Unklarheit der Inszenierung: Warum steht oft ein Knabe in Unterwäsche auf der Bühne?

Exklusion/Ausgrenzung, auch nach „Peter Grimes“, ist wesentliches Kennzeichen humaner Gesellschaften. Gegenwärtige „Russisch-Phobie“ spricht Bände, Brandmarkung durch öffentliche Vorurteile, weil es derzeit einen „durchgeknallten“ mittelbaren Massen – und Kindermörder gibt, der als vormaliger Autokrat zu ertragen, mit dem zu kooperieren war – und der ist Russe.

Wer oder was nun auch nur an die Vokabel „russisch“ erinnert, steht offensichtlich bei Personen wie den „psychosozial veranlassten schrägen Machenschaften einer bigotten Dorfgemeinschaft“ unter Generalverdacht.

Das bedeutet allerdings nicht, das hier ein grundsätzlicher „Persilschein“ herbeigeredet wird. Personen der Öffentlichkeit, die sich im Kader des nunmehrigen „Menschen-/Kinder-Schlächters“ „gesonnt“ haben, sollten die Verpflichtung empfinden, sich zu den konkreten Taten solcher Unmenschen zu artikulieren. Tun sie das nicht, müssen Weiterungen, wie in manchen Fällen eingetreten, allgemeines Gedankengut sein.

Alle anderen Menschen und Umstände, mit lediglich semantischer Annäherung an den Begriff „russisch“ sind doch völlig in der Weltgemeinschaft gescheiter Menschen inkludiert, um Idioten ist es eigentlich nicht „schad“ – ein Bodensatz wird sich nie ändern. So ist die mangelhafte Inklusion im 21. Jhdt., auch schon von Britten aufgegriffen.

 Handlung s. Klassika:  https://www.klassika.info/Komponisten/Britten/Oper/033/index.html

Der  grobschlächtig Unangepasste mit zarten Kern gerät in einen ausweglosen Strudel, kämpft ums wirtschaftliche Überleben, um die Liebe einer Frau, greift aus Not auf Kinderarbeit mit desaströsem Ausgang zurück, verliert beim Kampf, auch um seine ökonomische Situation, gesellschaftliche Anerkennung und besiegelt damit sein Schicksal bis zur Selbsttötung. Das alles macht und machte Gesellschaft mit Individuen.

Britten hat in seinen Intentionen zu „Peter Grimes“ ein Wortspiel genutzt, Fels und Dreck: Dorfgemeinschaft behandelt einen Menschen wie Dreck (Grimes = Schmutz, Dreck). Der widersetzt sich wie Fels in der Brandung (Peter latein. Petrus, griechisch Pétros = Fels).

Britten: „Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich in engem Kontakt mit dem Meer. Das Haus meiner Eltern in Lowestoft blickte direkt auf die See, und zu den Erlebnissen meiner Kindheit gehörten die wilden Stürme, die oftmals Schiffe an unsere Küste warfen und ganze Strecken der benachbarten Klippen wegrissen. Als ich «Peter Grimes» schrieb, ging es mir darum, meinem Wissen um den ewigen Kampf der Männer und Frauen, die ihr Leben, ihren Lebensunterhalt dem Meer abtrotzten, Ausdruck zu verleihen – trotz aller Problematik, ein derart universelles Thema dramatisch darzustellen.“

Hören und  Sehen mündete in einer beglückenden Synthese, die puristische Urteile ausschloss:

Vier Orchesterzwischenspiele, als sinfonisches Eigenleben (Morgendämmerung, Sturm, Sonntagmorgen, Mondnacht) zart bis expressiv sind in den „Vinylschätzen 13“ im Online Merker veröffentlicht.

Häufige Rhythmuswechsel, Kombination unterschiedlichster Klangelemente, dämonische Kraft der Chören z. B. bei den Schlagwerken, klare Streicher, präsenten Bläser, Dezibel, die Singende nie abdecken, Pianissimo, Fortissimo, lebendige Gestaltung im Auf und Ab (Agogik), mir schien alles richtig im vitalen Gesamtwirken Aller. Wie schon zitiert: „musikalisches Drama für die Ohren sichtbar, für  Herz / Geist erlebbar  „Mit dem Herzen denken, mit dem Gehirn fühlen!“ Orchester,  Dirigent, Singende erfüllen den Anspruch  im Übermaß  – man geht melancholisch, emphatisch berührt und doch auch mit dem, was man altbacken „Erbauung“  nennt: andächtig  / versunken / besinnlich / ergriffen /angeregt / inspiriert!  DANKE!

Tim Theo Tinn, 12. März 2022

TTT ‘s Musiktheaterverständnis will keine Reduktion auf heutige Konsens – Realitäten, Yellow – Press (Revolverpresse) – Wirklichkeiten in Auflösung aller konkreten Umstände von Ort, Zeit und Handlung. Es geht um Parallelwelten, die einen neuen Blick auf unserer Welt werfen, um visionäre Utopien, die über der alltäglichen Wirklichkeit stehen – also surreal (sur la réalité) sind. Menschenbilder müssen im psychosozialen Sein belassen werden. Musikalisch determinierte Charaktere sind irreversibel. Neues soll geschaffen werden, aber expliziert Neues in allen Dimensionen, visuell, auditiv, dramatisch. Regietheater entstellt, wenn damit  Genial-Auditives und Worte der Bedeutungen enthoben, unstimmig werden, ist damit nicht neu sondern falsch. Irriges Ideengeplänkel eliminiert Gesamtkunstwerke.

Profil: 1,5 Jahrzehnte Festengagement Regie, Dramaturgie, Gesang, Schauspiel, auch international. Dann wirtsch./jurist. Tätigkeit, nun freiberuflich: Publizist, Inszenierung/Regie, Dramaturgie etc. Kernkompetenz: Eingrenzung feinstofflicher Elemente aus Archaischem, Metaphysik, Quantentheorie u. Fraktalem (Diskurs Natur/Kultur= Gegebenes/Gemachtes) für theatrale Arbeit. (Metaphysik befragt sinnlich Erfahrbares als philosophische Grundlage schlüssiger Gedanken. Quantenphysik öffnet Fakten zur Funktion des Universums, auch zu bisher Unfassbarem aus feinstofflichem Raum. Glaube, Liebe, Hoffnung könnten definiert werden). TTT kann man engagieren.

 

 

 

WIEN – NEW YORK / Die Met im Kino: ARIADNE AUF NAXOS

$
0
0

ariadne met
Fotos: Metopera

WIEN – NEW YORK / Die Met im Kino: 
ARIADNE AUF NAXOS von Richard Strauss
Kino-Übertragung: 12. März 2022

Die Übertragungen aus der Metropolitan Opera umfassen durchaus nicht nur Premieren, sondern auch Repertoirevorstellungen. Die „Ariadne auf Naxos“-Inszenierung von Elijah Moshinsky, der im Vorjahr als Covid-Opfer starb, stammt aus dem Jahre 1993. Man würde sie hierzulande vermutlich als “alten Hut” bezeichnen – aber wenn man sich grundlegend für eine historisierende Inszenierung entscheidet wie hier, dann altert sie höchstens in der Dekoration, nicht im grundlegenden Zugang.

Wie lange ist es her, dass man sich bei Ariadne nicht mit “Zimmer mit Klavier” oder “Flugzeughangar” abgeben musste, sondern einfach ins Barock plumpsen durfte, wo der reichste Mann von Wien sich in seinem barocken Palais eine barocke Oper mit klassischem Thema (Ariadne eben) bestellt und außerdem eine Commedia dell’arte Gruppe engagiert hat? Davon geht ja eigentlich auch das Textbuch von Hofmannsthal aus (und immer wieder wurde vermutet, mit dem “Komponisten” könnte der junge Mozart gemeint sein).

In dem Bühnenbild von Michael Yeargan, das im Vorspiel sehr kleinteilig ist, erzielt die Regie einige Übersichtlichkeit, was bei diesem “drunter und ddrüber”-Werk gar nicht so einfach ist. Die Oper selbst spielt eher unspektakulär in einer “Höhle”, die wenig mehr zu bieten hat als blauen Stoffhintergrund, der sich gelegentich öffnet. Die einzige wirkliche Idee besteht darin, dass man die drei Nymphen in (von ihren Kleidern verdeckte) Riesengerüste gesteckt hat, in denen sie bei ihren Auftritten herumgerollt warden. Immerhin hebt dergleichen das Geschehen hübsch in eine Märchenwelt. Mehr ist von der Inszenierung nicht zu berichten, außer dass sie den Vorteil hat, das Geschehen schnörkellos zu zeigen, statt davon abzulenken. Das passiert ja heutzutage auch nicht oft.

Als Wiener Opernbesucher interessiert man sich vordringlich für Besetzungen, und da stach der Name Lise Davidsen heraus, die erst kürzlich – offenbar wegen ihrer Riesenstimme – in Wien in “Peter Grimes” so viel Beachtung bekommen hat. Sicherlich haben wir da den Wagner-Star der nächsten Jahrzehnte vor uns. Wäre die 35jährige nicht Norwegerin, würde man – wie bei Nilsson und Stemme – von Schwedenstahl sprechen. Jedenfalls ist die Kraft dieses dramatischen Soprans überwältigend, und wie er strahlend aufblüht, das ist ein nicht allzu oft zu erlebendes Ereignis. Von “Totenreich” in der Tiefe bis “Hermes” in der Höhe hat sie in den Registern keine Schwierigkeiten. Es ist nur klar, dass sie lieber laut, sehr laut, statt piano singt – und wenn sie nächstes Jahr an der Met die Marschallin sein wird, muss sie ihr Material zu Mezzavoce und Parlando bändigen, sonst wird es nicht klappen. Aber man freut sich auf all die großen Wagner-Rollen, mit denen sie uns hoffentlich erfreuen wird. Darstellerisich war sie (beglückt jene Ariadne-Krone tragend, die schon die bewunderte Jessye Norman geziert hatte) bemüht, so viel hat die Dame ja nicht zu spielen, dass da über den Gesang hinaus eine große Leistung zu erwarten gewesen wäre.

ariadne zbd zerbinetta~1

Da hat die quirlige Zerbinetta mehr Möglichkeiten, und man hätte nicht gedacht, dass Brenda Rae (in einem echten Colombina-Kostüm) so viel aus der Rolle herausholen würde, als herzlich-liebenswürdige Darstellerin und als Sängerin, die jeden Ton ihrer Mörder-Arie traf. Die Gruberova ist tot, Reri Grist singt nicht mehr, wir haben die Besten gehört und sind dankbar für jene, die so gut mit der Partie zurecht kommen.

Nicht gänzlich überzeugend war (zumindest an diesem aus New York gesendeten Nachmittag, de runs traditionsgemäß am Samstagabend im Kino erreicht) Isabel Leonard als Komponist. Es war ihr Debut in dieser Rolle, überhaupt ihr erster Strauss, bevor sie nächstes Jahr der Octavian (mit Lise Davidsen) sein wird. Es ist nicht nur ihr Deutsch, an dem sie arbeiten muss. Von dem “rich Mezzo”, den Matthew Polenzani als Moderator pries, war nichts zu hören, das ist einfach eine Zwischenfach-Stimme, der die Mezzo-Farbe fehlt. Nun hat Strauss den Komponisten eher höher angelegt, aber permanent so schrill sollte er nicht ausfallen. Gespielt hat sie ihn sehr hübsch, der stolze Komponist, der schnell sehr kleinlaut und verzagt wird, aber dann die “heilige Kunst” doch aus ganzem Herzen preist. Überzeugender noch war allerdings Johannes Martin Kränzle als Musiklehrer, der eine Präsenz hatte, die nicht jeder in dieser Rolle erreicht.

Durchaus witzig der Auftritt von Wolfgang Brendel als Haushofmeister, der weniger den Hochmut, als die Boshaftigkeit eines Domestiken ausspielte, der anderen etwas antun kann. Mein Gott, dieser Mann war einmal Sachs und Holländer… sic transit Gloria mundi.

Und da ist noch die Mörder-Partie des Bacchus. Tatsächlich hat Brandon Jovanovich die Circe-Rufe mit geradezu unermüdlicher Kraft geschmettert. Und in der Folge hielt er bewundernswert und mit der Partnerin auf Augenhöhe durch. Wenn die beiden zum Finale dann  richtig, so mit voller Kraft loslegen – ja, als wir noch jung, ungestüm, frech und furchtlos waren, hätten wir gesagt: Zwei Brüllaffen. Nun, da wir gesetzt, gereift, ungemein seriös und ernsthaft sind und gelernt haben, jedes falsche Wort zu fürchten, sagt man bewundernd, wie selten es vorkommt, dass zwei Sänger dieser ungeheuren Dramatik gerecht werden, die Strauss in die Oper ab dem Auftritt von Bacchus hinein gelegt hat…

Früher bot die Met die Möglichkeit, sich das Programmheft aus dem Netz zu holen und damit die gesamte Besetzung. Diese Freude macht sie uns nicht mehr, damit fallen die Nebenrollen-Sänger brutal unter den Tisch.

Marek Janowski, bekanntlich vor allem von Wagnerianern geschätzt, hat auch noch mit über 80 die Spannkraft, sowohl die verspielte Detailfreude wie den großen, dramatischen, ja pathetischen Bogen der Strauss-Musik auszukosten. Das Met-Publikum zeigte sich sehr begeistert. Das Wiener Kino in der Landstraße war nicht einmal halb gefüllt.

Renate Wagner

LINZ/Landestheater: PARSIFAL – Premiere

$
0
0

Linz: „PARSIFAL“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 12. 03.2022

Bühnenweihfestspiel in drei Akten von Richard Wagner

pa04wagnerlukaslerner
Michael Wagner (Gurnemanz), Ralf Lukas (Amfortas) und Katherine Lerner (Kundry).Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Sie werden sehen, Wagner stirbt“, soll, laut Wagners Impresario Angelo Neumann, ein Herr Förster in Bayreuth nach der Uraufführung am 26. Juli 1882 gesagt haben, und: „Ein Mensch, der das geschaffen hat, was wir heute erlebt haben, kann nicht länger leben. Der ist fertig.“ Die düstere Prophezeiung sollte sich wenig mehr als ein halbes Jahr später erfüllen.

Eine gebürtige Linzerin soll dabei eine Rolle als Streitobjekt zwischen Cosima und Richard am 13. Februar 1883 gespielt haben – zufolge freilich sehr schlecht abgesicherter Gerüchte, die erst Jahrzehnte nach Wagners Tod in die Welt kamen. Verbrieft hingegen ist, daß diese Caroline „Carrie“ Mary Isabelle Pringle eines der Blumenmädchen bei der Uraufführung war, und daß sie am 19. März 1859, abends um ½ 8,  als Tochter eines in der Hauptstadt von „Österreich ob der Enns“ wohnenden Briten geboren wurde. Besagter Herr (Basil John Charles P.) wird im evangelischen Taufbuch als „Privatier“ angeführt; Mutter Isabella, née Latinovićš, stammte aus der ungarischen Hälfte des Habsburgerreiches. Bei der (Haus-)Taufe am 27. April durch den evangelischen Pfarrer stand wohl die Schwägerin oder Mutter von Basil Pate; sie scheint im Dokument als „Caroline Pringle, britische Captainsgattin, wohnhaft allhier“ auf.

Zu hören war Wagners letztes Werk, das (teils in des Meisters eigenen Zeugnissen) von tiefreligiös bis ganz böse und blasphemisch eingeschätzt wird, in unserer Stadt erstmals konzertant 1922, und dann als Gastspielaufführung 1927. Die erste szenische Eigenproduktion im Haus an der Promenade mit seinen sehr beschränkten räumlichen und orchestralen Möglichkeiten hatte am 25. 3. 1948 Premiere, die zweite am 2. 10. 1983. Die nunmehrige dritte, hätte eigentlich am Ostersamstag 2020 über die Bühne des großen Musiktheaters gehen sollen, aber Corona wollte es anders.

Der Linzer Schauspielchef Stephan Suschke stellte eine Inszenierung auf die Bühne, der man die dramatische „Pranke“ des ehemaligen BE-Chefs und langjährigen Mitarbeiters von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin anmerkte: insbesondere die Interaktionen von Kundry mit Klingsor und dem Titelhelden sind intensivstes Theater, spannend und aufregend – und absolut entlang und, tiefschürfend, innerhalb des Wagner’schen Textes. Heißt natürlich auch: eine ausgefeilte Personenregie kann nur mit vorzüglichen Sing-Schauspielerinnen und-Schauspielern funktionieren, und die sind an diesem Abend fraglos bei der Arbeit. Aber auch der erste Akt gerät einfach  überwältigend in seiner Stringenz und aufwühlenden Emotionalität. Im dritten könnte man vor dem Karfreitagszauber bemängeln, daß dem Regisseur zur Salbung von Parsifal und zur Taufe von Kundry nichts wirklich Sinnvolles eingefallen ist – aber der Rest auch dieses Aktes ist großes Theater und der Musik absolut dienlich! Dramaturgische Betreuung: Christoph Blitt.

Fünf Stunden lang Blut, Schweiß und Tränen | kurier.at
Heiko Börner (Parsifal) und die Blumenmädchen. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Bühne und Kostüme (Momme Röhrbein, Angelika Rieck) stellen die Handlung in eine unbestimmte Vergangenheit, nicht explizit ins Mittelalter, eher vielleicht um 1900: es finden sich auch Karabiner Typ (18)98 (die ja auch öfter als Stichwaffen, mit Bajonett, benutzt wurden…). Die in sowas wie einem Laufhaus domizilierten (man könnte auch sagen: in Käfighaltung mit Auslauf), wirklich sehr bunten Zaubermädchen sind hingegen etwa „discoglitzerig“ anzusehen, also der Jetztzeit zuzuordnen. Egal: der szenische Gesamteindruck paßt, auch in seiner Kontrastierung der „beiden Seiten des Gebirges“. Der „Heilige Speer“ ist ein getreues Abbild der Longinuslanze aus den Reichskleinodien, und auch der Gral wird entsprechend herausragend repräsentiert. Die Gralsburg ist eine kühle, abgewohnte Halle mit großer Fensterfront im Hintergrund – zum Finale mit Gebirgsblick; gewisse Ähnlichkeiten des letzteren mit dem Ausblick aus Hitlers Panoramafenster am Obersalzberg dürften aber zufällig sein.

Vor der Ouverture erscheint als überlebensgroße Projektion das Gesicht des Darstellers der Titelfigur, der das Gedicht „Traumwald“ von Heiner Müller rezitiert, das Anklänge an die Parsifal-Thematik aufweist. Sicherlich als Reverenz an den Mentor des Regisseurs, und gar keine schlechte Einstimmung. Als die Musik einsetzt, ist im Hintergrund ein mystischer, nebliger Wald zu sehen – auf der Bühne selbst wird man Natur aber vergeblich suchen.

Markus Poschner hat im Vorfeld der Produktion erklärt, daß „wir hier in Linz viel Erfahrung mit groß besetzten Stücken haben – Bruckner, Mahler, Wagner, Strauss“; stimmt einmal objektiv, aber er hat den Mund wirklich nicht zu voll genommen: die gewaltige Partitur wird von ihm und dem Bruckner Orchester mit größter Präzision, aber genauso mit transzendierender Leichtigkeit und feinsten Zwischentönen präsentiert – und ja, man verliert, wie es erklärte Absicht des Komponisten war, das Zeitgefühl. Die sämtlich sehr textdeutlichen Sängerinnen und Sänger sind auch genug bei Kraft, um dem Orchester alle Möglichkeiten der Dynamik zu eröffnen. Dazu kommen noch exzellente Leistungen des Theaterchores, genauso von Extra- und Kinderchor (Leitung: Elena Pierini, sowie Martin Zeller und Olga Bolgari). Besonders zu Ende des ersten Aktes, bei der Gralsenthüllung, werden die Chöre sehr effektreich eingesetzt – der Kinderchor z. B. ertönt vom zweiten Rang, mit durchaus „himmlischen“ Anklängen…

pa18wagnerheiligelanzebörnerchor
Michael Wagner (Gurnemanz), Heiko Börner (Parsifal. Dazwischen der Heilige Speer. Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Die Besetzung der Solorollen erfolgte weitestgehend aus dem Ensemble. Als Amfortas war Martin Achrainer vorgesehen. Allerdings sang bei der Premiere (ohne Mitteilung über Gründe der Besetzungsänderung) der Gast Ralf Lukas, der eine reiche Vorgeschichte in dieser und anderen großen Baritonrollen in Bayreuth, München und weiteren ersten Häusern aufweist; er wurde seinem Ruf mit tragfähiger, schön timbrierter und modulationsfähiger Stimme sowie intensivem Schauspiel auch in Linz gerecht.

Ein – sehr regelmäßiger (FroSch-Kaiser, Tristan) – Gast sang auch die Titelrolle: Heiko Börner hat eine exzellente baritonale Stimmbasis, verliert aber auch in der Höhe nicht an Kraft und Stimmkultur und setzt die fordernde Rolle von Anfang bis Ende großartig um, egal ob an der Rampe oder tief im Bühnenhintergund – die Bezeichnung „Heldentenor“ paßt ihm absolut faltenfrei. Dabei spielt er auch noch entzückend den anfänglichen Naivling, weiß sich gegen Kundry zu behaupten und ist schließlich der vielleicht etwas düstere, aber verantwortungsbewußte neue Gralsherr.

Titurel ist William Mason, übrigens der Gurnemanz von 1983 – berührend und mit seinen 75 Lenzen weder stimmlich noch körperlich müde. Adam Kim gibt einen machthungrig-manipulativen und hartnäckigen Klingsor mit vorzüglicher, druckvoller Stimme.

Die Kundry von Katherine Lerner entspricht allen Erfordernissen dieser Rolle mit geradezu mächtiger, dabei fast immer samtiger Stimme und außerordentlich engagiertem Schauspiel; wie sie Parsifal in vielfältiger Weise umgarnt, ist nicht nur hörens- sondern auch sehenswert – und ihr Elend im dritten Akt kann sie ebenso berührend darstellen.

Ebenso auf der tollen Höhe dieser Produktion die Gralsritter Jin Hun Lee und Tomaz Kovacic, die Knappen Fenja Lukas, Vera Maria Bitter, Seogmann Keum und Grégoire Delamare. Die übersprudelnden, quirlig-unverschämten und ebenso bei prächtiger Stimme befindlichen Zaubermädchen sind Ilona Revolskaya, Hanyi Jang, Jana Markovic und Tina Josephine Jaeger; Fenja Lukas und Vera Maria Bitter kommen da ebenso zum Einsatz wie auch einige Chordamen.

Herzeleide ist hier nicht nur „die Stimme aus der Höhe“, sondern wird mitunter auch sichtbar; Vaida Raginskytė gibt ihr nicht nur ihre kultivierte, der Herausforderung mühelos gewachsene Stimme, sondern auch feine darstellerische Präsenz.

Neuer „Parsifal“ in Linz - ooe.ORF.at
Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Fehlt natürlich noch der eigentliche Hauptdarsteller, gerechnet nach Textumfang und gesanglichem Anspruch: Gurnemanz! Ihm verleiht Michael Wagner tolle Bühnenpräsenz, nicht nur mit der besten Diktion unter all den sehr gut Artikulierenden, mit noblem, facettenreichen Spiel, sondern auch mit der nötigen stimmlichen Ausdauer: Klingt er anfänglich noch etwas nach (freilich guter) Gesangstechnik, so hat er sich ab der Speer-Erzählung freigesungen und läßt sein Organ wunderbar strömen, voller Wärme, Emotion, selbstverständlicher Autorität, mit mühelosem Druck, schöner Tiefe, auch mit klangvollem piano… schlichtweg sensationell, bis zum Ende!

Begeisterter Applaus, der besonders nachdrücklich für Markus Poschner und das Orchester ausfällt, ebenso für Katherine Lerner und Heiko Börner; bei Michael Wagner werden dann vom Publikum noch ein paar dB zugelegt! Das Produktionsteam kassiert zwar ein paar Buh-Rufe, aber die Zustimmung setzt sich durch.

Petra und Helmut Huber


STUTTGART/“Nord“/ Junge Oper (JOiN): LES ENFANTS TERRIBLES (Tanzoper von Philipp Glass)

$
0
0

„Les Enfants Terribles“ mit der Jungen Oper (JOiN) im  Nord am 12. 3. 2022/STUTTGART

Momentaufnahme mit traurigem Gesang

bau1
Philipp Nicklaus, Elliott Carlton Hines, Laia Vallies. Foto: Matthias Baus

Diese Tanzoper von Philip Glass mit dem Text von Susan Marshall und Philip Glass nach dem gleichnamigen Roman von Jean Cocteau zeigt in verschiedenen Sequenzen und Passagen ein eindringliches Beziehungsgeflecht, das nur schwer zu entwirren ist: „Dieses ansaugende, dieses verschlingende Zimmer, das sie zu verabscheuen glaubten, durchtränkten sie mit dem Element ihrer Träume.“ Die Regie von Corinna Tetzel (Bühne und Kostüme: Judith Adam) beleuchtet hier das Leben der Geschwister Paul und Elisabeth, die in beengten Räumlichkeiten leben. Offensichtlich verhalten sie sich wie ganz normale Geschwister und haben  keine Geheimnisse voreinander. Dritter im Bunde ist ihr gemeinsamer Freund Gerard, der heimlich in Elisabeth verliebt ist. Als Beobachter und Protokollant dieser abgründigen Geschwisterbeziehung kommt ihm allerdings eine sehr undankbare Aufgabe zu. Corinna Tetzel arbeitet in ihrer subtilen Inszenierung die psychologischen Spitzfindigkeiten gut heraus. Dies wird sogar noch deutlicher, als Paul den geheimnisvollen Dargelos trifft, der auch Agathe ähnelt – da ist dann nichts mehr, wie es vorher war. Er wird krank und die Beziehung der Geschwister gerät ins Wanken.  Paul beherrscht hier zwar die Fähigkeit des Wachschlafs wie in einem Rausch, aber er kommt mit der Realität nicht mehr zurecht. Elisabeth nimmt eine Arbeit an und heiratet schließlich. Doch ihr Bräutigam Michael kommt bei einem Autounfall ums Leben. Als Agathe bei ihnen einzieht, bahnt sich eine Katastrophe an, weil Paul sich in sie verliebt. Jetzt sind nämlich die beiden Frauen Elisabeth und Agathe in heftiger Weise aufeinander eifersüchtig.

baus2
 Elliott Carlton Hines, Philipp Nicklaus, Laia Vallies. Foto: Matthias Baus

In der Inszenierung versucht sich Paul mit einer Pistole selbst zu töten, was ihm jedoch nicht gelingt, weil sie nicht geladen ist. In der ursprünglichen Version nimmt er wegen seiner unglücklichen Beziehung zu Agathe am Ende Gift. Bei Cocteau kann Elisabeth nicht ertragen, nach Mutter und Vater auch  noch den  Bruder zu verlieren. Sie tötet sich selbst im Moment seines Todes.

Ein sehr tragisches Ende also, dass jedoch in der Stuttgarter Inszenierung deutlich abgeschwächt wird. Hinzu kommt hier nämlich noch eine ironische Komponente mit turnenden Kindern, die das Geschehen mächtig beleben und aufheizen. Was das Ganze allerdings mit einer „Tanzoper“ zu tun haben soll, bleibt trotz allem ein Rätsel. Musikalisch besitzt die Aufführung starke Klangreize, deren minimalistische Finessen von den drei vorzüglichen Pianisten Yuri Aoki, Ugo Mahieux und Christopher Schumann suggestiv herausgearbeitet werden. Auch gesanglich besitzt diese Produktion deutliche Vorzüge, was vor allem Laia Valles als Elisabeth  sowie Deborah Saffery als  Dargelos/Agathe deutlich werden lassen. Als Paul brilliert Elliott Carlton Hines mit opulentem Bariton,  während Philipp Nicklaus als Gerard ein tragfähiges Stimmvolumen besitzt.

Unter der musikalischen Leitung von Virginie Dejos entwickeln sich die relativ einfachen Arpeggien und Akkorde wie von selbst, auch die Einflüsse der indischen Musik um Ravi Shankar werden hörbar. Ein hypnotischer Stil prägt sehr stark das harmonische Geschehen, auf den auch die Sänger eingehen.  Und die Gesangspartien lockern das statische Gerüst der Komposition merklich auf. Natürlich sind alle Partituren von Philip Glass irgendwie ähnlich, doch hier überwiegen doch die magischen Klangreize. Besondere Leistungen bieten auch die jugendlichen Turner Len Barthel, Alia Cieslok, Nele Estermann, Maja D’Angelo, Paula Gamm, Laura Hermann, Leonie Hermann, Caspar Schoner, Johanna Weber und Samuel Weber. Turnvater Jahn hätte seine Freude daran gehabt.

Starker Applaus, „Bravo“-Rufe.

Alexander Walther

BRAUNSCHWEIG/Staatstheater: DER WILDSCHÜTZ – Neugeburt für Albert Lortzing. Premiere

$
0
0

Braunschweig: „DER WILDSCHÜTZ“ – Neugeburt für Albert Lortzing
Premiere 12.3.2022


Copyright: Staatstheater Braunschweig/Joseph Ruben

Über die Grazer Sopranistin Sieglinde Feldhofer hatte ich erfahren, dass in Braunschweig eine Neuinszenierung dieser Lortzing-Oper geplant sei, in der sie die Baron Freimann singen werde. Es stellte sich dann heraus, dass es unzählige Anreisende zu dieser Premiere gab, die ebenso seit langem bedauert haben, dass man diesen großartigen Theaterkomponisten heutzutage so selten spielt. Unsere Bremer Mitarbeiterin Gisa Habitz, mit der zusammen ich die Vorstellung besuchte, erzählte mir, dass Lortzing wesentlich zu ihrer lebenslänglichen Opernliebe beigetragen habe, so wie es auch mir dank der Aufführungen am Linzer Landestheater ergangen ist. Wir konnten nun beide feststellen, dass wir noch nie eine so wunderbare, köstliche „Wildschütz“-Inszenierung gesehen hatten wie gestern am Staatstheater Braunschweig.

Die Regisseurin Andrea Schwalbach, Bühnenbildner Stephan von Wedel und Kostüm-Verantwortlicher Pascal Seibicke hatten sich geeinigt auf eine Biedermeier-Gewandung sämtlicher Akteure – mit Überbetonung der zu schwingenden Reifröcke und von attraktiven Oberteilen bei den Damen sowie noblen Herrenkostümen, alles sehr farbreich und ästhetisch, aber mit einer komischen Note, die besagte, dass doch alles nur Spiel ist. Und ganz groß herausgearbeitet war der Kopfaufputz bei den Damen, mit jeder Variante hochgesteckter und in die Breite gezogener Haare oder Blumenzubehör. Je nach Charakter der einzelnen Personen überdreht (am meisten bei der ohnedies groß gewachsenen Gräfin mit dem Antikenfimmel). Auch etwas überschminkt waren die Damen mit extra roten Wänglein. Alles in allem aber in allen Szenen ein sehr attraktiver Anblick! Vor leicht verschiebbaren Zwischenwänden wurde der jeweilige Schauplatz erkennbar. Unverkennbar die Ironie des Ganzen, kulminirend in der humorigen Schlusserkenntis aller: „Sie hat mich nicht getäuscht, die Stimme der Natur.“

Optimal dazu passend das Dirigat des Italieners Mino Marani mit dem Staatsorchester Braunschweig, das den ganzen Lortzingschen Witz, seine bezwingende Melodik und totale Übereinstimmung von Musik, eigenem Text und Bühnengerechtigkeit herüberbrachte. Und die singende und glänzend agierenden Bühnenpersönlichkeiten: eine/r besser als der/die andere! Lauter bestens passende, schöne Stimmen und köstliche RollengestalterInnen zwischen Ernst und Komik.
Beginnend mit den amüsanten Verkleidungen von Baronin Freimann und der Zofe Nannette zwecks Überprüfung von Reaktionen des anderen Geschlechts während der Ouvertüre, fortgesetzt mit der ersten bunten Chorszene, jedes Chormitglied mit eigenem Profil, konstatierte man den ganzen Abend hindurch eine leicht ironische Rollengestaltung, der mühelos zu entnehmen war, dass die uns im Rückblick ach! so edel dünkende Biedermeierkulisse und -gewandung hintergründig anders Geartetes mitbeinhaltete…

Die Solisten: Kein Wunder, dass Sieglinde Feldhofer, in Graz vornehmlich mit Operetten- und Musical-Rollen eingesetzt, nun beweisen konnte, dass sie auf dem Opernsektor ebenso Erstrangiges zu bieten hat. Sie kann mit ihrem offenbar mühelos ansprechenden, schönen, in allen Lagen gleich souveränen Sopran alles ausdrücken, was die jeweilige Rolle verlangt, und ist eine hinreißende Schauspielerin. In der quasi Doppelrolle als Baronin Freimann und dem verkleideten Studenten durfte man sich mitunter schieflachen. Total konträr die Gräfin von Isabel Stüber Malagamba mit ihrem Antiken-Wahn, zu dem ihr Mezzo die richtige Farbe bot. Gretchen, Ziehtochter und begehrte Ehefrau es Schulmeisters, wurde von Jelena Bankovic vielschichtig dargestellt, artikuliert und gesungen. Nanette in Gestalt von Milda Tubelyte ko-agierte trefflich mit den anderen Bühnenfiguren. Köstlich, großgewachsen, gute Figur, an den Brillen als Gelahrter erkennbar, sang Rainer Mesecke den Baculus mit sehr schönem, ebenmäßig geführtem Bass und ohne jegliche Übertreibung seiner Irrtümer. Als Graf von Eberbach mit angenehmem, kräftigem Bariton reussierte Maximilian Krummen in der zwiespältigen Männerrolle. Und einen ausgezeichneten Tenor gab es ebenfalls: den Koreaner Kwonsoo Jeon, humorvoll agierend und mit schöner, in allen Lagen sattelfester Stimme. Als Pankratius ergänzte sehr gut Mike Garling. Großartig sämtliche Chormitglieder.

Der Schlussapplaus für jeden einzelnen und alle gemeinsam wollte nicht enden, bis der fallende Vorhang es nötig machte.

Soviel in Kürze. Weitere Details im Merkerheft April.

Sieglinde Pfabigan

STUTTGART/ Liederhalle: Gutav Mahlers ZWEITE SINFONIE unter Cornelius Meister

$
0
0

Gustav Mahlers zweite Sinfonie mit dem Staatsorchester unter Cornelius Meister im Beethovensaal der Liederhalle am 13.3.2022/STUTTGART

Ungeheure Dimensionen

Im Jahre 1894 beendete Gustav Mahler seine zweite Sinfonie in c-Moll, die so genannte „Auferstehungssinfonie“. Für den abschließenden fünften Satz benutzte er Klopstocks Hymne „Auferstehn“. Nach Beethovens Vorbild zog er außer dem sehr reich besetzten Orchester  noch zwei Solostimmen, Sopran und Alt, sowie den Chor hinzu. „Die Musik muss immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus“, so Mahler über seine zweite Sinfonie. Dies hat Cornelius Meister bei seiner Wiedergabe berücksichtigt. Heroisch beginnt hier auch der erste Allegro-Satz unter Meister, der das Staatsorchester Stuttgart zu immer neuen Höhenflügen anspornt. Aus kraftvollen Anläufen im Bass wird es emporgeschleudert. Die Ausweitung zum gewaltigen Themenkomplex ist bei dieser Interpretation stets nachvollziehbar. Verklärt steigt die Streichermelodie auf – und auch die feierlichen Bläserklänge besitzen eine ergreifende Leuchtkraft. Eine gewisse Nähe zum „Verklärungsthema“ bei Richard Strauss ist nicht zu überhören. Auch der zweite Themenkomplex mit der träumerischen Klarinettenweise prägt sich stark ein. In breiter Schönheit entfaltet sich dabei die Harmonik. Die Durchführung dringt auf eine Entscheidung, gibt sich absolut kämpferisch. Meister glättet dabei die harmonischen Blöcke nicht, zeigt die Konfrontationen präzis auf. Das wild losfahrende Kopfthema erscheint wie eine schön Vision und gipfelt in einer markanten Coda.

Danach lässt Meister bei diesem Konzert „Für den Frieden“ ergreifende Schweigeminuten folgen. Ein friedliches Naturidyll ist dann das Andante moderato, dessen menuettartige Weise zwischen Biedermeierseligkeit und Schubertscher Innigkeit hin- und herschwankt. Die Melodien der beiden tänzelnden Zwischenepisoden wirken ebenfalls überschwänglich. Und der entschwebende Ausklang besitzt sphärenhafte Sinnlichkeit. Als scherzoartiges Rondo kreist der dritte Satz um ein ausdrucksvolles Lied Mahlers aus „Des Knaben Wunderhorn“ mit dem Titel „Des Antonius von Padua Fischpredigt“.  Durchaus bissig fährt hier die Musik mit grellen Klängen drein, spöttisch wirken die Melodien. Es ist ein Zerrspiegel grotesker Parodie. Mit freudigen Siegesfanfaren meldet sich der Trioteil. Etwas unstet Drängendes besitzen diese Fanfaren bei Cornelius Meister. Stine Marie Fischer (Alt) lässt die Mystik des vierten „Urlicht“-Satzes in ergreifender Weise zum Vorschein kommen: „O Röschen rot! Der Mensch liegt in größter Not! Der Mensch liegt in größter Pein!“ Die schlichte Melodie verfehlt dabei ihre magische Wirkung nicht. Die Angst des Gottsuchers zeigt eine ergreifende Wirkungskraft. Das Finale mit seiner Vision des Jüngten Gerichts lässt schon Mahlers gewaltige achte Sinfonie erahnen. Cornelius Meister kennt ihre ungeheuren Dimensionen und überträgt sie auf die zweite Sinfonie. Mit dem „wütenden Aufschrei des Entsetzens und des Ekels“ (Paul Bekker) beginnt dieser Satz, dessen mystisch verklärte Sphäre mit Glockenklang und Hornmelodien angereichert wird. Aus dem ersten Satz wird ein „Dies irae“-Motiv übernommen, zu dessen Klängen sich ein gespenstischer Zug behauptet. Das Staatsorchester Stuttgart musiziert unter der Leitung von Cornelius Meister bei diesen Passagen voll glutvoller Emphase. Das Suchen und Drängen wird bei dieser Interpretation hervorragend herausgearbeitet. Zu den drohenden Bläserrufen ziehen Kolonnen von Toten vorüber. Es sind Erlösungsvisionen und Verzweiflungsschreie. Appellrufe der Trompeten leiten zum Geistergesang des Chors „Auferstehn, ja auferstehn wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh!“ über. Der Staatsopernchor in der Einstudierung von Manuel Pujol lässt die Intensität dieser Weise sehr bewegend erklingen. Aus dem dunklen Gewoge der Stimmen erhebt sich leuchtend das Sopransolo von Christiane Karg „Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!“ Das Verklärungsthema erscheint dann als schlichte Mischung zwischen Choral und Volkslied. Orgel- und Glockenton sorgen für ein rauschhaftes Crescendo. Jubel.

Alexander Walther

 

DRESDEN/ Semperoper: AIDA – gesehen im TV

$
0
0

13.03.2022  Semperoper/Dresden/TV  „Aida“

Aida
Copyright: Semperoper/Ludwig Olah

Die Semperoper setzt auf klassisches Repertoire, da kann wenig schiefgehen, meint man. Das tolle Orchester, Christian Thielemann am Pult – wenngleich nicht in seinem Stammgebiet, der dramatischen deutschen Oper – und ein gut ausgewogenes Sängerensemble sollten keinen Misserfolg geben. Katharina Thalbach, eine nicht ganz unumstrittene Regisseurin, konnte sich manche mögliche Neu- und Umdeutung verkneifen. In einem etwas langweiligen Bühnenbild (Ezio Toffolutti), ein Einheitsbrei aus Holz, mit Kostümen ( ebenfalls Ezio Toffolutti), die zwischen Alltag im Nirgendwo und Festgewänder im Irgendwann anzusiedeln sind, passiert alles nach Plan. Die Rampe wird gerne heimgesucht, Hände werden gerungen, alles wie gehabt. Die Personenführung ist unauffällig, man hätte das ganze auch konzertant aufführen können.

Christian Thielemann bemühte sich, eigene Ideen einzubringen, das gelang vor allem bei „Celeste Aida“ und „O terra addio“ mit extrem langsamem Tempo. Zum Glück reichte der lange Atem bei den Protagonisten. Der Triumphmarsch in erwartbarer Heftigkeit gespielt, die Bläser waren nicht ganz fehlerfrei am Werk.

Bleiben noch die Solisten: Krassimira Stoyanova konnte in der Titelrolle in den dramatischen Passagen nicht mit der gewohnten Klasse aufwarten, das „Numi pieta“ war aber genauso berührend wie eh und je. Es ist erstaunlich, wie sie nach so vielen „Dienstjahren“ ihr Leistungslevel halten kann. Francesco Meli als Radames – da hat man schon viele Tenöre gehört, die einen größeren Eindruck hinterlassen haben. Brav, bieder, das ist eigentlich das schlimmste, was man von einem Helden sagen kann. Für manche Passagen im dramatischen Bereich fehlt es ihm an Kraft. Quinn Kelsey hatte mehr als genug davon, sang den Amonasro, er erfüllte seine Rolle mit bösem Temperament. Oksana Volkova war als Amneris äußerst präsent, ihr kraftvoller, wohlklingender Mezzo reichte sogar für die Gerichtsszene. Georg Zeppenfeld war eine Luxusbesetzung für den Oberpriester, Andreas Bauer Kanabas als König sehr rollendeckend.

Etwas schadenfroh könnte man sagen, dass anderswo auch nur mit Wasser gekocht wird.

Johannes Marksteiner

 

WIEN / Akademietheater: ADERN

$
0
0

adern c horn 0723 haus~1
Fotos: Burgtheater, Matthias Horn

WIEN / Akademietheater: des Burgtheaters 
ADERN von Lisa Wentz
Uraufführung
Premiere: 13. März 2022 

Das einfache Leben ist heutzutage nicht unbedingt auf unseren Bühnen zuhause. Zu unspektakulär. Zu repetitiv. Zu langweilig. Ja, und das ist es auch, wenn man gut eineinhalb pausenlose Stunden im Akademietheater zusieht, was sich da unter dem pompösen, aber nicht wirklich sinnfälligen Titeln „Adern“ ergibt. Die Erzadern im Berg? Das Blut, das in den Adern fließt?

Warum die junge Tiroler Autorin Lisa Wentz in ihrem politisch so korrekten, weil den Fokus auf die „kleinen Leute“ richtenden Stück unbedingt die Nachkriegszeit beschwören muss, erschließt sich nicht. Die Epoche ist auch nur in einigen Details vorhanden, dass das Leben bescheiden war, dass die Frau ein uneheliches Kind von einem französischen Besatzer hatte, der auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.

Erzählt wird in kurzen, vorüberflatternden Szenen die Geschichte von Aloisia, die für sich und ihre Tochter eine Familie sucht, weil sie offenbar mit Mutter und Schwester nicht leben will (die Schwester schleicht immer wieder wie eine Trauerweide vorbei, bedeutet aber nichts). Sie meldet sich auf das Inserat des Bergmanns Rudolf, der seine Frau verloren hat und quasi eine Hausfrau für seine fünf Kinder sucht. Sie sind beide wortkarge Menschen (die Tiroler sind so), aber doch anständig, nähern sich an einander an.

Dass die Zeit verrinnt, merkt man daran, dass einmal ein Radio ins Haus kommt, dann ein Fernsehapparat, dann fährt man auf Urlaub an den Wörthersee. Ein dramaturgisches Loch besteht darin, dass von dem Kind, das Aloisia erwartet, nie wieder die Rede ist. Und auf einmal ist eine Tochter erwachsen, hat selbst schon ein Kind, zieht weg. (Was in aller Stille die Revolution der Jugend bedeuten soll…) Und dann stirbt Rudolf, wie die meisten Bergleute an Lungenkrankheit. Und weil das Ganze so geziert einfach ist, wirkt es unendlich künstlich und spekuliert.

Das Handlungselement über die Arbeit der Bergleute, das realistisch auf der Bühne nicht zu vermitteln ist, wird in pathetischen Flashbacks von Rudolf vermitteln, meist in Katastrophensituationen. Was der Berg laut Programmheft noch alles erzählen soll, bleibt gänzlich unklar. Es geht eomfach darum, solcherart besondere Tiefe zu simulieren und irgendwelche Schuldfragen einzubringen – und nichts davon funktioniert.

Regisseur David Bösch, von dem man bekanntlich Furchtbares gesehen hat (Nestroys „Talisman“ beispielsweise, unverzeihlich), wollte bei dieser Uraufführung einer 27jährigen Autorin ihr Stück offenbar nicht schlachten. Macht also – in einer entsprechenden Ausstattung von Patrick Bannwart / Falko Herold – in Einfachheit, Stille, Besinnlichkeit, lässt Kitsch nicht aus. Dass das Ganze grottenlangweilig wird, liegt wohl am Stück.

adern c horn 0608 frick 2 x

Nicht, dass die Besetzung nicht stimmte. Sarah Viktoria Frick, die so gut ausrasten kann, ist diesmal ganz verinnerlicht, Markus Hering desgleichen. Brave Leut’ vom Grund, das Programmheft selbst postuliert die Bezeichnung vom „kunstvollen Volksstück“.

Neben diesem schlichten Paar, das nur mäßiges Interesse erzeugt, sind die anderen kaum vorhanden – nicht die auf einen so tragischen Ton gestimmte Andrea Wenzl als Schwester, die gelegentlich fast parodistisch wirkt, nicht Daniel Jesch als der versoffene Freund (soll das tiefe Einblicke in die Bergmanns-Seele geben?), nicht Elisa Plüss als Tochter, die anfangs und am Ende wie eine Moral predigende Allegorie erscheint.

Ist man hier nicht gerührt und tief betroffen, zählt man offenbar zur hartgesottenen Spezies der Menschheit. Aber was ist eigentlich bei dem Ganzen herausgekommen? Dass man sich in nur eineinhalb pausenlosen Stunden, die endlos zu währen scheinen, gelangweilt hat wie selten im Theater… Beifall für die junge Autorin, die mit „gut gemeint“ sogar am Burgtheater landen konnte. Das ist ein größeres Kunststück als ihr Stück.

Renate Wagner

Viewing all 11208 articles
Browse latest View live


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>