Teatr Wielki in Posen (Polen) – The Angel of the Odd. 14. Juni 2014
Surprise, surprise
Eigentlich galt meine Reise ins polnische Posen diesmal der jüngsten Carmen-Neuproduktion am dortigen Opernhaus (darüber an dieser Stelle in Kürze mehr). Aber was tun am Vorabend, wenn einem die Direktion eine Karte zu einer Erstaufführung aufdrängt und als Alternative die Fernsehübertragung von Griechenland gegen Kolumbien (die einstigen Rehhagel-Schützlinge schaffen es wohl immer zu einem Großereignis) auch angesichts der bisherigen Schir-Pfiffe nicht besonders verlockend ist. Kurz und gut, ich mache meine Hausaufgaben, lese die Vorlage für diesen Abend, nämlich die Edgar Allen Poe-Kurzgeschichte “The Angel of the Odd” in der Originalfassung, um dem Stück (polnisch gesprochen und englisch gesungen) folgen zu können (Poe betitelte übrigens seine Erzählung, die 1844 erstmals veröffentlicht wurde, als “Extravaganza”) und sehe dann eine der größten Bühnen-Überraschungen der letzten Monate. Das Teatr Wielki in Posen (Poznan) leistet sich nämlich den Luxus eines “Operntheater-Laboratoriums”, einer Plattform für das Opernhaus und die künstlerischen Universitäten der westpolnischen Stadt und die jungen Protagonisten sorgen für einen höchstvergnüglichen Mini-Opernabend von einer knappen Stunde.
Der Italiener Bruno Coli schuf ein höchst interessantes Auftragswerk (das übrigens auch was für die Neue Oper Wien wäre), das Libretti hält sich peinlich genau an die Vorlage Poe’s (auch mit allen bewusst eingesetzten Dialektfärbungen – Poe bezeichnet sie als eine Sprache, die man nirgends auf der Welt spricht), das Zusammenspiel zwischen einem Schauspieler (als Erzähler beeindruckte mich – obwohl der polnischen Sprache nicht mächtig – Marcin Kluczykowski) und drei Sängern: die hervorragende und witzige Urszula Cichocka als Engel, der tenoral-schmachtende und unheimlich wandlungsfähige Hubert Walawski als Held der Erzählung und der im Original nicht vorkommende Journalist, der von Jukian Kuczynski mit Esprit und sattem Bariton gestaltet wurde.
Kurz zur Story: Der Held, ein überzeugter Junggeselle, der nur an die Logik glaubt, lebt allein in seinem Haus. Schicksal, Zufälle und Unerklärliches passen in sein Weltbild nicht hinein. Dann allerdings zieht das Unerklärliche in Form eines seltsamen Engels ein, der den eingebildeten Mann läutern will. Bizarre Bilder, überraschende Wendungen und viel Stoff zum Interpretieren, Poe-Liebhaber kommen voll auf ihre Rechnung! Die Gehässigkeiten des Alltags, sei es nun, dass das Haus niederbrennt, es mit der Hochzeit nichts wird oder dass sich der Held einen Arm bricht, all das passiert, die Story klingt wie ein vorweggenommenes Murphy’s Law!
Die Musik Colis erinnerte stark an Bernstein, war über weite Strecke aber total passend, manchmal glitt sie ins musicalhafte ab, dann wieder wirkte sie filmmusikmäßig untermalend – aber zu jeder Zeit passten Wort und Noten im Wechselspiel! Grzegorz Wierus, der am Haus als musikalischer Assistent Gabriel Chmuras tätig ist, leitet das Kammerorchester des Teatr Wielki perfekt, Krysztof Cichenski inszenierte ohne großen Schnick-Schnack und mit viel Witz!
Ernst Kopica