EINE SPANNENDE INITIALZÜNDUNG
Hermann-Haake-Stiftung am 12. September 2014 im Schlosstheater/LUDWIGSBURG
Im Mittelpunkt dieses szenischen Liederabends der Hermann-Haake-Stiftung standen Adolf Wölflis Liederbuch in der subtilen Vertonung von Wolfgang Rihm. Wölfli war Anfang des letzten Jahrhunderts als Kinderschänder Psychiatrieinsasse. Er wurde für viele Komponisten mit seiner “Art brut(ale)” zur Initialzündung. Das Motto “Verführung” wurde hier plötzlich greifbar. Rihms Wuchern der Ton- und Klangkonstellationen wurden für die Hörer dank der subtilen Wiedergabe des eindringlich deklamierenden Baritons Pascal Zurek plastisch greifbar, da er von Robert Bärwald am Klavier einfühlsam begleitet wurde. Auch der Charakter der postseriellen Konstruktion wurde sehr gut erfasst. Schroffe Klangimpulse und expressive Einschübe fesselten die Zuhörer. Wölfli hat sein gesamtes Werk als Insasse einer Nervenheilanstalt geschaffen und wurde durch einen Psychiater ermutigt. Die gesanglich bewegliche Sopranistin Christie Finn gestaltete Luigi Dallapiccolas “Quattro liriche di Antonio Macado” (1948) mit feingliedrigen Kaskaden zwischen Zwölftontechnik und Belcanto-Einlagen. Die Synthese von diatonischen und dodekaphonischen Systemen konnte man so gut nachvollziehen. So kam es zur spannenden akustischen Initialzündung. Kontrapunktische und motivische Entwicklungen arbeitete Christie Finn auch bei Arnold Schönbergs noch stark spätromantisch angehauchten Liedern op. 2 “Erwartung”, “Schenk mir Deinen goldnen Kamm”, “Erhebung” (Dehmel) und “Waldsonne” (Schaf) mit nie nachlassendem stimmlichen Feuer und eruptiven Elan heraus. Die Mannigfaltigkeit im Harmonischen, Vielstufigkeit, unsymmetrische Konstruktion der Themen, reife Kontrapunktik, feinnervige Rhythmik sowie die Kunst der thematischen Variation beeindruckten die Zuhörer hier ungemein. Alessia Park (Sopran) brillierte dann zusammen mit dem Pianisten Robert Bärwald bei George Crumbs “The night in silence” mit fiebriger Nervosität und stupender Intonationsreinheit. Matias Bocchio (Bariton) gefiel bei Wolfgang Rihms “Apokryph” wiederum mit sonorem Unterton und weich-kernigem Timbre. Pascal Zurek (Bariton) interpretierte Luciano Berios Arie aus “un re in ascolto” als dynamisch fein differenzierte Gestaltung eines Nervenzusammenbruchs. Nuancenreiche Farbigkeit, Erfindungsreichtum und eine wandlungsfähige Tonsprache herrschten dabei vor. Matias Bocchio sang nochmals “le rirephysiologique” von Georges Aperghis mit nuancenreicher phonetischer Deklamation und klanglicher Ausdruckskraft, deren Intensität nie nachließ. Melodische Figuren und deren akustische Grenzüberschreitungen trafen die Solisten ausgezeichnet. Aperghis hat auch eine “Wölfli-Kantata” komponiert. Zum Abschluss begeisterte die hervorragende Gesangsdarstellerin Alessia Park (Sopran) noch bei Györgi Ligetis “Le grandmacabre” für Koloratursopran und Klavier. Das war ein gesanglicher Tour-de-force-Ritt der Extraklasse, der von der Sängerin und vom Pianisten akustische Höchstleistungen forderte, die unter die Haut gingen. Die kaleidoskopartig sich wandelnden Klangflächen mit dichtester chromatischer Schichtung wurden hierbei hervorragend umgesetzt. Heftige Gestikulation ließ die Klangbänder absurd zersplittern. Das Erscheinen des “großen Makabren” war gar nicht mehr aufzuhalten – und Alessia Park wirkte in ihrer grotesken Uniform und mit ihrem Telefonapparat wie eine hilflose Puppe. Das diesjährige Programm der Hermann-Haake-Stiftung steht unter dem vielsagenden Motto “Verführungen”. Und verführerisch
war auch die wunderbar blumengeschmückte Bühne des Barocktheaters im Ludwigsburger Schloss, das zu diesen Klängen einen merkwürdigen Kontrast bildete. Das weitere Leitmotiv dieses bemerkenswerten Abends bildete außerdem die Erkenntnis “…weil ich doch muss”.
Alexander Walther
ALEXANDER WALTHER