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FEUCHTGEBIETE

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Ab 23. August 2013 in den österreichischen Kinos
FEUCHTGEBIETE
Regie: David Wnendt
Mit: Carla Juri, Meret Becker, Axel Milberg, Edgar Selge, Christoph Letkowski, Peri Baumeister u.a.

Es beginnt mit Hämorrhoiden, die im Leben unangenehm sind, einigermaßen zu bekämpfen – und am besten, man spricht nicht darüber. Aber wäre es nur diese Unappetitlichkeit, mit der Autorin Charlotte Roche ihre Heldin Helen Memel in den Kampf um die „Feuchtgebiete“ geschickt hat – man würde kein Wort darüber verlieren. Es wäre auch kein Millionenbestseller daraus geworden. Weil eben das Eklige, Perverse, Pathologische offenbar eine eigene dunkle Faszination auszustrahlen scheint…

Nun haben wir das Ganze auch auf der Kinoleinwand. Und, dank des Regisseurs David Wnendt (welch komplizierter Nachname) wenigstens mit Humor. Wenigstens etwas. Gut gespielt wird auch. Dennoch eines vorausgeschickt: Wer sich das nicht antun möchte, versäumt absolut nichts.

Helen Memel also ist 18 und von zweierlei besessen: Erstens will sie es ihren Eltern heimzahlen, indem sie die ganze Welt (Eltern natürlich eingeschlossen) nach allen Regeln der Kunst provoziert (das ist auch bei anderen Spätpubertierenden so) – und weil sie es mit so selbstverständlichem, gewissermaßen sanftem Lächeln tut, wird es noch unerträglicher. Zweitens lebt Helen auf geradezu besessene Art und Weise ihre Faszination für die „Feuchtgebiete“ des menschlichen Körpers aus, die sie nicht genug betrachten, berühren, beriechen, beschmecken und der Mitwelt demonstrieren kann. Vom Waschen (zumal „da“!) hält sie nicht viel, die Lust am Selbst- und Fremdversuch  ist grenzenlos. Man hat dieses Buch „positiv“ als die grenzenlose menschliche Freude an Experimentier- und Entdeckungslust jenseits aller Tabus gefeiert. Mit Worten lässt sich bekanntlich trefflich streiten.

Wir erleben die junge Dame gleich zu Beginn in einem verdreckten U-Bahn-Klo. Aber wie verdreckt! Ihr Entzücken kennt keine Grenzen. Schon da sollte man wissen, ob man sich den Rest des Films antun will. Zimperlich darf man als Zuschauer nicht sein, man rümpft die Nase, weil man zu riechen glaubt, was man sieht und beschrieben bekommt. Die Lust am Ekel – sie explodiert hier geradezu.

Man weiß nicht, wie man das Gebotene aushielte, wäre da nicht Hauptdarstellerin Carla Juri als Helen, mit altmodischer Locken-Kurzhaarfrisur und einem so unwiderstehlich verlogenen Lächeln, dass man nur zurücklachen kann. Ihr gelingt es, das Perverse als das für sie Normale hinzustellen. Kurz, so widerlich ihr Verhalten ist, sie selbst wird als Person nicht unsympathisch. Und das ist ein Kunststück, das man eigentlich nicht für möglich halten möchte.

Zudem ist der Film, von seinen unappetitlichen Feucht-Schleckereien abgesehen, mit einer Fülle interessanter, zwar parodistisch gesehener, aber durchaus auch hoch kontroverser Figuren „gefüttert“. Nicht, dass man Helen, dem pathologischen Fall, nun als „Opfer“ Sympathie entgegenbringen würde, aber Charlotte Roche hat ihr Eltern gegebenen, die man schlechtweg als Monster bezeichnen kann. Eine total egozentrische Mutter (die herrlich verkniffene Meret Becker), die Wert darauf legt, das Urvertrauen der Tochter in die Menschheit von früher Kindheit an zu zerstören. Im übrigen tingelt sie von einem Guru zum nächsten (in ihrem Fall hat auch die katholische Kirche solchen Stellenwert) und lässt die Tochter allein der Welt. Freilich, der Vater (Axel Milberg gibt sich dafür her), der äußerlich jovial wirkt (ekliger reicher Mann, der mit nackten Teenies im privaten Pool plantscht), ist natürlich noch schlimmer, wenn klar wird, dass er Helens Bruder als Baby missbraucht hat… Kurz, die „Feuchtgebiete“ sind auch auf anderer Ebene eklig.

Der Hauptteil der Handlung besteht darin, dass Helen nach einer Selbstoperation am Anus im Spital landet. Dort verwirrt sie den Chefarzt (Edgar Selge als spitze Karikatur wie aus einem alten deutschen Klamotten-Film), angelt sich den jungen Pfleger (Christoph Letkowski lässt nach Verwirrung Faszination spüren – und ist zu bedauern) und erzeugt bei der weiblichen Konkurrenz (Peri Baumeister als Krankenschwester) die natürliche Abneigung, die die Angepassten den Hemmungslosen entgegensetzen.

Was soll man dazu sagen? Wir sind schließlich erwachsen. “Die Welt ist kein Kindergarten”, meinte einst Alfred Kerr angesichts der Erregung über Arthur Schnitzlers “Reigen”. „Feuchtgebiete“ ist ein Film, der viele Entscheidungen erzwingt – die erste besteht schon darin, ob man so etwas sehen will. Und dann, was man davon hält. Übrigens: Kopfschüttelnde Bürgerlichkeit ist vermutlich gar nicht die überwiegende Reaktion. Beim Filmfestival in Locarno gab es dafür sogar jede Menge Jubel…

Renate Wagner

 

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