Wiederaufnahme “Jenufa” in der Stuttgarter Staatsoper DIE RUFE DES TOTEN KINDES – am 1. Februar 2015/
Rebecca von Lipinski (Jenufa). Foto: A.T.Schaefer
Leos Janaceks zweite Oper aus dem Jahre 1904 ist eine beeindruckende Milieustudie mährischen Landlebens. Der Regisseur Calixto Bieito untersucht hier die Ursachen von Unterdrückung und Manipuation im privaten Bereich. In einer heruntergekommenen Fabrikhalle spielt sich das Drama ab. Aus der Mühle ist in dieser Inszenierung eine Fabrik geworden. Zwei Männer kämpfen um die selbe Frau: Jenufa (mit famosem Rollendebüt: Rebecca von Lipinski) ist mit Steva (höhensicher: Gergely Nemeti) verlobt. Doch auch dessen Halbbruder Laca (eindringlich und mit ebenmäßigem Timbre: Pavel Cernoch) liebt das Mädchen. Die Tragödie eskaliert, als Laca Jenufa aus rasender Eifersucht im Gesicht verletzt. Das alles spielt zunächst in der Fabrik in den mährischen Bergen.
Rebecca von Lipinski (Jenufa), Angela Denoke (Küsterin), Pavel Cernoch (Laca). Foto: A.T.Schaefer
Fünf Monate später geht die Handlung in der geschlossenen Fabrik weiter. Die Küsterin (mit eindrucksvollem Rollendebüt: Angela Denoke) kann die Existenz des unehelich geborenen Kindes von Steva und Jenufa nicht ertragen und tötet es. Deutlich wird in Calixto Bieitos Inszenierung, dass er auf psychologische Personenführung einen besonderen Wert legt. Das innere Seelendrama der Küsterin ufert geradezu aus. Das Bühnenbild von Susanne Gschwender trägt dieser Feststellung Rechnung. In der neuen Fabrik kommt es dann zum emotionalen Höhepunkt der gesamten Oper: Die Küsterin gesteht vor versammelter Menge den Kindsmord – doch Jenufa verzeiht ihr.
Dazwischen gelingen Bieito beklemmende Bilder: Da bläst plötzlich der kalte Wind über die Bühne und man hört das Schreien des toten Kindes, während sich die Küsterin die Ohren zuhält. Zuletzt ist der Raum mit Nähmaschinen übersät – und die verzweifelte Küsterin windet sich in ihren Qualen. Auch wenn optisch nicht alles zueinanderpasst, glücken Bieito hinsichtlich der Personenführung immer wieder berührende Momente, die unter die Haut gehen. Dazu gehört auch die bewegende Schluss-Szene, wo Laca und Jenufa endgültig zusammenfinden. Stevas Partnerin Karolka (mit starker Ausdruckskraft: Lauryna Bendziunaite) sagt sich aufgrund seines niederträchtigen Verhaltens zuletzt von ihm los.
Bühne und Kostüme nach Entwürfen von Gideon Davey (Kostüme: Ingo Krügler) unterstreichen die Suche nach der verlorenen Gegenwart. Calixto Bieito geht dem Rätsel der Seele nach, was Leos Janaceks Intention war. Interessant ist bei dieser Wiederaufnahme aber vor allem, dass hier die Brünner Fassung dieses Werkes gespielt wird, das mittlerweile zu den meistgespielten Opern gehört. Sie ist die ursprüngliche Fassung und erscheint in vieler Hinsicht schroffer und kontrastreicher, was zu Bieitos sperriger Inszenierung durchaus passt. Naturalistisch-expressionistische Elemente werden hier auf die Spitze getrieben. Janaceks Oper entstand nach dem Schauspiel von Gabriela Preissova, die von der Kritik aufgrund der realistischen Schilderung des Kindsmords angegriffen wurde. Er lernte sie wohl 1890 kennen, war von dem Text sofort begeistert und begann 1894 mit der Bearbeitung des Dramas. Im Libretto ist die wörtliche Wiederholung von Phrasen und Sätzen in ostinater Form von großer Bedeutung, denn hier werden eindringliche Stimmungsbilder geschaffen. Darauf nimmt auch Sylvain Cambreling als souveräner Dirigent des Staatsorchesters Stuttgart Bezug. Die Töne des Xylophons sind immer wieder mit kleinen Ostinati durchsetzt, es entstehen keine großen Teile, sondern harmonisch vielschichtge Tableaus und Momente mährischer Volksmusik, die kunstvoll variiert werden. Smetana und Dvorak sind zwar spürbar, aber es wird eine herbere Klangsprache beschworen. Kleinmotivische Deklamation setzt sich durch, die Kunst des Sprechmotivs erscheint hier in vielen Facetten. Breitere melodische Entwicklung vermag Cambreling mit dem Staatsorchester wiederholt in eindringlicher Weise hervorzuzaubern. Das chorische und tänzerische Element kommt ebenfalls nicht zu kurz, hier sticht die sehr gute Leistung des Staatsopernchores (Einstudierung: Christoph Heil) wieder einmal deutlich hervor. Der große Monolog der Küsterin im zweiten Akt besitzt dämonische Größe, Angela Denoke kann dabei ihre darstellerische Präsenz voll ausspielen. Insbesondere der enorm gesteigerte Empfindungsausdruck von Janaceks Musik hat in Sylvain Cambreling einen engagierten Anwalt, auch bei modalen und kirchentonalen Strukturen spricht er die Sprache des Vollblutmusikers, der die ekstatischen Momente von Janaceks Musik eindrucksvoll hervorhebt. Klangliche Ebenmäßigkeit kennzeichnen außerdem den Mädchenchor im dritten Akt und den Auftritt der Rekruten im ersten Akt, typisch mährische Rhythmen und Intervalle gewinnen immer deutlicher an Intensität. Die Ausweitung von Melodik und Harmonik wird bewusst herausgearbeitet, auch der Reiz der volkstümlichen Strophenlieder setzt sich durch. Den wenigen “Reminiszenz-Themen” in “Jenufa” lauscht Sylvain Cambreling mit besonderer Präzision nach: Dies ist in erster Linie bei der “Säuglingsmusik” aus dem Dialog zwischen Jenufa und der Küsterin der Fall. Und die schlängelnde Melodie am Ende von Jenufas Eröffnungs-Monolog (“O Panno Maria!”) wird hier ebenfalls mit prägnanter Artikulation vorgetragen. Calixto Bieito hat bei seiner Inszenierung dem seelischen Druck der vier Hauptpersonen im trostlosen Mittelakt ein großes Gewicht gegeben, während in den Aussenakten viele Personen und bunte Ensembles mit voller Ausgelassenheit und explosiver Kraft agieren. Hier ergänzt die musikalische Gestaltung diese szenischen Passagen. Jenufas Arie “Gute Nacht, Mutter” gerät dank Rebecca von Lipinski zu einem wunderbar berührenden Zwischenspiel, denn hierbei erhält eine herbe und egozentrische Person plötzlich Wärme und Zärtlichkeit. Auch Angela Denokes Küsterin wird sympathischer, als die strenge Stiefmutter Steva beschwört, ihre Stieftochter zu heiraten. Ihr Solo “Schau sie auch an” entsteht aus zwei kurzen Phrasen und ist lyrisch und ergreifend zugleich. Obwohl Angela Denokes Küsterin in der Höhenlage zuweilen etwas angestrengt klingt, vermag sie den ebenmäßigen Kantilenen vor allem in der Mittellage innere Leuchtkraft zu geben. Ein Triumph ist die orchestrale Begleitung: Da erweist sich Sylvain Cambreling als detailgenauer Orchestererzieher, der zudem dem großen C-Dur-Höhepunkt gegen Ende der Oper ein immer größeres Volumen zu verleihen vermag. Dass Jenufa und Laca im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wird deutlich. Im ersten Akt stehen sie miteinander auf Kriegsfuß, im zweiten Akt willigt Jenufa ein, den reuigen Laca zu heiraten, und am Anfang des dritten Aktes beginnen sie einander zu verstehen. Cambreling macht deutlich, dass die Musik bis dahin aber erklärt, dass sie ihn nicht liebt. Doch jetzt kommt der große Durchbruch: Das Ende der Oper wird das letzte Glied der Kette, die sie endgültig verbindet. Bei Jenufas ekstatischem Ausruf “Laca, meine Seele!” kommt es zu einem regelrechten Gefühlssturm. Der Orgelpunkt auf C sinkt herab zum B. Wie dabei der Druck nachlässt, macht Cambreling mit dem Staatsorchester dynamisch fein nuanciert deutlich. Allerdings findet sich die Personenführung nur mit der Musik zusammen, das Bühnenbild wirkt wie ein fahles Gerippe, das die seelische Trostlosigkeit der Protagonisten beschreibt. Auch die Schiebetür im Hintergrund lässt keinen Ausweg zu. Diese Schwachstellen werden durch eine famose Ensembleleistung allerdings überspielt. In weiteren gesanglichen Rollen überzeugen bei dieser Produktion Renate Behle als die alte Buryja, Mark Munkittrick als der Alte, Michael Ebbecke als Richter und Maria Theresa Ullrich als seine Frau. Ebenso gut fügen sich Karin Torbjörnsdottir (die Schäferin), Talia Or (Barena), Yuko Kakuta (brillant als Schäferjunge Jano), Larissa Bruma (die Tante, erste Stimme), William David Halbert (zweite Stimme) und Werner Heckmann (Solo-Trompete) ins Ensemble ein. “Jenufa sollte man mit dem schwarzen Band der langen Krankheit, der Schmerzen, des Seufzens meiner Tochter Olga und meines kleinen Buben Wladimir binden”, sagte Leos Janacek hinsichtlich seiner Oper “Jenufa”. Er nahm darin Bezug auf den frühen Tod seines Sohnes und den Tod seiner Tochter, die mit zwanzig Jahren starb, die Entstehung dieser Oper aber noch miterlebte. Nun war Janacek ganz kinderlos und die Beziehungen zu seiner Frau wurden zu einem Gefängnis. Davon spricht die Musik – und hierüber gibt auch Calixto Bieitos Inszenierung trotz einiger Handlungsschwächen deutliche Auskunft (szenische Einstudierung der Wiederaufnahme: Dirk Schmeding; Mitarbeit Regie: Lydia Steier).
Alexander Walther