WIEN/ Staatsoper4.4. 2015- “ELEKTRA” Von den Nackten zu den Toten
Anna Larsson, Nina Stemme. Foto: Wiener Staatsoper/Pöhn
Wer schon einmal beim letzten Bissen eines Essens ein Pfefferkorn zerbissen hat, kann in etwa nachvollziehen, wie die Nachwirkung dieser Inszenierung ist. Das Ambiente des Kellers eines Stadtpalais gibt durchaus einen stimmigen Rahmen für diese Tragödie und es scheint, dass auch der Paternoster, der diesen Keller mit den oberen Geschossen verbindet, sich für effektvolle Auftritte nutzen lässt. Irgendwann ertappte ich mich zwar bei der Frage nach der Topographie dieses Hauses, wenn Personen, die nach oben entschwunden sind, danach von der Seite wieder auftreten und warum dieser Paternoster ständig seine Richtung wechselt. Ich beruhigte mich dann damit, dass dieser Paternoster (Vater unser) eine Anspielung auf die übergroße Agamemnonstatue der Vorgänger-Inszenierung darstellen sollte. Als aber am Schluss zur Textstelle “Alle müssen herbei” tatsächlich Pärchen aus der Kulisse auftauchen und einen fröhlichen Reigen veranstalten und Elektra währenddessen von der Bühne verschwindet, kam mir der Verdacht, dass der Teufelskerl Uwe Eric Laufenberg, der innerhalb von zwei Tagen an zwei mehr als 600 km entfernten Orten eine Premiere herausbrachte, die letzten Blätter der Regiekonzepte vertauscht hat und der Chor eigentlich “Wer soviel Huld vergessen kann” singen müsste. (In Wiesbaden hatte Laufenberg das Glück, dass sein Intendant Laufenberg ihm offensichtlich gestattete, die Kölner “Entführung” von Assistenten einstudieren zu lassen.) So wenig Isolde bei ihrem Liebestod tatsächlich daran interessiert ist, ob irgend jemand sonst Tristan Lächeln sieht, so wenig ist Elektra daran interessiert, nach dem Erreichen ihres einzigen Zieles ihr weiteres Leben als Aerobiclehrerin zu verbringen. Die emotionale und existenzielle Grenzsituation der Atridentochter wird so derart banalisiert, dass die Wirkung vollkommen verpufft.
Musikalisch steht natürlich Nina Stemme, die in dieser Serie ihre ersten Elektras singt, im Mittelpunkt. Sie hat mit dieser im wahrsten Sinn des Wortes mörderischen Partie keinerlei Probleme und überzeugt sowohl in den wilden Ausbrüchen, als auch in den (wenigen) Passagen, die nicht volle Kraft erfordern. Mit dieser Leistung zählt sie sicher derzeit zu den besten Vertreterinnen dieser Rollen. Ihre junge Schwester Chrysothemis war auch in dieser Aufführung Ricarda Merbeth, die schon bei der Premiere eingesprungen war. Stimmlich ist sie schon eher eine Elektra mit einer ins Dramatische tendierenden Stimme, die sich nur wenig von der ihrer Schwester unterscheidet und in den gemeinsamen Szenen keinen wirklichen Kontrast bietet. Der junge Bruder Orest ist in der Fremde gewaltig gealtert und so präsentiert Falk Struckmann eine stark vibrierende Stimme, welche die Legatobögen in der Erkennungsszene nicht wirklich nachzeichnen kann. Die Hunde auf dem Hof, die ihn erkennen sollten, hatten ihren Auftritt schon vor der Klytämnestraszene, wo sie laut Libretto als Opfertiere fungieren sollten, was ich doch nicht hoffe. Diese Klytämnestra von Anna Larsson ist sicher die größte Vertreterin dieser Rolle und es ist ein gute Idee, sie in einem Rollstuhl zu platzieren, um die Größenunterschiede nicht zu sehr zu betonen. Stimmlich fehlt zu dieser körperlichen Größe doch einiges und die Textbehandlung ist durchaus verbesserungswürdig. Norbert Ernst ist ein scharf charakterisierender Aegisth, der im Fahrstuhl von Wolfgang Bankl, dem Pfleger des Orest, gemeuchelt wird, während auf der anderen Seite die Leiche Klytämnestras herabkommt und der Schleppträgerin von Aura Twarowska Gelegenheit zu einem Schmuckraub bietet. Danach gerät die Steuerung des Paternoster offensichtlich außer Kontrolle und er bringt in ständigem Auf und Ab immer neue Leichen zum Vorschein. Als junger Diener sprang Benedikt Kobel für Thomas Ebenstein ein und orderte sein Pferd im Kohlekeller beim alten Diener Marcus Pelz. Unter der Aufsicht von Donna Ellen mühten sich die fünf Mägde Monika Bohinec, Ilseyar Khayrullova, Ulrike Helzel, Caroline Wenborne und Ildiko Raimondi um die Reinigung von anonymen nackten Mädchen. Ein Wechsel zwischen vierter und fünfter Magd wäre durchaus wünschenswert.
Am Pult stand mit dem jungen Finnen Mikko Franck der Mann, der beim Lohengrin kurzfristig für de Billy eingesprungen ist und diese Elektra statt des gewesenen GMD übernommen hat. Er fächert die komplizierte Partitur schön auf, lässt das Orchester gewaltig aufrauschen, ohne die vom Theaterpraktiker Strauss vorgesehenen Rücknahme beim Einsatz der Solisten zu vernachlässigen. Wenn ich aber bedenke, dass ich normalerweise nach einer Elektra noch stundenlang “elektrisiert” bin, diesmal aber bei der Heimfahrt nur noch darüber gegrübelt habe, warum der Pferdestall im Keller untergebracht ist, so hat (mir) doch etwas gefehlt.
Wolfgang Habermann