Uraufführung bei den Schwetzinger Festspielen 2015: „Wilde“ von Hèctor Parra (Premiere: 22. 5. 2015)
Eine großartige Leistung bot der Bariton Ekkehard Abele in der Rolle des „gestrandeten“ Gunter (Foto: Hans Jörg Michel)
Als Auftragswerk der Schwetzinger SWR Festspiele wurde am 22. Mai 2015 – in Kooperation mit dem Staatstheater Mainz – im Rokokotheater des Schlosses Schwetzingen die Oper „Wilde“ des katalanischen Komponisten Hèctor Parra uraufgeführt.
Das Libretto verfasste der Tiroler Dramatiker Händl Klaus, der mit seinem Stück zum Nachwuchsautor des Jahres 2004 und zum Dramatiker des Jahres 2006 gewählt wurde. Er entführt in „Wilde“ an einen von jeder Zivilisation verlassenen Ort. Gunter aus Bleibach ist in Neumünster an der Lau gestrandet, da sein Anschlusszug, mit dem er zu seinen Eltern reisen wollte, erst wieder am nächsten Tag fährt. Er trifft auf die Brüder Flick und wird von ihnen festgehalten. Der erzwungene Aufenthalt verhilft Gunter zur Katharsis – seine Erlebnisse als Arzt im Krieg verfolgen ihn, doch die drei Schwestern der Flick-Brüder verheißen ihm Heilung.
Schlussszene. Foto: Hans Jörg Michel
Das in einer fragmentarischen Sprache voller Andeutungen verfasste Libretto ist eine große Auseinandersetzung mit dem Trauma der Herkunft und des Handelns im eigenen Leben. In einem im Programmheft abgedruckten Gespräch, das Katja Leclerc mit Hèctor Parra führte, sagte der Komponist über den Librettisten: „Ich habe eine Magie vorgefunden. Händl Klaus ist eine Art Sprach-Zauberer. Dazu kommt eine große Musikalität. Ich las die Sätze und hörte sie im selben Moment wie gesungen.“ Und über sein eigenes Werk: „Man könnte sagen, dass die Oper ein existenzielles Werk ist, aber ohne Pathos. Ein Stück über grundlegende menschliche Bedürfnisse: den Durst, den Hunger, die Hitze, die Sexualität, das Heilen und Geheiltwerden.“
Alle diese menschlichen Bedürfnisse und Probleme zeigte der katalanische Regisseur Calixto Bieito, den so manche Kritiker als „Regie-Berserker“ bezeichnet hatten, in seiner Inszenierung mit einer fast brutalen Offenherzigkeit, die einen Teil des Publikums zu verstören schien. Unter anderem wird viel ins eigene Fleisch geschnitten, was die drei Schwestern zu erregen scheint, besitzen sie doch auch eine Sammlung chirurgischer Instrumente.
Der Regisseur siedelte das Stück in einem dreistöckigen Holzhaus an, das über den Orchestergraben reichte (die Musiker spielten im Hintergrund seitlich des Hauses) und von Susanne Gschwender mit dem Regisseur entworfen wurde. Für die dazu passenden Kostüme zeichnete Sophia Schneider verantwortlich. Dass die Inszenierung dadurch starke Bilder erzeugte, muss als Pluspunkt für die Aufführung anerkannt werden.
Dem Sängerensemble verlangte Calixto Bieito durch seine expressive Personenführung ungewöhnlich viel ab. Dennoch war die gesangliche Darbietung dadurch nicht geschmälert. Mit einer ausgezeichneten Leistung wartete der Bariton Ekkehard Abele in der Rolle des Gunter aus Bleibach auf, der in der Darstellung des vom Krieg gezeichneten Arztes bis zum Äußersten gehen musste. Mit großer Wortdeutlichkeit und seiner kräftigen, dunkel gefärbten Stimme faszinierte er das Publikum von der ersten bis zur letzten Szene.
Überzeugend auch die schauspielerischen Leistungen des Brüderpaares Flick. Hanno wurde vom französischen Tenor Vincent Lièvre-Picard dargestellt, Emil vom Tiroler Countertenor Bernhard Landauer, dessen hohe Stimme oft schneidende Wirkung erzielte. Von den drei Schwestern Angela, Hedy und Iris Flick war die kanadische Mezzosopranistin Mireille Lebel am eindrucksvollsten. Auch sie musste in ihren Szenen sehr weit an Selbstäußerung gehen. Als sie sich in der Liebesszene mit Gunter ihres Kleides entledigte, waren Büstenhalter und Slip blutgetränkt. Stimmlich konnte sie durch ihre große Bandbreite und Ausdrucksstärke überzeugen.
Ihre Schwester Hedy spielte die amerikanische Sopranistin Marisol Montalvo – an Calixto Bieito aus Basel gewöhnt, wo sie unter seiner Regie die Lulu sehr freizügig verkörperte – in schwarzem Badeanzug, wobei sie ihre stärkste Szene mit Gunter hatte, in der sie ihre masochistische Ader durch Selbstfesselung befriedigte. Die dritte Schwester Iris wurde von der chinesischen Sopranistin Lini Gong dargestellt. Sie wirkte im Vorjahr an der Münchner Biennale in der Uraufführung von Parras Oper Das geopferte Leben mit und war stimmlich durch die mühelose Darbietung höchster Töne überzeugender als schauspielerisch.
Mit ausdrucksstarker Mimik stellte der Schauspieler Ernst Alisch die stumme Rolle des Vaters der fünf Flickgeschwister dar. Er wird an der Tankstelle, die man sich denken musste, von seinen beiden Söhnen zusammengeschlagen, weil er ihre Benzinkanister nicht auffüllen konnte. In der Schlussszene zerreißt er die von Gunter erhaltene Jacke und geißelt sich damit.
Mit viel Einsatz leitete Peter Rundel das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, das die vielschichtige Partitur des katalanischen Komponisten, die neben vielen musikalisch extremen Passagen, die vor allem an die Sängerinnen große Anforderungen stellte, auch melodische Sequenzen aufwies, in allen Facetten wiedergab. Dazu ein Zitat des Komponisten: „Die Melodien der Flick-Brüder sind aus stark chromatischen Harmonien gewoben, toxisch und verhängnisvoll anziehend. Sie entstehen aus der Überlagerung von kleiner Terz und großer Sekund und befinden sich in ständiger Entwicklung – es handelt sich um eine diabolische Maschine in engelhafter Verkleidung, die nicht aufzuhalten ist. Die Harmonien der Flicks sind geradezu luxuriös illustriert und bilden das Gerüst für einen Großteil der ersten zwei Akte von WILDE.“
Das Premierenpublikum spendete allen Mitwirkenden lang anhaltenden Applaus – auch dem Regieteam –, wobei der Bariton Ekkehard Abele, der Darsteller des „gestrandeten“ Gunter, und der Schauspieler Ernst Alisch mit Bravorufen bedacht wurden. Extrabeifall gab es am Schluss noch für das Orchester und seinen Dirigenten.
Udo Pacolt