Uraufführung einer zeitgenössischen Oper in Frankfurt: „An unserem Fluss“ von Lior Navok (Vorstellung: 8. 6. 2015)
Ein symbolträchtiges Bild: Michael Porter als Sipho und Kateryna Kasper als Lucia bei ihrer Suche nach Wasser (Foto: Monika Rittershaus)
Im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt kam es zu einer Uraufführung einer Oper mit zeitgenössischem Thema: „An unserem Fluss“ von Lion Navok. Der im Jahr 1971 in Tel Aviv geborene Komponist thematisierte in dem Auftragswerk den israelisch-palästinensischen Konflikt auf musikalisch beeindruckende Weise.
Die Handlung der etwa 90-minütigen Oper, deren Libretto der Komponist selbst verfasste (Übersetzung: Kristian Lutze), in Kurzfassung: Die 15-jährige Lucia wird ausgeschickt, um Wasser zu suchen und trifft auf den gleichaltrigen Sipho. Er gefällt ihr auf den ersten Blick, doch auf den zweiten muss sie feststellen, dass er zu den „Feinden“ gehört, zu den vermeintlichen Mördern ihrer Eltern. Die Verunsicherung der beiden Jugendlichen ist groß – größer allerdings ist der Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen sich. Lucia und Sipho suchen gemeinsam den Weg aus einem Teufelskreis, dessen Ausmaße weit über Landesgrenzen und nationale Interessen weit hinausreichen.
Dieses Werk über ein Land mit zwei Völkern – Israelis und Palästinensern – ist eine Geschichte über Heimat und Entwurzelung, Vertreibung und Rückkehr, Freiheit und Grenzen, aber auch über die Sehnsucht nach Frieden. Regisseurin Corinna Tetzel schrieb in einem Beitrag über die neue Oper: „Während meiner Beschäftigung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt im Rahmen der Vorbereitung von ‚An unserem Fluss‘ habe ich erfahren, dass der Versuch zu verstehen ein fortdauernder Prozess ist. Dass wir uns den Drang, Dingen auf den Grund zu gehen, bewahren sollten – keine vorschnellen Schlüsse ziehen, sondern offen bleiben müssen für weitere Geschichten und neue Perspektiven. Andernfalls laufen wir Gefahr, uns ohnmächtig aus dieser wichtigen Diskussion zurückzuziehen, enttäuscht, dass ein ausgemachter, friedensbringender Weg einmal mehr durch unvorhergesehene Ereignisse oder die Entdeckung neuer Sachverhalte plötzlich versperrt wird. Eben diese Empfindung der Ohnmacht verarbeitet Lior Navok in seiner Oper und setzt Figuren einer lähmenden Beklemmung aus. Alles scheint festgefahren, die Grenzen klar – doch die individuellen Schicksale der Figuren bewegen. Sie geben eine Idee davon, was die Menschen in diesem Konflikt voneinander trennt, aber auch, was sie miteinander verbindet!“
Kampfszene aus der Oper „An unserem Fluss“ (Foto: Monika Rittershaus)
In ihrer Inszenierung gelang es Corinna Tetzel eindrucksvoll, diese lähmende Beklemmung durch ihre gute Personenführung auf die Bühne, aber auch auf das Publikum zu übertragen. Passend dazu das Bühnenbild (Gestaltung: Stephanie Rauch), das zum Teil aus Häuserruinen bestand. Die der jetzigen Zeit entsprechenden Kostüme entwarf Judith Adam.
Aus dem großen Sängerensemble ragten die beiden Hauptdarsteller heraus: die junge ukrainische Sopranistin Kateryna Kasper als Lucia und der amerikanische Tenor Michael Porter aus dem Frankfurter Opernstudio als Sipho konnten sowohl stimmlich wie darstellerisch ihre schwankenden Gefühlsregungen wiedergeben und gaben ein Paar ab, das schließlich optimistisch in die Zukunft zu blicken wagt. Oftmals bleiben Träume nur der Jugend vorbehalten. Die Vertreter der älteren Generation verharren auch am Schluss dieser Oper in ihren starren Haltungen: „Gott hat mir das Wasser versprochen!“ – „Nein, mir!“ – „Nein, mir!“…
Lucias Großvater Allendorf, der allen Neuerungen skeptisch gegenübersteht, wird vom österreichischen Bariton Daniel Schmutzhard als ruhender Pol in der angespannten Atmosphäre gespielt. Das Ehepaar Fred und Klara Bucksmann, Anführer der einen Seite, das sich auf rührende Weise um Lucia annimmt, wird vom italienischen Bariton Davide Damiani und der amerikanischen Sopranistin Elizabeth Reiter mit starkem Ausdruck in Stimme und Mimik dargestellt. Als Zachary Rutget, Anführer der anderen Seite, überzeugt der Bass Alfred Reiter mit seiner markanten tiefen Stimme.
Aus dem großen Ensemble müssen noch der österreichische Tenor Alexander Mayr als Chicken-Heart, der seiner Rolle, das neubesiedelte Land vor feindlichen Angriffen zu schützen, nicht gewachsen ist, die Altistin Stine Marie Fischer als kriegerische Sinya sowie als Big Uncle 1 und 2 der armenische Bariton Gurgen Baveyan und der belgische Tenor Yves Saelens, die zeitweise ihre Rollen als „Geldgeber“ für beide Seiten von der Publikumstribüne sangen, erwähnt werden.
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, einfühlsam geleitet von Sebastian Zierer, brachte die farbenreiche Partitur des Komponisten, die neben Anleihen an Minimal Music vor allem illustrierenden Charakter hatte, aber auch dramatisch-expressive Sequenzen und hin und wieder – beispielsweise zu den Szenen des Liebespaares – liebliche Töne aufwies, in allen Facetten zur Geltung.
Das Publikum, sichtlich berührt vom Thema und beeindruckt von den Leistungen des Sängerensembles und des Orchesters, belohnte alle Mitwirkenden mit lang anhaltendem Beifall.
Udo Pacolt