Giuseppe Verdis “Rigoletto” in der Staatsoper Stuttgart: BRENNENDE LEIDENSCHAFTEN
“Rigoletto” von Giuseppe Verdi am 1. Juli 2015 in der Staatsoper Stuttgart
Markus Marquardt als “Rigoletto”. Foto: A.T. Schaefer
Giuseppe Verdis Oper “Rigoletto” basiert auf Victor Hugos Drama “Der König amüsiert sich”, das nach einmaliger Aufführung im Jahre 1832 in Paris sofort verboten wurde und 50 Jahre lang nicht gespielt werden durfte. Jossi Wieler und Sergio Morabito (Regie und Dramaturgie) machen daraus einen fesselnden Psychokrimi, der die Zuschauer nicht mehr los lässt. Die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Radikalität steht hier im Zentrum. Der Herzog ist als Herrscher ein jugendlicher Libertin, der nur dem Rausch und dem Vergnügen lebt, während er sich als politisches Subjekt von seinem Hofnarren Rigoletto vertreten lässt. Statt des Tyrannen mordet die Revolution in der Gestalt eines Narren ihre eigenen Kinder. Gleichzeitig versucht Rigoletto den Herzog in revolutionärer Absicht zu immer schlimmeren Eskapaden zu verleiten.
Foto: A.T.Schaefer
Auch das hervorragende Bühnenbild von Bert Neumann und die abwechslungsreichen Kostüme von Nina von Mechow tragen dieser Intention Rechnung. Man sieht im gesamten Bühnenraum viele Stühle, auf denen der Chor der Höflinge (mit ausgezeichneter Intensität: der von Johannes Knecht sorgfältig einstudierte Staatsopernchor Stuttgart) in modernem Smoking ziemlich unverfroren Platz nimmt und sich über den buckligen Hofnarren Rigoletto lustig macht. Es wird überzeugend deutlich, wie Rigoletto die permanente Demütigung, die er erdulden muss, an den Opfern des Herzogs von Mantua auslässt. Dass er eine wunderschöne Tochter hat, verschweigt er. Und seine Hilflosigkeit, mit der er konfrontiert wird, als er seine Tochter Gilda an den Herzog verliert, kann die Inszenierung ebenfalls höchst glaubwürdig einfangen. Wenn sich der Vorhang öffnet, sieht man im Hintergrund gleich einen zweiten Vorhang, der alsbald die Sicht auf einen überdimensionalen Gebäudekomplex freigibt. Die Lebens- und Liebessehnsucht Gildas scheint mit dieser seltsamen Anlage zu kollidieren. Den visuellen Höhepunkt bringt dann der dritte Akt, wo Rigoletto den Auftragsmörder Sparafucile engagiert hat, um den Herzog zu beseitigen. Im Hintergrund sieht man einen gespenstisch und rötlich beleuchteten Horizont zwischen den Häuserfassaden, der auf das baldige Gewitter und die kommenden düsteren Ereignisse fast schon drohend hinweist. Rigoletto führt Gilda an das Haus heran und zwingt sie, den Flirt des Herzogs mit Maddalena (prägnant: Anaik Morel) zu beobachten. Sowohl der fulminante Markus Marquardt als Rigoletto, der mit strahlkräftigen Spitzentönen agierende Atalla Ayan als Herzog von Mantua (ein Rollendebüt) und die mit wunderbarer gesanglicher Beweglichkeit aufwartende Ana Durlovski als Gilda finden bei dieser Szene ganz zusammen. Drastisch lässt das Regieteam Wieler/Morabito deutlich werden, mit welcher Entschlossenheit Gilda ihr Leben opfern will – denn sie weiß, dass das Geschwisterpaar Maddalena und Sparafucile (facettenreich: Liang Li) den ersten Fremden töten wird, der an die Tür klopft. Gilda aber will das Leben des Herzogs retten. Im letzten Moment springt sie dann in Todesangst davon, wird jedoch vom Mörderpaar wieder eingefangen und hinter der Tür umgebracht. Das sind Szenen, die man nicht vergisst. Auch die Schluss-Szene, bei der Rigoletto seine tote Tochter in dem Sack entdeckt, ist von erschütternder Wirkungskraft. Rigoletto betritt angesichts der sterbenden Tochter die Empore und schleudert seine grenzenlose Verzweiflung über “den Fluch” in den Zuschauerraum.
Das Staatsorchester Stuttgart unter der präzisen Leitung von Sylvain Cambreling vermag den Charakterisierungsreichtum dieser Musik glänzend einzufangen. Die melodische Kraft geht so nie verloren, sondern erhält immer wieder klangfarblichen Reichtum. Das Quartett des dritten Aktes “Holdes Mädchen, sieh mein Leiden” besitzt packende Schlagkraft. Wesen und Seelenlage der einzelnen Figuren werden plastisch herausgearbeitet. Das “Fluch”-Thema reckt sich wiederholt drohend hervor und begleitet Rigoletto leitthematisch auf Schritt und Tritt. Der Spontaneität des Details trägt Sylvain Cambreling mit dem exzellenten Staatsorchester hier bezwingend Rechnung. Das Schicksalssymbol des Beginns spricht den Hörer so ganz direkt und unmittelbar an. Der Konflikt zwischen Erscheinung und Bedeutung behauptet sich in elementarer Weise. Das in Des-Dur schließende erste Bild bereitet die Zuschauer schon in geheimnisvoller Weise auf das drohende Unheil vor. Wie sehr hier alles auf das Ende und die Schlussmoral ankommt, verleugnet das kluge Inszenierungsduo Wieler/Morabito nie. Spannung, Lösung und Kampf gehen fließend ineinander über. Der Ton c erscheint als Leitton und wird in Des-Dur aufgespalten – und Sylvain Cambreling macht die strukturellen Besonderheiten dieser Partitur immer wieder feinnervig und elektrisierend zugleich deutlich. Die Tagesszenen spielen im ebenfalls verdunkelten Herzogspalast, die Nachtszenen in einer ganz dunklen und entlegenen Gasse – das trostlose Symbol für Rigolettos Seele. Und diese wechselnden Schattierungen vermag auch das Staatsorchester gut einzufangen. Nur gelegentlich könnte das rhythmische Feuer noch elektrisierender sein. Insgesamt jedoch hat Sylvain Cambreling die musikalische Dramaturgie perfekt im Griff. Immer wieder scheint vor dem Ende jedes Bildes der geheimnisvolle zweite Vorhang aufgerissen zu werden, was Rigoletto auf seinem Erkenntnis- und Vernichtungsweg einen Sprung vorwärtsbringt. Markus Marquardt vermag Rigolettos erschreckende Entwicklung von einem aktiv Bösen über den unglücklich Getroffenen und den bewusst Gedemütigten bis hin zum Vernichteten packend zu verdeutlichen. Hier verändert sich seine Stimme auch in klangfarblicher Hinsicht. Roland Bracht schleudert als Graf von Monterone den Fluch gegen Rigoletto mit ungeheurer Wucht von der Königsloge in den Zuschauerraum – und Rigolettos erschreckter Ausruf “Was höre ich, o Grauen” bringt die plötzliche des-Moll-Verwandlung sehr plötzlich. Radikale Blindheit und Erkenntnis Rigolettos ergänzen sich nicht nur in der Schluss-Szene. Die von fernen Blitzen aufgeschreckte orchestrale Fahlheit lässt Rigolettos rezitativisches Solo nur umso trostloser wirken. Beim Duett mit Sparafucile schließen die stark akzentuierenden Celli einen mysteriösen Kreis um beide. Sterbend findet Ana Durlovski als Gilda zu einer bewegenden Schlichtheit und einer ganz eigenen Melodie. Bei der Ballade “Diese oder jene” fügt sich der Herzog graziös in die Menuettmusik ein. Wie dann der Herzog bei der berühmten “Canzona” aus dem Tonartensystem des Dramas ausscheidet, kann Atalla Ayan ebenfalls in ausgezeichneter Weise verdeutlichen. Auch er besitzt die Fähigkeit, seiner Stimme immer wieder neue Schattierungen und Nuancen hinzuzufügen. Dies zeigt sich insbesondere bei den schlanken Kantilenen von “La donna e mobile”. Der Staatsopernchor Stuttgart begeistert als rhythmisch arrogante Gruppe, die ständig aus der Rolle fällt. Das hat das Regieduo Wieler/Morabito perfekt herausgearbeitet. Tenöre und Bässe bringen hier eine harmonische Vielschichtigkeit zum Ausdruck, die unter die Haut geht. Ballfest und Entführungsszene erhalten unter Sylvain Cambrelings Dirigat enorme Rasanz. Dass Maddalena eine Transposition Gildas auf eine niedrigere Stufe ist, macht Anaik Morel ebenfalls deutlich. Cambreling bringt das Tempo beim Einsetzen der Frauenstimmen aber nie aus dem Gleichgewicht, es stört dabei auch kein nervöses Flattern. Da agieren alle Beteiligten wie aus einem Guss. Gildas E-Dur und ihre zitternde Violinfigur mit dem hohen “h” meistert Ana Durlovski exzellent. In gewaltigen Stößen meldet sich die Gewittermusik, begleitet vom monotonen Sprechrhythmus Maddalenas und Sparafuciles. Das Verhältnis von Starre in den Tempi und lebendiger Spontaneität bei den Einzelmotiven bringt Sylvanin Cambreling als Dirigent ins richtige Gleichgewicht. Und die kollektiven Wutausbrüche erhalten so noch ungestümere Macht. Starke optische Eindrücke vermittelt zudem die hereingeschleppte tote Geliebte des Herzogs, die auf Gildas drohendes Schicksal hinweist. In weiteren Rollen gefallen Eric Ander als Graf von Ceprano, Karin Torbjörnsdottir als Gräfin von Ceprano, Ashley David Prewett als Marullo, Daniel Kluge als Borsa, Carmen Mammoser als Giovanna und Theminkosi Mgetyengana als Page. Ovationen belohnten diese überaus sehenswerte “Rigoletto”-Produktion, die viele Details in einem neuen Licht erscheinen lässt. Zuletzt fällt das gesamte Bild auf der drehbaren Bühne in sich zusammen. Ein weiterer logischer Regieeinfall.
Alexander Walther