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STUTTGART/ Schauspielhaus: DIE MÖWE – ALPTRÄUME UND TEUFELSFANTASIEN. Premiere

Die Möwe“ von Anton Tschechow im Schauspielhaus Stuttgart

ALPTRÄUME UND TEUFELSFANTASIEN

Premiere von Anton Tschechows „Die Möwe“ im Schauspielhaus Stuttgart am 2. Oktober 2015/STUTTGART

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Copyright: Birgit Hupfeld

Martin Laberenz hat Anton Tschechows schwierige Komödie „Die Möwe“ mit wenigen Requisiten inszeniert. Die Bühne wird von einer riesigen schwarzen Ulme beherrscht, die auf einem orange-schwarzen Gerüst liegt. Kahle Wände der Kulisse sind ansonsten zu sehen. Ein Lichtkegel wird immer wieder in Bewegung gesetzt, senkt sich zuweilen fast schon geheimnisvoll herab und taucht auch den Zuschauerraum in grelles Licht. Die Figuren befinden sich vor allem am Anfang in einem beklemmenden Zustand zwischen Alpträumen, Nebelschwaden und Teufelsfantasien, die die Bühne in grellrotes Licht tauchen. Erst allmählich lockert sich diese ganz finstere Stimmung auf. Man begreift aber trotzdem, dass es sich hier eigentlich um keine Komödie, sondern um ein Drama mit unglücklichem Ausgang handelt. Bei der Uraufführung im Jahre 1896 in Petersburg erlebte das Stück ein Fiasko sondergleichen. Die Möwe, die mit rastlosem Schreien über den Wassern schwebt, bildet bei diesem Werk ein beunruhigendes Leitsymbol. Cristin König mimt hier sehr überzeugend und wandlungsfähig die egozentrische Schauspielerin Irina Nikolajewna Arkadina, die dem bekannten Schriftsteller Boris Alexejewitsch Trigorin verfallen ist, den Manuel Harder mit explosiver Ausdruckskraft verkörpert. Vor allem die psychischen Abhängigkeiten der einzelnen Figuren vermag der Regisseur Martin Laberenz in seiner Arbeit in beklemmenden Bildern einzufangen. In Konkurrenz zu diesem selbstverliebten Dichter befindet sich ihr eigener Sohn Konstantin Gawrilowitsch Treplew, der ein eigenes Stück geschrieben hat. Manolo Bertling spielt diesen Sohn mit blinder Verzweiflung, aber nie nachlassender Intensität. Diese schwierige Konstellation arbeitet der Regisseur Martin Laberenz in seiner Inszenierung sehr facettenreich heraus. Das junge und schöne Mädchen Nina Michailowna Saretschnaja, von Svenja Liesau mit höchst emotionalen Ausbrüchen recht glaubwürdig dargestellt, soll die Hauptrolle seines Stückes verkörpern. Der junge Mann scheitert aber in allem – vor allem wird ihm das von ihm leidenschaftlich geliebte Mädchen Nina von dem Schritsteller und Liebhaber der Mutter Boris Alexejewitsch Trigorin weggenommen. Ein Teufelskreis setzt sich hier in Bewegung, den der Regisseur mithilfe des schlicht-suggestiven Bühnenbildes von Volker Hintermeier und den Kostümen von Aino Laberenz dramaturgisch geschickt zuspitzt. Die von Caroline Junghanns wandlungsfähig dargestellte Mascha, die sich zwar zu dem unglücklichen Lehrer Semjon Semjonowitsch Medwedenko (undurchsichtig: Christian Schneeweiß) hingezogen fühlt, in Wirklichkeit aber Konstantin liebt, der Nina vergöttert, lässt die tragische Situationskurve weiter anschwellen. Denn Nina ist allmählich wirklich dem Schriftsteller Trigorin verfallen, der eine fast dämonische Suggestivkraft auf sie ausübt. Der psychische Zerstörungsprozess zwischen den einzelnen Figuren setzt sich konsequent fort. Und Martin Laberenz rückt Tschechow hier zuweilen deutlich in die Nähe Dostojewskijs.

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Copyright: Birgit Hupfeld

Das Spiel im Spiel, das sich gleich zu Beginn zwischen Mascha und dem Lehrer Medwedenko in ungestümen Liebesszenen in unaufhaltsame Bewegung setzt, gerät so allmählich außer Kontrolle. Das wird zuweilen auch zum dramaturgischen Problem, denn so geht der Handlungsfaden stellenweise verloren. Die sinnlosen Streitereien eskalieren und der frustrierte Konstantin („Kostja“) legt Nina eine Möwe zu Füßen, die er erschossen hat – und droht, dass er sich bald ebenso erschießen würde. „Meine Mutter kennt mein Stück noch gar nicht, aber sie hasst es“, lautet sein bitteres Fazit. Arkadina vernichtet nicht nur ihren Sohn, und hinsichtlich des Stückes kommt es nicht einmal zum Schlussapplaus. Kostjas Selbstmordversuch am Anfang des dritten Aktes steht bei dieser Inszenierung eher im Hintergrund. Stark wirkt allerdings jene Szene, wo Trigorin Arkadina klar macht, dass er sich in Nina verliebt hat.

Martin Laberenz hat bei seiner Inszenierung vor allem den Schluss gestrichen. Man wird so nicht mehr darüber informiert, dass sich Konstantin („Kostja“) tatsächlich erschossen hat. Bei der einen oder anderen Passage wäre eine noch genauere Charakterisierung der Personen wünschenswert gewesen. Dies gilt vor allem für Ninas Verhältnis zu Trigorin, der sie dann aber auch wieder zugunsten von Arkadina verlassen hat. Aber es gibt bei dieser Aufführung trotz mancher szenischer Schwächen Glanzlichter der Schauspielkunst. Dazu gehört vor allem der witzige Dialog der exaltierten Schauspielerin Arkadina mit ihrem Bruder Pjotr Nikolajewitsch Sorin, dem Peter Rene Lüdicke eine satirische Aura verleiht. Starke komödiantische Momente besitzt außerdem Abak Safaei-Rad als Polina Andrejewna, die reichlich überdrehte Frau des Gutsverwalters Ilja Afanasjewitsch Schamrajew, den Robert Kuchenbuch passagenweise mit fast stoischem Gleichmut verkörpert.  Paul Grill gibt dem Arzt Jewgenij Sergejewitsch Dorn ein markantes Profil. Und die Live-Musik von Friederike Bernhardt und Niklas Kraft betont in subtiler Art die zahlreichen Prozesse des Unterbewusstseins, von denen die handelnden Personen geradezu verfolgt werden. Die von Martin Laberenz beabsichtigten Momente von Übergang, Vorabend und Absprung verdichten sich so zu einem irisierenden Klangkosmos. Dies wird insbesondere bei jener Szene deutlich, wo sich Nina in satanische Fantasien hineinsteigert. Martin Laberenz gibt der Möwe ein Profil für die Zukunft. Sie hat zunächst keinerlei Bedeutung, man nimmt sie aber immer stärker wahr. Die Frage, ob Kunst unbedingt die Welt verändern muss, bleibt auch hier unbeantwortet. Aber man spürt, dass sie es kann. Für die Darsteller gab es starken Schlussapplaus und „Bravo“-Rufe.

Alexander Walther      

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